von Aglaia Blioumi
„Es geht nicht darum, ob wir kulturelle Hybridität für erstrebenswert halten oder nicht, sondern einzig darum, wie wir mit ihr umgehen.“ (Bronfen 1997, 28). So die Aussage Elisabeth Bronfens über den modernen multikulturellen Diskurs. Multikulturalität, Interkulturalität, hybride Identitäten und ähnliche Bezeichnungen sind im Zeitalter der Globalisierung und der stetigen Migrationsbewegungen keine Modeerscheinungen, sondern Begriffseinheiten, die auf bestehende Realitäten reagieren. Begriffseinheiten aber sind Konstrukte, die je nach besonderen soziopolitischen Rahmenbedingungen unterschiedliche Sinngebungen erfahren.
Das bedeutet, dass Migration nicht gleich Migration ist, denn der multikulturelle Diskurs entspringt einem unterschiedlichen Biotop entsprechend den differenten soziokulturellen Rezeptionsbedingungen. Analog dazu verhält sich eine Reihe eng mit der Multikulturalität verbundener Begriffe, wie eben jener der Interkulturalität und der Hybridität. Im vorliegenden Beitrag möchte ich einen generellen Einblick in die bisherige Verortungsdiskussion der Begriffe in Deutschland samt einigen Abstechern in die Diskussion in den USA gewähren und dabei den Eingang der Begriffe in der Diskussion um die ‚Migrationsliteratur’ problematisieren.
‚Migrationsliteratur’: Der ewige Ali im deutschen Wissenschaftsbetrieb
Die Literatur, die in der Folge der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik entstanden ist, hat im Laufe der Zeit eine lange Kette der Bezeichnungsvorschläge durchlaufen müssen. Es scheint jedoch, dass der ‘Migrant’ und sämtliche mit ihm verbundene Komposita wie eben der ‘Migrationsliteratur’ rote Fahne in der Germanistik sind, da die Begriffe in Anlehnung an ‘Gastarbeiter’ und ‘Gastarbeiterliteratur’ pejorative Konnotationen hervorrufen. Waren es in den vorigen Jahrzehnten die ‘Gastarbeiterliteratur’ oder ‘Ausländerliteratur’ gegen diese argumentiert wurde, ist nun an der Reihe die ‘Migrationsliteratur’, die „auf die bekenntnishaften Anfänge der ersten MigrantInnengeneration festgelegt wird“ (Esselborn 2007: 242).
Tatsächlich wurde in literaturwissenschaftlichen Arbeiten der achtziger Jahre diese Literatur als Spiegelbild der Gastarbeiter-Problematik gelesen und für sozialpädagogische Zwecke instrumentalisiert (vgl. Amodeo 1996: 36). Doch bedeutet dies lange nicht, dass der ‘Migrant’ mit dem ‘Gastarbeiter’ zu identifizieren ist. Letzterer Begriff entsprang einer realen soziohistorischen Gegebenheit, der erste dagegen erfährt weitgefasste Sinnkonturen im Zuge eines globalisierten Weltverständnisses.
So ist ‚Migration’ nach Hamburger in der Alltagssprache kaum vertreten, dagegen komme der Begriff in den Medien häufiger vor. Es handelt sich demzufolge um eine allgemeine Sammelbezeichnung, die vergegenwärtigt, dass die betreffenden Personen für einen längeren oder kürzeren Zeitraum einen früheren Wohnort verlassen haben und gegenwärtig in einem anderen Land als ihrem Herkunftsort leben. Der Begriff verweist allenfalls auf eine eingetretene Bewegung über nationale Grenzen hinweg und zeigt zugleich, dass MigrantInnen aus der Perspektive der Einheimischen wahrgenommen werden, da sie den MigrantInnen letztlich diese Position zuweisen (Hamburger 1997: 31)
Dieser Gedanke besagt, weitergesponnen, dass das Wort ‚Ausländer’, das in der bundesrepublikanischen Gesellschaft pejorative Konturen aufweist, nicht deskriptiv gemeint ist, sondern verächtlich und ausgrenzend, da es im Alltagsgebrauch synonym unter anderem für Kriminalität, Drogenhandel, Sexualverbrechen und Missbrauch sozialer Leistungen steht (vgl. Runge, Irene Zitat nach Beck-Gernsheim, 1999: 119). Der Konstruktionscharakter der Bedeutungen ‚MigrantIn’ oder ‚AusländerIn’ zeigt sich deutlich an der Position, die der betreffenden Person auf der ‚Wohlstands-Skala’ zugesprochen wird. Nach Beck-Gernsheim laute die entscheidende Maßregel: „Je ärmer eine Person, desto eher wird sie als ‚Ausländer’ angesehen“ (ebd.,: 118). Es steht außer Frage, dass solche Einstellungen die multikulturelle Konstitution einer Gesellschaft darstellen, da innerhalb dieser Gesellschaft die verschiedenen ethnischen Entitäten nebeneinander existieren und als solche kenntlich gemacht werden.
Raumpraktiken und räumlich imaginierte Geographie
Im Feld der kultur- und literaturwissenschaftlichen postmodernen Debatten ist eine dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit Migration zu verzeichnen, wobei eine Reihe von Bedeutungseinheiten wie ‚Raum’, ‚Grenze’, ‚Integration’, ‚Nation’ in einer nicht essentialistischen und damit labilen Bedeutungszuweisung auftaucht. Postmoderne Konzeptionen zum Raum betrachten diesen nicht mehr als gegeben, sondern er wird im jeweiligen hegemonialen Diskurs produziert, hergestellt, benannt und kodiert.
Aus den Benennungen, den Kodierungen sind gewohnte Raumpraktiken und die räumlich imaginierte Geographie zu erschließen. „Hier zeigen sich Macht und Herrschaft, da sich im hegemonialen Diskurs nicht alle im Raum vorhandenen Praktiken abbilden, sondern nur die der Macht und Herrschaft nahen, kompatiblen, nutzbringenden“ (ebd.,: 515). In einem dekonstruktivistischen Verständnis von Migration muss Migration demzufolge als Zirkulation zwischen Räumen verstanden werden (Baltes-Löhr: 1998: 86). Es gibt kein Inland und Ausland, und der ‚Wandernde‘ muss sich nicht für die eine oder andere Heimat entscheiden, muss sich nicht national positionieren, kann sich stattdessen heimisch sowohl im Hier als auch im Dort fühlen. Sprachwissenschaftlich entspräche dies der Anerkennung des Bi- oder sogar Trilingualismus und kulturanthropologisch der Anerkennung eines hybriden Subjekts (Bhabha 1997: 149ff.). Folglich wird das dichotomische Verständnis ‚Einwanderungsland/Auswanderungsland‘ oder ‚Ankunfts-/Herkunftsland‘ relativiert.
Die eindeutige Zuordnung eines Menschen zur Kategorie MigrantIn/Nicht-MigrantIn wird in diesem Sinne in Frage gestellt und der ‚Wandernde’ muss sich nicht mehr einem hier oder Dort zuordnen bzw. zugehörig fühlen, sondern kann sich im Dazwischen befinden und definieren (Baltes-Löhr 1998: 86ff.) Der Migrant wird somit zum „Nomadisierenden“, der sich keinem dualistisch-dichotom konzipierten Raum zuordnen lässt (vgl. Baltes-Löhr 2000: 519). Elisabeth Beck-Gernsheim bringt dies anschaulich auf den Punkt:
„Längst gibt es erhebliche Gruppen von Menschen, für die das eingeforderte Entweder/Oder – sei Deutscher oder sei Türke, sei Deutscher oder sei Grieche – schlicht dem widerspricht, was den Kern ihrer Erfahrung und ihres Lebensgefühls ausmacht. Das tägliche Leben dieser Einwanderer [...] ist eingebettet in vielfache und dauerhafte Beziehungsnetze über internationale Grenzen hinweg, und ihre öffentliche Identität umfasst die Beziehung zu mehr als einem Nationalstaat. Dabei ist ihre Herkunftsverbundenheit als Ergänzung, nicht als Widerspruch zu ihrer Niederlassung im ‚Gastland’ zu begreifen. [...] Hier vermengen sich Anatolien und Stuttgart, Sizilien und Nürnberg, und in der Folge finden wir was? Schwäbische Türken und italienische Bayern, die sich [...] in den transnationalen Räumen ihres Daseins bewegen.“ (Elisabeth Beck-Gernsheim 1999: 174)
Brausende interkulturelle Dynamik
Die Lebensprozesse in den neuen, gewählten oder zwangsläufig aufgesuchten Ländern führen notgedrungen zu interkulturellen Daseinsformen. Nicht die Multikulturalität, d.h. das Nebeneinander der Kulturen, oder die Transkulturalität, d.h. die Übernahme von fremden Kulturelementen, die jedoch nicht zum Kulturwandel führt, sondern erst die Interkulturalität beschreibt die grenzüberschreitenden kulturellen Beziehungen zwischen den Kulturen und kann „selbst das Resultat von Überlagerungen, Diffusionen und Konflikten darstellen. Wichtig ist, dass mit der Überwindung des Dualismus von Eigenem und Fremdem Kultur nicht mehr als Ist-Zustand, sondern als Dynamik aufgefasst wird.1 Das ‚inter’ eröffnet nicht nur neue Wahrnehmungsmöglichkeiten, indem es das Augenmerk auf den Zwischenraum ‚zwischen’ den Kulturen richtet, sondern verweist zugleich auf eine besondere Form von Beziehungen und Interaktionen, die innerhalb einer Kultur zu finden sind (Blioumi 2002: 29).
Ein Aspekt, der für das Verständnis des Interkulturalitätsbegriffs nicht unerheblich erscheint, ist die Tatsache, dass es sich um eine moderne Kategorie handelt, die erst nach der Bildung der Nationen und der Inkraftsetzung eines nationalen Denkens zutage tritt. Nach Campanile folgte historisch im 20. Jahrhundert auf die Homogenisierung der Kulturen durch die Nationalstaaten eine Partikularisierung, „bei der vor allem mit Beginn der nachkolonialen Epoche eine zunehmende Differenzierung (Ent-Homogenisierung) der europäischen Kulturen im Mittelpunkt [stand]“. (Campanille 1999, 338)
Dabei ist zu betonen, dass unter nationalem Denken ein monokulturelles Selbstverständnis zu verstehen ist, das zum einen eine Nation mit einer Sprache und einer Kultur identifiziert, zum anderen auf dem Gedanken der Abstammungsgesellschaft fußt und Kultur zu einem diffusen Begriff erhebt, der politisch nicht erfasst werden kann. In Begriffen wie ‚Volksnation’, ‚Kulturnation’ oder ‚Leitkultur’ kann dieses Denken exemplifiziert werden. Man kann also von Interkulturalität erst im Kontext der Nationalstaaten sprechen. In diesem Licht sind die von der Interkulturalität beschriebenen kulturellen Vermischungen, Grenzüberschreitungen und die Überwindung des nationalen Denkens zu verstehen.
So verwundert es, dass im Feld der Germanistik dem Begriff des ‘Migranten’ und folglich der ‘Migrationsliteratur’ eine Sinnöffnung abgesprochen wird (Esselborn 2007, 261). Ähnlich ist nicht nachzuvollziehen, warum als Alternative eine .sogenannte „Literatur ohne festen Wohnsitz“ favorisiert wird, obgleich anerkannt wird, dass Migration ein Überbegriff ist, der die verschiedensten Formen der Bewegung im Raum zum Ausdruck bringt (Theilen 2007, 319). Es scheint, dass im deutschsprachigen Raum noch zu heftig das pejorative Trauma des Gastarbeiters und damit des Migranten nachwirkt und deswegen ‘Migrationsliteratur’ dem zum Opfer fällt. Nicht zu übersehen ist, dass jeglicher alternativer Vorschlag für diese Literatur in Abgrenzung zur Migrationsliteratur passiert, sei es die Rede von einer „Literatur ohne festen Wohnsitz“ oder einer „interkulturellen neuen Weltliteratur“ (Esselborn), wobei aber der Begriff des Interkulturellen im Dunkeln bleibt.
Kategorientransfer aus den USA zum Wohle der ‘deutschen’ Wissenschaft
Wichtige Impulsgeber für die Erforschung der Migrationsliteratur sind in den letzten Jahren zweifelsohne Ansätze aus der postkolonialen Theorie. Der Postkolonialismus setzt auf modifizierte Weise den antikolonialen Diskurs früherer Jahrzehnte fort und wird vornehmlich an amerikanischen Universitäten von Akademikern aus den ehemaligen Kolonialländern entwickelt (vgl. Lützeler 2005, 23). Dies ist eine interessante Parallele zur literarischen Migrationsforschung in Deutschland, da einen wichtigen Beitrag zur systematischen literaturwissenschaftlichen Verortung und Analyse dieser Literatur Amodeo Immacolata mit dem Rhizomatischen-Modell und Carmine Chiellino mit dem Handbuch Interkulturelle Literatur in Deutschland und dem Konzept der Sprachlatenz sowie andere Forscher geleistet haben. Man könnte diese Ähnlichkeit als Indiz für eine gewisse ethnozentrische Einstellung halten, da autochthone Literaturwissenschaft über den eigenen Tellerrand, nämlich einer kanonisierten Literatur ungern hinauszublicken scheint.
Ein kurzer Blick auf das Konzept des Postkolonialen besagt, dass es sich um denjenigen Diskurs handelt, der in einem engen historischen und einem weitgefassten theoretisch-methodologischen Sinn aufzufassen ist. Geschichtlich rekurriert der Begriff auf die Literatur und kulturelle Praxis bis zum Ende der modernen Kolonialepoche also dem Ende des Apartheid Systems Ende der neunziger Jahre. Weitgefasster zeigt das Konzept „the totality of practices, in all their rich diversity, which characterize the societies of the post-colonial world from the moment of colonization until the present day“ (Ashcroft, Griffiths & Tiffin zitiert nach Riesz 2007, 402).
Eine interessante Parallele zur literarischen Migrationsforschung in Deutschland sind auch die Schwierigkeiten bei der Bezeichnung dieser neuen englischsprachigen Literatur. Der noch in den sechziger und siebziger Jahren gängige Begriff der Commonwealth Literatur,2 wurde von vielen AutorInnen angegriffen, unter anderem von Salman Rushdie als ein „exklusives Ghetto“ bezeichnet (Sturm-Trigonakis 2007, 61). Man erinnere sich hier an die Ghettoisierung, die die ‘Gastarbeiterliteratur’ als marginale Literatur innerhalb des deutschen Literaturbetriebs hervorrief. Gegen die in den USA bevorzugte Bezeichnung minority discourses wenden die AutorInnen ein, dass es sich meist um „unakzeptable Klassifizierungsschubladen westlicher Provenienz“ handle (ebd. 62).
Ähnlicherweise prangern AutorInnen in Deutschland ein verengendes Schubladendenken an, das ihre literarische Produktion unter einem gemeinsamen Nenner bringt und bestimmte Rezeptionserwartungen in Gang setzt (Blioumi 2000, 597). Die ‘Ausländerliteratur’ zum Beispiel müsse eine Literatur sein, die von AusländerInnen produziert wird und eventuell das Leben von AusländerInnen in Deutschland thematisiert. Man müsse jedoch nicht vergessen, dass Begriffsgeschichte veränderte soziohistorische Einstellungen gegenüber dem literarischen Phänomen ausmacht und die gutgemeinten Bezeichnungen der Commonwealth Literatur und der ‘Ausländerliteratur’ das Ringen einer marginalen Literatur um Anerkennung verdeutlichen.
Unterschied Postcolonial-Literature und Migrationsliteratur
Ein entscheidender Unterschied zwischen der Migrationsliteratur und der postcolonial-Literature ist ohne Zweifel die Quantität, sowohl in Bezug auf literarische Texte als auch auf literaturwissenschaftliche Forschungen. Nach Lützeler sei die Fülle der Literatur dermaßen groß, dass niemand mehr die gesamte Literatur zum Postkolonialismus überblicken könne und man auf Sammelbände bzw. readers dankbar sei, um zumindest einen Eindruck von der Vielfalt der postkolonial ausgerichteten Literaturwissenschaft zu bekommen (Lützeler 2005, 25). Folglich liegt ein Kategorientransfer in Richtung Migrationsliteratur nahe, zumal thematische (z.B. räumlicher Transit) und sprachlich-konstitutive Ähnlichkeiten (z.B. Sprachmischungen) bestehen.
Bezeichnenderweise wird infolge der Infiltration postkolonialer Theorie anhand eines antiessentialistischen Kulturbegriffs, der Hybridität und des Konzeptes des „third space“ operiert. Konkret bedeutet ein antiessentialistischer Kulturbegriff, dass er sich nicht auf die Vorstellung der ‚Hoch-’ oder ‚Elitekultur’ begrenzt, sondern alle Bereiche der konstruierten Realität mit einschließt. Dieser Kulturbegriff akzeptiert den Wandel und den Prozess innerhalb eines kulturellen Gebildes und fasst Kultur nicht mehr als Ist-Zustand auf. Der Wandel z.B. durch den Wechsel der Generationen und das Zurückweisen von nationalen Stereotypen sind hierzu einige Beispiele, die einen dynamischen, antiessentialistischen Kulturbegriff zum Ausdruck bringen (Blioumi 2002, 31).
Homi Bhabha
Ein anderer Eckpfeiler postkolonialer Theorie, der in der entsprechenden Theoriedebatte in Deutschland Eingang gefunden hat, ist jener der Hybridität. Das Hybride wird von Homi Bhabha, Hauptvertreter der postkolonialen Theorie, als permanenter, kultureller Umwälzungsmechanismus angesehen, der den so genannten ‚Dritten Raum‘ (third space) eröffnet. Hybridität prägt Mischformen des individuellen Seins aus und ist das Gegenteil des monokulturellen Selbstverständnisses, da sie die Interaktion mehrerer Kulturen bewirkt (vgl. Blioumi 2002: 31).
Dieser Prozess der Hybridisierung wird in Homi Bhabhas Vokabular als De-Platzierung (dis-placement) bezeichnet, wobei sich die Bedeutung von Zeichen und kulturellen Elementen als kontextabhängig erweist (Suppanz 2003: 24). Auf das Subjekt fokussiert ist die Rede von einem hybriden Subjekt, dass das vorläufige Resultat dieser kulturellen Überlappungen ist und somit das vorläufige Produkt „der Überschneidungen permanenter Transferprozesse“ (Wolf 2003: 157). Schließlich ist der ‚Dritte Ort‘ als Ort, in dem Hybridisierungsprozesse zustande kommen, aufzufassen, ein Ort der als Kontaktzone zu verstehen ist, wo die selben Zeichen „neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können“ (Bhaba 2000: 57), also ist es kein geografischer, sondern ein symbolischer Ort.
Optionen für die Erforschung der ‘deutschen’ Literatur
Dies sind Ansätze, die durchaus fruchtbar für die Erforschung des interkulturellen Potentials der Migrationsliteratur einzelner AutorInnen gemacht werden können. Autoren wie Franco Biondi oder Zafer Senocak stellen Probleme der Identität und der Zugehörigkeit ins Zentrum ihres Schreibens. Emine Sevgi Özdamar literarisiert gezielt sprachliche Hybridisierungen und erzählerische Verfremdungen, Yüksel Pazarkaya nutzt sein Leben in und zwischen verschiedenen Literaturen und Kulturen für literarische Übersetzungen (vgl. Mecklenburg 2005: 438), Yoko Tawada favorisiert ein deplatziertes Schreiben, das sich im Transit der Kultur- und Literaturräume bewegt – um nur einige Beispiele zu nennen.
Migrantischer Pendelverkehr innereuropäisch gesichtet
Abschließend möchte ich auf ein ganz anderes literarisches Phänomen aufmerksam machen, das meines Erachtens perspektivenreich ist, nämlich der Literatur von deutschsprachigen AutorInnen in Europa. Die Tatsache, dass Migration mehrere Gesichter hat und nicht auf Armut und Demokratiedefizite im Herkunftsland reduziert werden kann, lässt sich ebenso vom in den letzten Jahren immer häufiger anzutreffenden Phänomen der lang- oder kurzfristigen Auswanderung von Nordeuropäern, vornehmlich HeiratsmigrantInnen und Rentnern, nach Südeuropa erkennen.
Den Auswirkungen dieses Migrationsprozesses in der Literatur, bin ich vor einigen Jahren in einer entsprechenden Studie am Beispiel Griechenland nachgegangen, um zu beweisen, dass im Gegenzug zur in Deutschland produzierten Migrationsliteratur auch eine deutsche Migrationsliteratur im Ausland existiert. Ziel dieser Studie war eine erste Bestandsaufnahme und Erforschung der deutschsprachigen Migrationsliteratur in Griechenland. Die literarische Feldforschung, während dieser unveröffentlichte Texte aus ganz Griechenland gesammelt wurden, mündete in einem Buchprojekt, das aus einem theoretischen Teil bestand und das Phänomen grob zu verorten versuchte und aus einem anthologischen Teil, in dem eine Auswahl von Gedichten und Kurzgeschichten untergebracht wurde (Blioumi 2006).
Um an dieser Stelle ganz kurz die Konturen dieser Literatur zu umreisen, ist darauf hinzuweisen, dass es sich insofern um ein literarisches Novum handelt, als diese Literatur inhaltlich und sprachlich Konturen aufweist, die für die bisherige literarische Produktion neuartig erscheinen. Es handelt sich nicht um Migrationsliteratur von AutorInnen nicht-deutscher Herkunft, nicht um Minderheitenliteratur, nicht um Reiseliteratur, oder um die Literatur deutschsprachiger AutorInnen, die sich in ihrem Heimatland befinden, sondern um die Literatur von deutschen AutorInnen, die ins Ausland migriert sind und in einem weitgefassten Sinn als MigrantInnen bezeichnet werden können, zumal sich ihre Literatur mit dem Fremden und dem Eigenen auseinandersetzt und die Fremde als das angenommene Eigene problematisiert wird. Sprachlich wiederum sind erste Exemplare eines bilingualen Schreibens ersichtlich.
Das Thema der Migration spielt in dieser Literatur eine große Rolle. Die Tatsache, dass Konturen einer existenzialistischen Schreibweise mit der Migrationserfahrung verknüpft werden, scheint mir eine besondere Entwicklung in der deutschen Literatur zu sein, der aber bei weiteren Forschungen eingehender nachgegangen werden muss. Weitere Forschungen jedoch gebührt auch das Erkennen des spezifischen Themas der Heiratsmigration, dem sich viele dieser Autorinnen widmen. Die literarische Gestaltung der Heiratsmigration scheint eine besondere Entwicklung in der zeitgenössischen Literatur zu sein, die sich parallel zu den veränderten, zeitgenössischen Migrationsbedingungen entfaltet.
Aus interkultureller Sicht, schließlich, kann sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa keine interkulturelle Schreibhaltung festgestellt werden, da über einige Sprachmischungen hinaus kein hybrides Kulturverständnis zu Tage tritt. Die Texte bewegen sich in dem Bereich der Bikulturalität, wobei das eine Standbein immer ein deutsches ist, das die griechische Kultur erkundet. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich in zukünftigen literarischen Arbeiten der Sprung zum Interkulturellen entfalten wird.
Endnoten
1 Kultur als Ist-Zustand tritt in einer essentialistischen Auffassung zutage, in der die Personenimmanenz keine wichtige Rolle spielt. Kultur wird als ein in der Vergangenheit entstandenes Gebilde verstanden, das auf die Angehörigen eines Kollektivs übertragen wird. Das Stereotyp ‚Die geizigen Schotten’ unterstellt einem Kollektiv wesenhafte, im Laufe der Zeit unwandelbare Eigenschaften. Stereotype implizieren deswegen einen statischen Kulturbegriff, weil sie vermeintliche wesenhafte Charakteristika verabsolutieren und den Gedanken der Prozessualität verhindern.
2 Unter Commonwealth-Literatur wurde im weitesten Sinne die englischsprachige Literatur von Ländern des Commonwealth, v. a. Australischer Bund, Indien, Kanada (ohne Quebec), Neuseeland, karibische und afrikanische Länder verstanden. Um auch Länder mit englischsprachiger Literatur einordnen zu können, die nicht mehr dem Commonwealth angehören (z. B. die Republik Südafrika), spricht man heute gelegentlich auch von den »neuen Literaturen in englischer Sprache«. Als thematische Gemeinsamkeiten sind die Frage der nationalen Identität, die kulturelle Abhängigkeit vom britischen Mutterland, Landnahme und Besiedlung sowie die Verstädterung der Gesellschaft, oft mit satirischer Darstellung zu identifizieren.
Literatur
- Amodeo, Immacolata: Die Heimat heißt Babylon. Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
- Baltes-Löhr: Dekonstruktivistische Analyse der Begriffe „Identität“ - „Migration“ - „Raum“. In: Renate von Bardeleben/ Patricia Plummer (Hrsg.): Perspektiven der Frauenforschung: ausgewählte Beiträge der 1. Fachtagung Frauen-, Gender-Forschung in Rheinland-Pfalz. Tübingen: Stauffenburg 1998, S. 81-97.
- Baltes-Löhr, Christel: Migration als Subversion des Raumes. In: Bardeleben, Renate von u.a. (Hrsg.): Frauen in Kultur und Gesellschaft. Ausgewählte Beiträge der 2. Fachtagung Frauen-/Gender-Forschung in Rheinland-Pfalz. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000, S. 513-524.
- Beck-Gernsheim, Elisabeth: Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Im Dsungel der ethnischen Kategorien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999.
- Bhabha, Homi: DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation. In: Bronfen, Elisabeth/ Marius, Benjamin (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismus Debatte. Tübingen: Stauffenberg 1997, S. 149-194.
- Blioumi, Aglaia „‚Migrationsliteratur’, ‚interkulturelle Literatur’ und ‚Generationen von Schriftstellern’. Ein Problemaufriß über umstrittene Begriffe“. Weimarer Beiträge 4, 2000, S. 595-601.
- Blioumi, Aglaia: Interkulturalität und Literatur. Interkulturelle Elemente in Sten Nadolnys Roman „Selim oder Die Gabe der Rede“. In:
- Blioumi, Aglaia (Hg.): Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten. München: iudicium 2002, S. 28-40.
- Blioumi, Aglaia: Transkulturelle Metamorphosen. Deutschsprachige Migrationsliteratur im Ausland am Beispiel Griechenland. Königshausen & Neumann: 2006.
- Bronfen, Elisabeth/ Marius, Benjamin (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismus-Debatte. Tübingen: Stauffenberg 1997, S. 1-29.
- Campanile Anna: Abwehr und Dialog. Komparatistische Analysen der Literatur zweier Grenzregionen: Südtirol und Tessin. Arcadia 2, 34 (1999), S. 338.
- Esselborn, Karl: „Übersetzungen aus der Sprache, die es nicht gibt. Interkulturalität, Globalisierung und Postmoderne in den Texten Yoko Tawadas. Arcadia 42,2 (2007), S. 240-262.
- Hamburger, Franz/Koepf, Thomas/Müller, Heinz/Nell, Werner: Migration. Geschichte(n) – Formen –Perspektiven. Schwalbach 1997.
- Lützeler, Paul Michael: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs – Analyse – Kritik. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005.
- Mecklenburg, Norbert: Interkulturelle Literaturwissenschaft. In: Wierlacher, Alois /Bogner, Andrea (Hrsg.): Handbuch interkultuelle Germanistik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 433-439.
- Riesz, János: Postcolonialism. In: Beller, Manfred/Leerssen, Joep (Ed.): IMAGOLOGY. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical servey. Amsterdam, New York: Rodopi 2007 (=Studia Imagologica, 13), S. 400-403.
- Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.
- Suppanz, Werner: Transfer, Zirkulation, Blockierung. Überlegungen zum kulturellen Transfer als Überschreiten signifikatorischer Grenzen. In: Celestini, Federico/Mitterbauer, Helga (Hrsg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers. S. 21-36.
- Theilen, Ines: Von der nationalen zur globalen Literatur. Eine Lese-Bewegung durch die Romane Die Brücke vom goldenen Horn von Emine Sevgi Özdamar und Café Nostalgia von Zoé Váldés. Arcadia 2002, S. 318-337.
- Wolf, Michaela: Triest als „Dritter Ort“ der Kulturen. In: Celestini, Federico/Mitterbauer, Helga (Hrsg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers. Tübingen: Stauffenburg 2003, S. 153-173.
Aglaia Blioumi promovierte an der FU Berlin über den interkulturellen Diskurs in der deutsch-griechischen Migrationsliteratur. Sie ist Dozentin für deutsche Literatur und Kultur an der Universität Athen.