Statt drohendem Kollaps zeigen viele Kommunen in Deutschland seit 2015 Lösungswege in der Migrationspolitik. Aufnahme gelingt vor Ort mit Pragmatismus, Professionalität und Engagement.

Wenn die aktuelle Bundesregierung über Migration spricht, gewinnt man schnell den Eindruck, das Land stünde kurz vor dem Kollaps. Nach einer kurzen Öffnung 2015, dem sogenannten Sommer der Migration, ist spätestens seit 2016 der Überlastungsdiskurs allgegenwärtig. Die Überlastung der Kommunen wird als Legitimation für radikale Migrationsbegrenzung herangezogen. Innenminister Dobrindt verkauft diese Politik als Migrationswende. Aber nach einem Jahrzehnt asyl- und aufenthaltsrechtlicher Verschärfungen ist aktuell keine Migrationswende in Sicht, stattdessen werden bestehende Tendenzen weiter verstärkt.
Wirft man einen differenzierten Blick auf die Herausforderungen und Problemlösungsstrategien in den Kommunen, zeigt sich ein differenziertes Bild. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2024 bewerteten fast drei Viertel der Kommunen die Lage als herausfordernd, aber machbar – knapp 20 Prozent fühlten sich wirklich überfordert. Diese 20 Prozent sind eine relevante Größenordnung und Kommunen brauchen weiter Unterstützung. Aber Kommunen haben im letzten Jahrzehnt bereits viele erfolgreiche Praxislösungen für die Herausforderungen in der Aufnahmepolitik gefunden. Die vergangenen Jahre waren nicht nur von Belastungen geprägt, sondern auch von Professionalisierung, neuen Allianzen zwischen Verwaltung, Zivilgesellschaft und Ehrenamt – und von erstaunlicher Handlungsfähigkeit vor Ort.
Der gebetsmühlenartige Überlastungsdiskurs macht die Akteurinnen und Akteure in den Städtenetzwerken, zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Ehrenamtsinitiativen und die Erfolge vor Ort zunehmend unsichtbar. Wer wirklich die Probleme lösen will, muss dahin gucken, wo bereits gelungene Praxislösungen gefunden wurden. Dort liegt das Wissen, wie Aufnahme gelingen kann und dort wird seit 2015 beharrlich gefordert, was es dafür braucht: finanzielle Verlässlichkeit und politische Rückendeckung – vor allem von der Bundesebene.
Kommunen zwischen Improvisation und Innovation
Fluchtbewegungen wie 2015 aus Syrien oder 2022 aus der Ukraine stellen Kommunen über Nacht vor enorme Aufgaben: Unterbringung, Sprachkurse, Kita- und Schulplätze, Arbeitsmarktintegration und psychosoziale Versorgung mussten in den letzten zehn Jahren oft gleichzeitig organisiert werden. Dass die Bewältigung vielerorts gelang, lag weniger an bundespolitischer Steuerung als am politischen Willen vor Ort und vor allem am Engagement der Zivilgesellschaft.
Besonders gefordert sind die Kommunen im Bereich Wohnen. Städte suchten nach Alternativen zur Massenunterbringung, die vor allem langfristig Integration verhindert. Berlin setzte auf direkte Vermittlung in privaten Wohnraum, Halle initiierte 2022 „Wohnungspatenschaften“, bei denen Bürger*innen Ausstattung und Einrichtung übernehmen, während die Stadt Wohnungen bereitstellte. In Baden-Württemberg wird mit dem Programm Raumteiler unter Beteiligung des Städtetages und Ehernamtlicher das Ziel verfolgt, mehr privaten Wohnraum zu vermitteln. Doch selbst Kommunen, die hier innovative Wege gehen wollen, stoßen an ihre Grenzen. Deutschlandweit wird – vor allem in den Städten – der Wohnungsmarkt immer angespannter und eine Wohnung zu finden wird immer schwieriger. Was in der Debatte oft ungesagt bleibt: Das ist kein migrationsgemachtes Problem. Die Versäumnisse liegen hier in der bundesweiten Wohnungspolitik.
Ein weiteres Feld, das die Kommunen vor Herausforderungen stellt, ist die Integration von Neuzugewanderten in den Arbeitsmarkt. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und -Berufsforschung zeigt: Neun Jahre nach der Flucht liegt die Beschäftigungsquote der 2015 Zugewanderten bei 64 Prozent – nur wenig unter dem Schnitt der Gesamtbevölkerung; eine überraschend positive Bilanz. Diese Bilanz hätte ohne Hürden wie der Wohnsitzregelung noch besser ausfallen können. Auch eine nach individuellen Bedarfen und lokalen Aufnahmebedingungen abgestimmte Verteilung hätte hier positiv wirken können. Projekte wie Re:Match oder Match’in setzen genau hier an und erproben algorithmusgestützte Verteilungsmechanismen, die lokale Rahmenbedingungen auf der einen und individuelle Profile der Schutzsuchenden auf der anderen Seite berücksichtigen. Die teilnehmenden Kommunen beweisen auch hier hohes Engagement und eine lösungsorientierte Einstellung.
Auch Schulen standen im letzten Jahrzehnt vor einer Herkulesaufgabe. Hunderttausende Kinder ohne Deutschkenntnisse wurden in den letzten zehn Jahren aufgenommen, vielerorts zunächst in Willkommensklassen. Studien zeigen jedoch, dass eine frühe Integration in Regelklassen mit gezielter Sprachförderung erfolgreicher ist. Einige Bundesländer haben daraus gelernt und unterrichten die geflüchteten Kinder jetzt in Regelklassen mit begleitendem Deutschunterricht. Doch weiterhin fehlen Lehrkräfte, Räume, Mittel für Ausstattung und Konzepte für den Umgang mit Mehrsprachigkeit. Vergleichbar mit den Problemen, die der angespannte Wohnungsmarkt mit sich bringt, zeigt sich auch in Bezug auf die deutsche Bildungspolitik, welche Versäumnisse in der Vergangenheit gemacht worden sind. Hohe Zahlen in der Aufnahme Geflüchteter machen diese Probleme nur besonders sichtbar.
Wo Aufnahme gut funktioniert, zeigt sich immer dasselbe Muster: stabile lokale Netzwerke, die staatliche Lücken schließen und Integration konkret gestalten.
Trotz aller Herausforderungen ist die Gesamtbilanz der letzten zehn Jahre beachtlich: Menschen wurden untergebracht, ein großer Teil hat Arbeit gefunden, Kinder besuchen Schulen und Kitas, viele sind inzwischen eingebürgert. Kommunen haben Abläufe professionalisiert und Allianzen mit Ehrenamtlichen und Initiativen gestärkt. Die Online Plattform Moving Cities – Eine andere Migrationspolitik ist möglich sammelt über 70 inspirierende Ansätze und erprobte Praxislösungen aus europaweit 30 Städten in 10 Ländern. Wo Aufnahme gut funktioniert, zeigt sich immer dasselbe Muster: stabile lokale Netzwerke, die staatliche Lücken schließen und Integration konkret gestalten.
Sichere Häfen: Kommunen als progressive Akteure
In den letzten zehn Jahren haben Kommunen nicht nur tatkräftig angepackt und Millionen Menschen ein Ankommen erleichtert. Als Reaktion auf eine zunehmend restriktive Migrationspolitik und das anhaltende Sterben von Geflüchteten im Mittelmeer haben sich europaweit Städte und Kommunen öffentlich für eine menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden ausgesprochen und untereinander vernetzt. In ganz Europa sind Städtenetzwerke entstanden, die sich für eine humanitäre Aufnahmepolitik einsetzen.
Angestoßen vom Athener Bürgermeister Giorgos Kaminis entstand 2016 die Initiative Solidarity Cities. Hier sprechen sich Städte für eine humane Aufnahme von Schutzsuchenden aus. 2019 wurde in Deutschland das Bündnis Städte Sicherer Häfen gegründet, dem heute über 120 Kommunen deutschlandweit angehören. Die Mitglieder verpflichten sich, aus Seenot gerettete Geflüchtete oder Geflüchtete aus den Lagern an den europäischen Außengrenzen direkt aufzunehmen. Angestoßen wurde das Bündnis durch die zivilgesellschaftliche Initiative Seebrücke – Schafft sichere Häfen. Seit 2018 haben sich in diesem Zuge mehr als 320 Städte und Kommunen zu „Sicheren Häfen“ erklärt und legale Fluchtwege und die Unterstützung der Seenotrettung gefordert. Immer wieder waren Städte bereit, zusätzliche Schutzsuchende aufzunehmen.
Viele dieser deutschen „Sicheren Häfen“ waren Teil der Allianz, die 2021 in Palermo bei der Konferenz From the Sea to the City – auf Einladung des damaligen Bürgermeisters Leoluca Orlando sowie des Oberbürgermeisters von Potsdam, Mike Schubert – die International Alliance of Safe Harbours (IASH) gegründet wurde. Über 80 europäische Städte unterstützen seitdem die zentralen Forderungen des europäischen Städtebündnisses: eine humanitäre europäische Asylpolitik, die eine direkte kommunale Aufnahme erleichtert, gezielte EU-Finanzierung für aufnehmende Kommunen, faire Verteilungsmechanismen und legale Migrationswege. Auch deutsche Städte wie Bonn, Flensburg, Münster oder München machen damit deutlich, dass sie bei der Ausgestaltung der europäischen Migrationspolitik einbezogen werden wollen.
Unsichtbare Erfolge, laute Narrative
Es wird deutlich, dass es zahlreiche engagierte Akteure gibt, die nicht nur vor Ort gute Lösungsansätze haben, sondern sich auch immer wieder politisch positioniert haben. Immer lauter drängt sich die Frage auf, warum wir kaum von diesen Erfolgsgeschichten hören und nach wie vor undifferenziert das Narrativ der Überlastung dominiert.
Viele Akteure, die sich zuvor lautstark für eine solidarische Aufnahme eingesetzt hatten, sind vor allem seit 2022 erneut mit der Aufnahme und Integration einer großen Zahl ukrainischer Geflüchteter konfrontiert. Hier wurden viele Ressourcen mobilisiert, die anderswo – zum Beispiel in der politischen Arbeit in Städtebündnissen – fehlen.
Die Dominanz des Überlastungs-Narrativs lässt sich auch damit erklären, dass einfache rechte Narrative leicht greifen. Politische Akteure, die diese Debatten vorantreiben, sind weniger an Lösungen als an Mobilisierung für Abschottungspolitik interessiert. Sebastian Müller-Bahr, CDU-Bürgermeister von Merseburg, brachte es im Deutschlandfunk am 28. August auf den Punkt: "Ich bedauere sehr, dass wir zu selten über wirkliche Lösungen sprechen und immer nur eine Schwarzweiß-Malerei machen." Solche Stimmen zeigen, dass viele Verantwortliche vor Ort längst weiter sind als der bundespolitische Diskurs.
Auch zukünftig wird es große Migrationsbewegungen geben. Damit Kommunen weiterhin Schutzsuchende in Notlagen menschenwürdig unterbringen und aufnehmen können, ist es zentral, sie vor Ort besser zu unterstützen und ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.
Was Kommunen wirklich brauchen
Die Erfahrungen der vergangenen zehn Jahren zeigen deutlich, welche Faktoren entscheidend sind, damit Kommunen erfolgreich mit migrationspolitischen Herausforderungen umgehen können. Zentral sind funktionierende Verwaltungsstrukturen – wie ausreichend Personal in der Integrations- und Flüchtlingssozialarbeit und klare Handlungskonzepte. Ebenso wichtig sind starke Netzwerke zwischen Verwaltung, Ehrenamtlichen und Migrant*innenganisationen. Hinzu kommt der politische Wille. So konnten viele Städte 2022 schneller reagieren als noch 2015, weil sie ihre Strukturen in der Integrationsarbeit seit damals nicht nur erhalten, sondern gezielt weiterentwickelt haben.
Allerdings gilt: Ohne ausreichende finanzielle Mittel stoßen auch engagierte Kommunen an Grenzen – besonders dort, wo es um sogenannte freiwillige Aufgaben geht. Wer bereit ist, mehr Verantwortung bei der Aufnahme von Schutzsuchenden zu übernehmen, braucht dafür finanzielle Unterstützung von Bund und Land. Integration muss langfristig gedacht werden und als dauerhafte, staatlich finanzierte Aufgabe anerkannt und finanziert werden. Im Handlungsleitfaden Wie Kommunen Menschen schützen können wird skizziert, wie das aussehen könnte.
Für eine gelingende Aufnahme braucht es zudem Planbarkeit und eine bessere Verteilung der Neuankommenden – Projekte wie MatchIN oder Re:Match zeigen Wege der Umsetzung. Auch eine umfassende Entbürokratisierung auf allen politischen Ebenen ist notwendig. Gesetzliche Vorgaben sollten auf ihre Wirksamkeit geprüft werden. Damit könnten auch Ausländerbehörden entlastet werden. Außerdem könnten integrationshemmende Hürden abgebaut werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Wohnsitzregelung: Erfahrungen aus der Ukraine-Aufnahme zeigen, dass Geflüchtete, die ihren Wohnort selbst wählen können, schneller Wohnraum über private Kontakte finden und so die kommunalen Unterstützungssysteme entlasten.
Um die politische Arbeit der Kommunen ist es leiser geworden. Trotzdem sind Kommunen weiterhin aktiv für eine solidarische Migrationspolitik. Die jüngste Initiative Hannovers ist herfür ein gutes Beispiel: In einem Appell an die Bundesregierung fordert Hannover gemeinsam mit anderen deutschen Städten, dass ihnen die humanitäre Aufnahme von Kindern aus Gaza und Israel ermöglicht wird. Im Appell heißt es:
”Wir sind bereit, diesen Kindern Schutz zu bieten. Wir verfügen über die erforderliche Infrastruktur und medizinische, psychologische und weitere Betreuungsmöglichkeiten, um die Kinder zu begleiten und ihnen die Möglichkeit zu geben, zu genesen und zur Ruhe zu kommen.”
Diese proaktive Rolle solidarischer Kommunen macht deutlich: Statt am Narrativ der Überlastung festzuhalten, bietet die nächste Dekade die Chance, migrationspolitisch gelungene Praxislösungen flächendeckend umzusetzen – und dem Ziel handlungsfähiger, gut ausgestatteter Kommunen und einer gelungenen Integrationspolitik näherzukommen.