Zehn Jahre nach der europäischen „Willkommenskultur“ hat die EU ihre Asylverantwortung zunehmend nach Nordafrika ausgelagert – und ignoriert dabei Rassismus, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen zugunsten kurzfristiger Grenzkontrolle.

2015: ein Sommer voller Hoffnung
2015 sah es in Europa noch ganz anders aus als heute. An Bahnhöfen in München und in anderen Städten begrüßten viele Beifall klatschende Menschen syrische Familien mit Essen, Spielzeug und Gesten der Solidarität. Es war die Geburtsstunde der Willkommenskultur – der Idee von einem Europa, das mit seinen Werten eins war.
Doch diese Weitherzigkeit währte nicht lange. Schon 2016 redete man in der Politik nicht mehr über Solidarität, sondern über „Obergrenzen“, „Abschreckung“ und „Sicherheit“. Es folgte eine brutale Kehrtwende: Statt Menschen auf der Flucht zu schützen, begann Europa, seine Grenzen in andere Länder auszulagern.
Outsourcing statt offener Arme
2016 markierte der EU-Türkei-Deal den Beginn einer neuen Ära. Als Gegenleistung dafür, dass die Türkei Geflüchtete von Europa fernhielt, flossen Milliarden Euro nach Ankara. Dies war die Blaupause für alles, was noch kommen sollte.
Nach Beginn des Krieges in der Ukraine 2022 war der Kontrast augenfällig. Innerhalb weniger Wochen setzte die EU die Richtlinie über vorübergehenden Schutzanspruchin Kraft und gewährte damit Millionen Menschen aus der Ukraine das Recht auf Aufenthalt, Arbeit und Freizügigkeit. Seit 2023 wurden durch die Kriege im Sudan und im Gazastreifen weitere Millionen Menschen vertrieben – auf sie aber warteten keine offenen Türen, keine EU-weiten Schutzprogramme.
Ein EU-Beamter räumte ein:
„Um ehrlich zu sein: Es herrscht eine andere Stimmung, weil es sich um Weiße und um Christen handelt.“ (Washington Post)
Die Doppelmoral war schlicht: Schutz wird nicht von der Notlage abhängig gemacht, sondern von der Identität.
Tunesien: Rassismus, Repression – und Europa schaut weg
2023 wurde Tunesien zum neuen „Grenzschützer“ Europas. In diesem Jahr unterzeichneten Brüssel und Präsident Kais Saied einen Migrationspakt. Einen schlechteren Zeitpunkt dafür hätte man nicht wählen können. Mit der Behauptung, Schwarze Menschen aus Afrika seien in eine Verschwörung mit dem Ziel des „Bevölkerungsaustauschs“ verwickelt, hatte Saied bereits einen rassistischen Feldzug gestartet, und das mit unmittelbaren und brutalen Folgen. Migrant*innen wurden auf der Straße verprügelt, zwangsgeräumt und von der Polizei verhaftet. Viele wurden mit Bussen in die Wüste gekarrt und dort ohne Wasser und Nahrung sich selbst überlassen.
Ein tunesischer Menschenrechtsaktivist erinnert sich:
„Nach der Rede des Präsidenten war klar, dass die Gewalt staatlich legitimiert wurde. Familien wurden auf die Straße geworfen und ihre Habseligkeiten verbrannt, dann hat man sie in Busse verfrachtet und in der Wüste ausgesetzt.“
In Sfax war die Lage nicht weniger schlimm:
„Ich sah, wie Migrantinnen und Migranten in Olivenhaine getrieben wurden, wo sie monatelang unter den Bäumen schlafen mussten. Der Innenminister erklärte öffentlich, er sehe sie lieber dort als in der Stadt – so blieben wenigstens die Straßen sauber.“
Selbst solidarisches Handeln wurde kriminalisiert. Tunesische Bürger*innen, die Wohnungen an Geflüchtete vermieteten oder sie ein paar Kilometer in einem Taxi mitnahmen, wurden wegen „Beherbergung von Fremden“ angeklagt und zuweilen in Haft genommen.
Menschenrechtsgruppen haben diesen institutionellen Rassismus verurteilt, Europa jedoch entschied sich zu schweigen. Statt die Zusammenarbeit von der Achtung der Menschenrechte abhängig zu machen, zahlte Brüssel Geld an Saied und legitimierte seine Politik.
Libyen: Ausgelagerte Grausamkeit
In Libyen zeigt sich die eklatante Brutalität der europäischen Externalisierungspolitik. Nach den ersten Deals zwischen Berlusconi und Gaddafi zu Beginn der Nullerjahre steckte die EU ab 2016 beträchtliche Summen in Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache. Von 2017 bis 2021 wurden mehr als 88.000 Menschen auf dem Meer aufgebracht und überwiegend gegen ihren Willen nach Libyen zurückgeschoben.
Europa rechtfertigt dies als „Rettung von Menschenleben“. In Wahrheit schiebt man damit die Menschlichkeit ab.
Dort laufen sie Gefahr, auf unbestimmte Zeit in den Haftzentren verschiedener Milizen zu verschwinden, wo sie Folter, Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt ausgeliefert sind. 2019 starben mindestens 53 Migrant*innen bei einem Luftangriff auf das Haftzentrum Tajoura. Internationale Ermittlerteams warnen, dass diese Misshandlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszulegen seien.
Sehr deutlich formulierte es 2025 Eve Geddie, Direktorin des European Institutions Office von Amnesty International:
„Die Zusammenarbeit der EU mit Libyen im Bereich der Migration ist eine moralische Bankrotterklärung. Damit macht sich Europa zum Komplizen fortwährender Menschenrechtsverletzungen.“ (Amnesty International)
Doch Europa rechtfertigt dies als „Rettung von Menschenleben“. In Wahrheit schiebt man damit die Menschlichkeit ab: Man stattet Milizen, die für Menschenrechte nichts als Verachtung übrighaben, mit Geld und Macht aus und ignoriert zugleich das Leid und die Schreie derer, die verzweifelt Schutz suchen.
Ägypten: stiller Partner, stille Krisen
Ägypten spielt eine leisere, aber gleichermaßen besorgniserregende Rolle. In diesem Land leben heute mehr als eine Million Geflüchtete, von denen über 670.000 aus dem Sudan stammen. Die meisten von ihnen leben in Ungewissheit, ohne Aussicht auf einen festen Arbeitsplatz und sind mit einer feindseligen Bürokratie konfrontiert.
Verhaftungen und Abschiebungen haben seit 2023 sprunghaft zugenommen. 2024 dokumentierte Amnesty International die Abschiebung von 800 sudanesischen Staatsangehörigen aus Kairo, Gizeh und Assuan. Viele waren vor ähnlich schrecklichen Gräueltaten geflohen, wie sie aus der Ukraine bekannt sind, doch sie erfuhren keine Solidarität, sondern wurden eingesperrt und ausgegrenzt.
Ein Koordinator von Madad, einer Hilfsorganisation für marginalisierte Menschen in Kairo, erzählte mir:
„Im Sudan sind die Gräueltaten, vor denen die Menschen fliehen, genauso furchtbar wie in der Ukraine. Trotzdem werden die Geflüchteten hier verhaftet, abgeschoben und Tag für Tag diskriminiert. Europa weiß das, hält aber still – denn für Brüssel ist es wichtiger, sie auszusperren, als ihre Rechte zu schützen.“
Das allgemeinpolitische Klima in Ägypten ist nicht weniger repressiv: Die Zivilgesellschaft wird zum Schweigen gebracht, Medienschaffende landen im Gefängnis, Oppositionelle werden verfolgt. Doch Europa gibt weiterhin Geld und bietet politischen Rückhalt. Die Rolle Ägyptens als „Pufferstaat“ zählt mehr als die Rechte geflüchteter Menschen.
Grenzverschiebung nach Süden
Zehn Jahre nach der Willkommenskultur hat Europa seine Grenzen nicht nur geschlossen, sondern weit nach Afrika hinein verschoben. Die Abkommen mit Tunesien, Libyen und Ägypten haben Pufferzonen geschaffen, in denen Geflüchtete festgehalten, misshandelt oder vertrieben werden. Seit 2014 sind über 30.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen oder verschwunden (IOM 2024). Viele weitere sitzen in Wüsten oder Haftzentren fest. Die EU hat Milliarden investiert, aber den wahren Preis bezahlen die Menschen mit ihrem Leben.
Harald Glöde von Borderline Europe, einer deutschen Menschenrechtsorganisation, formulierte es so:
„In diesen sogenannten Pufferzonen wird das unmenschliche Grenzregime der EU nach Nordafrika ausgelagert. Damit entzieht sich Europa seiner Verantwortung und hält geflüchtete Menschen an gefährlichen Orten gefangen. EU-Mitgliedstaaten behindern und kriminalisieren zivile Such- und Rettungsdienste (SAR) und machen sich dadurch mitschuldig am Tod vieler Tausend Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. So wollen sie andere davon abhalten, die Überfahrt nach Europa anzutreten. Aber zusammen mit den betroffenen Menschen gehen damit auch die hehren europäischen Werte unter.“
Erfolg ist eine Illusion
Als Beleg für den Erfolg wird häufig auf die abnehmenden Ankunftszahlen hingewiesen. Tatsächlich sind die Überfahrten über das Mittelmeer nach 2016 zurückgegangen. Doch dieser „Erfolg“ fordert einen bedrückend hohen Preis. Durch seine Unterstützung autoritärer Regierungen stärkt Europa Repression und Korruption – Bedingungen, die unweigerlich weitere Menschen in die Flucht treiben werden. Mit der Duldung von Rassismus und schweren Menschenrechtsverletzungen in ihren Partnerstaaten ruiniert die EU ihre eigene Glaubwürdigkeit als Verteidigerin der Menschenrechte auf der ganzen Welt. Auf dem eigenen Kontinent befeuert die wahnhafte Abschreckungspolitik rechtsextreme Narrative und verschärft die politische Polarisierung. Und trotz der alternden Bevölkerung und eines gravierenden Arbeitskräftemangels in Europa begreift man die Migration nicht als Chance, sondern schottet sich weiterhin ab.
Wie oft will Europa noch in die gleiche Falle tappen, bevor man merkt, dass Externalisierung keine Lösung ist, sondern die Destabilisierung um ein Vielfaches verstärkt?
Der Sudan ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie diese Kurzsichtigkeit nach hinten losgeht. Mit dem Khartum-Prozess und der Finanzierung von Grenzkontrollen durch die EU wurden indirekt staatliche Strukturen und Milizen gestärkt, die heute im Krieg eine zentrale Rolle spielen. Aktuell agieren die Rapid Support Forces – einstige Partner im „Migrationsmanagement“ – als Hauptakteure in einem brutalen Konflikt, durch den über 12 Millionen Menschen vertrieben wurden. Irgendwann könnten sich einige Millionen dieser Geflüchteten auf den Weg nach Europa machen, um hier genau den Schutz zu suchen, den die Externalisierung verhindern sollte.
Dies ist die Lektion, die Europa einfach nicht lernen will: Jedes Mal, wenn die eigene Verantwortung an autoritäre Regime weitergereicht wird, verschärft sich die Krise noch mehr. Der kurzfristige Anschein, dass weniger Boote unterwegs sind, verschleiert die langfristige Realität – neue Kriege, Massenvertreibungen und noch mehr Menschen verzweifelt auf der Flucht. Wie oft will Europa noch in die gleiche Falle tappen, bevor man merkt, dass Externalisierung keine Lösung ist, sondern die Destabilisierung um ein Vielfaches verstärkt?
Fazit: Externalisierung beenden
Von 2015 bis 2025 haben sich die offenen Arme Europas in Festungsmauern verwandelt. Europa hat beschlossen, mit autoritären Regimen zusammenzuarbeiten, Rassismus und Repression zu ignorieren und Menschen auf der Flucht als Verhandlungsmasse zu betrachten.
Kurzfristige Deals mögen einige Boote von heute aufhalten, aber sie fördern die Destabilisierung von morgen. Dabei gibt es Alternativen: sichere humanitäre Fluchtwege, faire Aufgabenteilung und eine Zusammenarbeit, die nicht auf Repression, sondern auf Rechte setzt.
Die Art und Weise, wie die Geflüchteten aus der Ukraine aufgenommen wurden, hat gezeigt, dass Europa schnell und großzügig handeln kann, wenn es nur will. Gleichzeitig führen uns die Kriege im Sudan und in Gaza vor Augen, wo diese Solidarität aufhört. Beim Schutz ging es nie um die Notlage – es ging um Identität.
Kurzfristige Deals mögen einige Boote von heute aufhalten, aber sie fördern die Destabilisierung von morgen. Dabei gibt es Alternativen: sichere humanitäre Fluchtwege, faire Aufgabenteilung und eine Zusammenarbeit, die nicht auf Repression, sondern auf Rechte setzt.
Es ist eine ganz einfache Frage, die Europa beantworten muss: Kann es die Migration regulieren, ohne ausgerechnet die Werte zu verraten, auf denen es aufgebaut wurde?
Dieser Text wurde von Marion Schweizer aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Hier finden Sie die englische Orginalfassung.