Vorbilder zeigen den Weg an die Universität

Von Elena Solte

Im Rahmen von Mentoringprogrammen für Schüler unterstützen StudentInnen mit Migrationshintergrund SchülerInnen ihrer ethnischen Community. Sie geben Nachhilfe und stärken das Durchhaltevermögen. Wo die familiären Ressourcen nicht ausreichen, helfen solche der ethnischen Community und werden für Integration und Bildungserfolg fruchtbar gemacht.

Alina, Julia und Nathalie laufen durch die langen Gänge des Bettenhauses der Charité. Keine von ihnen hat dieses Gebäude bisher jemals betreten. „Zum Glück“ sagen sie, doch eigentlich sollte ihr Traum sie gerade hierhin führen. Sie möchten Medizin studieren.

Vor zwei Jahren sind sie nach Deutschland gekommen, als sogenannte Russlanddeutsche. Ihre Vorfahren gehörten zu einer deutschen Minderheit, die unter dem russischen Zarenreich nach Russland geholt wurde und dort geblieben ist. Vor allem seit den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, haben viele die neue Freiheit genutzt und sind in die alte fremde Heimat „zurückgekehrt“. Bis heute sind rund eine Millionen Menschen aus Zentralasien, Sibirien, oder wie Alina, Julia und Nathalie aus Russland, der Ukraine und Kasachstan, nach Deutschland ausgewandert.

Seit zwei Jahren sind sie nun in Berlin. Ihre Biografien sind wie die der gesamten Gruppe der Russlanddeutschen unterschiedlich, doch in Bezug auf ihre Situation in Deutschland finden sie sich hier in einer ähnlichen Lage wieder. In ihren Heimatländern haben sie die Schule abgeschlossen, eine Ausbildung gemacht oder ein Studium begonnen. In Deutschland müssen sie sich ganz neu orientieren. Viele sprechen nur wenig oder gar kein Deutsch. Schulabschlüsse, Semester an der Universität oder das Ausbildungszertifikat werden nicht anerkannt. Der Traum von einer guten Ausbildung und einer besseren Arbeit als im Herkunftsland scheint wie ein Luftballon zu platzen.

Am Hermann-Ehlers-Gymnasium im Berliner Bezirk Steglitz bekommen Alina, Julia und Nathalie die Möglichkeit, in einem zwei Jahre dauernden Sonderlehrgang für russlanddeutsche Jugendliche das deutsche Abitur nachzuholen. Diese Schule ist neben der Thüringer Oberschule und der Rudolf-Virchow-Oberschule in Marzahn sowie der Max-Reinhard Schule in Hellersdorf eine der vier Berliner Schulen, die sich an dem Mentorenprogramm „Fit für Bildung“ des Berliner think tank "berlinpolis" beteiligt.

Das Programm "fit fur Bildung"
13 MentorInnen engagieren sich derzeit in diesem Programm und treffen zwei Mal monatlich die 50 Schüler und Schülerinnen der vier Berliner Schulen. Sie sind junge Studenten von Berliner Universitäten und Fachhochschulen, die überwiegend selber aus der ehemaligen Sowjetunion stammen. Sie begleiten die Schüler der 10. bis zur 13. Klasse und helfen ihnen bei der Studienorientierung. Alle vier Wochen organisieren sie eine Informationsveranstaltung, nehmen die Schüler mit an die Uni in Lehrveranstaltungen, führen durch Bibliotheken oder erklären im Detail die Internetauftritte der einzelnen Fakultäten und wie man sich dort zurechtfindet. So erhalten die SchülerInnen von Menschen ihres Vertrauens Informationen über die Universität, die Organisation des Studiums und Finanzierung. Ziel soll es sein, die Jugendlichen dabei zu unterstützen höhere Bildungsabschlüsse zu erlangen und insbesondere den Übergang von der Schule zur Universität zu erleichtern.

Damit reagiert das Programm auf die Situation, auf die insbesondere die erste PISA-Studie aus dem Jahr 2000 aufmerksam gemacht hat. SchülerInnen, deren Eltern nicht aus Deutschland kommen oder die selber nach Deutschland eingewandert sind, werden von höheren Bildungsabschlüssen weitgehend ausgeschlossen. Entsprechend schaffen nur wenige den Sprung auf die Universität. Zwar hat ungefähr jeder achte Student an deutschen Hochschulen und Universitäten einen Migrationshintergrund, doch der Anteil derer, die in Deutschland die Schule besucht haben, beträgt nur rund  3 Prozent. Hierfür gibt es Gründe, die nicht allein auf individuellen Voraussetzungen beruhen, sondern auch auf den institutionellen Rahmenbedingungen. „Die deutsche Bildungslandschaft hat sich noch nicht ausreichend interkulturell geöffnet“, diagnostiziert Julia Gerometta, Projektmanagerin von „Fit für Bildung“. „Durch das Mentorenprogramm sollen die Schulen auch erfahren, dass die SchülerInnen Träume und Hoffnungen haben, die als Motivation für Lernbereitschaft und Anstrengung in der Schule gestärkt werden müssen und dass es Rahmenbedingungen bedarf, dass die SchülerInnen diese Stärken entfalten können.“

Lernen von Efahrungen der Älteren
Dazu gehört unter anderem, dass jeder einzelne persönlich ermutigt wird. Während viele Jugendliche häufig mangelnde Unterstützung durch die Lehrer erfahren und für ihren Ehrgeiz und ihre Ambitionen belächelt werden, können die Mentees am Beispiel ihrer Mentoren sehen, dass ein Studium möglich ist. Auch wenn man nicht in Deutschland geboren ist, eine andere Muttersprache spricht und man ihnen eher ein Scheitern in der Schule als den Übergang zur Hochschule zutraut.

Mit Irina, ihrer Mentorin, haben Alina, Julia und Nathalie ein gutes Vorbild gefunden. Sie kam 1997 mit 15 Jahren von Kasachstan nach Bad Segeberg in Schleswig-Holstein. In Kasachstan stand sie kurz vor ihrem Abitur, in Deutschland wurde sie auf Grund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse auf die Hauptschule geschickt. Von da an begann ein langer beschwerlicher Weg, bis sie das deutsche Abitur und somit eine Studienberechtigung erlangte. Dabei sind ihr einige Fehler unterlaufen, die sich nur mit Glück ausbügeln ließen. „Nach dem Abschluss der neunten Klasse auf der Hauptschule hatte ich die Fristen verpasst, um mich für die Realschule anzumelden“. Schließlich war es ihre Klassenlehrerin, die sich persönlich für Irina eingesetzt hat und ihr zu einem Platz auf einer berufsbildenden Realschule verhalf. „Diese Frau war mein Schicksal“, sagt Irina. Erst viele Jahre später erfuhr sie, dass der Schulleiter der Realschule auch der Ehemann ihrer Lehrerin war.

Heute studiert Irina Medizin an der Charité in Berlin. Sie wollte allen zeigen, dass sie mehr weiß. Dabei wurde sie immer von ihren Eltern unterstützt, die ihr praktisch aber kaum helfen konnten. So geht es vielen Schülern, deren Eltern selber nicht in Deutschland zur Schule gegangen sind. Sie erhoffen sich für ihre Kinder die höchsten Schul- und Studienabschlüsse, können aber keine reale Unterstützung bieten. Deshalb engagiert sich Irina auch als Mentorin. Sie kann ihren Mentees von der Uni erzählen, erklären, wie und wo man sich bewirbt, wie man eine Bafögförderung erhält und bei den Überlegungen unterstützen welcher Studiengang der richtige ist. Dadurch dass sie wie ihre Mentees aus Kasachstan kommt kennt sie einige Vorbehalte, die vor allem viele Mädchen aus Kasachstan vom Studium in Deutschland abhalten. In Russland ist man spätestens mit 23 Jahren mit dem Studium fertig. Die lange Studienzeit in Deutschland schreckt ab, vor allem, wenn man erst mit 22 das deutsche Abitur nachgeholt hat. Dieses Denkmuster möchte Irina auflösen helfen.

Vertrauen als Basis der Mentoren-Mentee-Beziehung
Die gemeinsame Sprache schafft dabei zusätzliches Vertrauen. „Die Schüler haben das Gefühl, ich bin eine von ihnen“, sagt Irina. Sie hat Ähnliches erlebt, ist den selben Problemen und Fragen begegnet und kann dadurch als Vorbild fungieren. Hilfreich sind auch der geringe Altersunterschied, die informelle Atmosphäre der Treffen und die persönliche Beziehung zwischen Mentor und Mentee.

Auch von den Schulen wird das Engagement der MentorInnen als Bereicherung betrachtet, wie Natalaja Tibelius von der Thüringen-Oberschule in Mazahn betont. „Bei „Fit für Bildung“ geht es um individuelle Zuwendung. Diese kann die Schule in diesem Umfang nicht leisten. Schule ist so viel Bürokratie, dass kaum Platz für vertiefende Beziehungsarbeit bleibt, aber gerade diese ist notwendig. Die Kinder brauchen jemanden, der ihnen das Gefühl gibt nicht nur als Gruppe wahrgenommen zu werden, sondern als Andrei, Sergej oder Natalja.“ Dass sich dadurch auch soziale Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit und Selbstbewusstsein entwickeln wird auch von der Wissenschaft bestätigt. Zwar ist in Deutschland Mentoring für die Wissenschaft noch ein neues Instrument zur Förderung von Migranten, Studien aus den USA aber zeigen, dass von Programmen dieser Art positive Effekte auf die kognitive und emotionale Entwicklung, auf soziale Kompetenz, als auch auf die Bewältigung des Übergangs in Bildung und Beruf ausgehen.

Dies hängt auch von der Qualität der Programme ab denn „freiwilliges Engagement ist nicht voraussetzungsfrei“, wie Julia Gerometta von berlinpolis weiß. „Die Sonntagsreden sagen, wir brauchen mehr Zuwanderer an den Hochschulen, aber de facto gibt es auch viele Leute, die dies nicht wollen. Die sagen, dass erst mal die vielen Studenten, die ohnehin an die Universität drängen, versorgt werden müssen.“ Eine tatsächliche Ausweitung von Bildungsausgaben findet nicht statt. Und so muss auch „Fit für Bildung“ noch darauf hoffen, dass die Förderung, die im Mai ausläuft, verlängert wird. Das Programm soll aber nicht nur weitergeführt werden, sondern auch auf andere ethnischen Gruppen und Altersstufen ausgeweitet werden“, sagt sie. Es sei wichtig, noch früher mit der Förderung zu beginnen, denn bis die Schüler die Oberstufe erreicht haben, seien zu viele schon durch das deutsche Schulsystem ausgefiltert worden.

Stolpersteine auf dem Weg zum Abitur
Die Jugendliche, die zwischen 15 und 16 Jahren nach Deutschland kommen müssen nach einem Jahr, in dem sie in den sogenannten Kleingruppen unterrichtet werden, die Sprache so gut beherrschen, dass sie anschließend in den Regelunterricht der 10. Klasse einsteigen können. Danach entscheidet sich, ob sie die Oberstufe auf dem Gymnasium besuchen dürfen.

Davor müssen sie aber unter anderem die mündliche Präsentationsprüfung zur Erlangung des mittleren Schulabschlusses bestehen. Als diese im Jahr 2005 eingeführt wurde, fielen 80% der russischsprachigen Schüler durch. Seitdem helfen Mentoren bei der Vorbereitung auf diese Prüfung mit dem Ergebnis, dass viele Mentees glänzende Ergebnisse erzielen und somit schlechte Noten in anderen Fächern ausgleichen können.

An der Thüringen Oberschule wechselt jeder 4. Schüler auf die Oberstufe am Gymnasium. Von den 200 russischsprachigen waren es bisher 45%. Diese gute Bilanz verschlechtert sich aber, seitdem im letzten Berliner Schulgesetz verordnet wurde, dass Russisch nicht mehr als erste Fremdsprache angeboten werden darf. Wenn die Schüler an den Schulen ihrer Herkunftsländer Deutsch gelernt haben, müssen sie den nötigen Englischstoff in der kurzen Zeit, die bis zum Übergang an die Oberstufe bleibt, nachholen.

Durch Beschlüsse dieser Art, werden Bemühungen konterkariert, die sich zum Ziel setzen die Bildungsabschlüsse zwischen SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund anzugleichen. Ändern tut dies aber nichts an der Tatsache, dass Jugendliche trotz dieser Erschwernisse den Willen und die Ressourcen haben, die Schule in Deutschland zu schaffen. Durch die MentorInnen werden sie in ihrer Motivation bestärkt und erhalten individuelle Unterstützung durch glaub- und vertrauenswürdige Vorbilder.

 

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Elena Solte studiert Französistik, Soziologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Leipzig und ist derzeit Praktikantin bei der Heinrich-Böll-Stiftung.