von Mohamed Amjahid
Eine multikulturelle Gemeinschaft wird es nur geben, wenn sich alle bewegen: pathetisch, notwendig, wahr. Dabei haben die MigrantInnen den längsten Weg und die Deutschen die Pflicht, die tiefen Schlaglöcher zu ebnen, die sie teilweise selbst gegraben haben.
87 Prozent für Thilo – ein schlechtes Zeichen
Als Thilo Sarrazin, Berliner Ex-Finanzsenator und Vorstandmitglied der Bundesbank, in der Kulturzeitschrift Lettre Inter-national eindeutig ein migrationsbedingtes Untergangsszenario der Hauptstadt heraufbeschwor, kam die ganze Wucht des gesellschaftlichen Vakuums in Sachen „Ausländerfrage“ zum Vorschein. Dieses Vakuum ist entstanden, weil viele anscheinend die sarrazinische Meinung teilen, ohne sie äußern zu können.
Sarrazin skizziert die Katastrophe so: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären, mit einem 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.“ Mit dieser Aussage beleidigt er gleichermaßen Deutsche, Türken, Kosovaren und Juden. Im Dritten Reich wurden Juden nämlich nicht nur als eine unmenschliche Ansteckungs-gefahr gesehen, gleichzeitig waren sie in den Augen der Nationalsozialisten eine übermenschliche Bedrohung, die die Weltherrschaft an sich reißen wollte. Eine Bedrohung mit höherem IQ. In dem ausdrücklich autorisierten (und von der Pressestelle der Bundesbank genehmigten) Interview bedient Sarrazin bewusst alte Klischees.. Er ist freilich als Mann der überspitzten Formulierungen bekannt. Oft sieht es so aus, als würde er erst reden und dann denken. Es ist nichts-destotrotz alarmierend, dass 87 Prozent der LeserInnen der Bildzeitung in einer Blitzumfrage seiner Aussage vollkom-men zustimmen.
Zum Beispiel die Araber: alle gleich, oder?
Foto: Wolfgang Wildner, www.flickr.com/CC-Lizenz
Auf die türkisch-stämmigen BürgerInnen in Deutschland beschränkt, sprechen die Zahlen nicht für gelungene Integration. Laut der Sinus-Studie 2009 sind mehr als 46 Prozent „der Türken“ in Deutschland von mangelnder Integration betroffen oder Integrations-verweigerer, je nachdem wie man es betrachtet. Eine Diskussion über den Status quo ist wichtig und richtig, aber nicht im Sarrazin-Stil. Effektiver ist vielmehr die Frage nach den Gründen dieser sozialen und kulturellen Benachteiligung. Statistisch gesehen landen türkische Jugendliche im Schnitt häufiger im Gefängnis und unter ihnen findet sich die größte Zahl an Schulabbrechern. Für den vietnamesischen Nachwuchs in Deutschland sieht die Zukunft dagegen rosig aus: Sie machen häufiger Abitur als ihre deutschen Freunde, arbeiten härter und die meisten leben strikt aufstiegsorientiert.
Warum entwickelt sich das Gros der Vietnamesen in der zweiten und dritten Generation anders als die TürkenInnen in Deutschland? Liegt es wirklich am Vor- und Nachnamen, an der Anatomie, am Herkunftsland oder an der Religion? Eine Frage, die so schnell kaum eine Antwort finden wird.
Vogelperspektive auf das Labyrinth kann ein erster Schritt sein
Die Probleme sind vielmehr im Konstrukt zu suchen, das sich über Jahrzehnte seit dem deutschen Wirtschaftwunder in den Köpfen aufgebaut hat. Erst jetzt, wo Deutschland keinen Bedarf an niedrig qualifizierten FließbandarbeiterInnen aus Ostanatolien, dem Maghreb, Süd- und Osteuropa hat, entfaltet sich die Wirkung dieses konstruktivistischen Gebildes. Ausländer gleich Problem, lautet demnach die Formel.
Inklusion kann ohne die selbstverständliche Grundvoraussetzung des Zugeständnisses einer individuellen Chance nicht realisiert werden. Der Begriff „Ausländer“ hat sich als Synonym für Sozialschmarotzer, Problemfall, als anderes Wort für fremd und bedrohlich entwickelt. In Deutschland und anderen europäischen Staaten wird sich diese Tendenz mit einer weiteren Polarisierung im gesellschaftspolitischen Diskurs weiter verstärken. Ein Nebeneinander von Bevölkerungsgrup-pen mit verschiedenen Hintergründen, wie sie in den USA herrscht, hat sich auch hier zu Lande etabliert. Schon heute haben MigrantInnen institutionalisierte Lebensläufe, so wie es bei der dualistisch erfundenen Arbeitsteilung von Männern und Frauen häufig der Fall ist. Diese Pfadabhängigkeit, der man wegen der Herkunft der Eltern, dem Namen, der Haut-farbe, der Sprache und der ausgelebten Alltagskultur unterworfen ist, verzerrt die Startbedingungen in der kapitalisti-schen Gesellschaft. Befänden wir uns gedankenspielerisch im wirtschaftlichen Wettbewerb, müsste die Kartellbehörde längst eingreifen.
„Ausländer“, die von dieser pessimistischen Lebensprognose im positiven Sinne abweichen, werden als anormal und außergewöhnlich angesehen. Der wissenschaftliche Diskurs ist da nicht viel besser, das Wort „Migrant“ oder die Formu-lierung „X mit Migrationshintergrund“ werden meist in einem negativen Kontext genutzt. Die oben erwähnte Sinus-Studie kommt zum Beispiel zu einem positiven Schluss, was Integrationsbemühungen auf allen Seiten angeht. Im wissenschaft-lichen und gesellschaftlichen Diskurs steht sie allerdings als Beweis für das Scheitern von Multikulti.
Die Ebene der Startvoraussetzungen ist eine erste; wie das einzelne, betroffene Individuum darauf reagiert, eine zweite analytische Stufe. Flüchtet es in seine eigene Kultur auf der Suche nach Identität? Ist das der Anfang von parallelen Lebensgemeinschaften in der Mehrheitsgesellschaft? Bei einigen entfaltet sich ein gewisses kriminelles Potenzial, bei anderen löst es demonstrative Inklusionsverweigerung aus, bei einer dritten Gruppe aktivieren diese Hindernisse qua Herkunft einen unerschöpflichen Ehrgeiz aufzusteigen: nach dem Motto „jetzt erst recht“.
Eine Veränderung des Status quo könnte demnach auf zwei Handlungsebenen vollzogen werden: Einerseits muss die stereotypisierende Vorstellung eines „Ausländers“ im kollektiven Gedächtnis verändert werden. Die Türken sind nicht nur Gemüseverkäufer, wie Thilo Sarrazin behauptet, sie verkaufen auch Kleidung und Schmuck. Sie arbeiten in Schulen und Krankenhäusern. Sie leben den europäischen Traum vom Orient. Sie assimilieren sich. Sie sind auch schwul, lesbisch und transgender. Sie begehen Straftaten, konsumieren, bekommen Kinder, lesen gerne und machen ihren Führerschein: Sie sind BürgerInnen Deutschlands.
Die zweite Handlungsebene liegt dagegen bei den MigrantInnen und Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte selbst, und zwar in Form einer intersubjektiven Validierung der angebotenen Ausgangssituation. Intersubjektive Validierung bedeutet hier eine individuelle Analyse normativer Vorgaben und der damit verbundenen Reaktion. Mit anderen Worten kann der „Ausländer“ sich aussuchen, wie er diesen Vorurteilen entgegnet. Zwar sind beide Prozesse, nicht strikt kausal zu betrachten, eher bilden sie einflussreiche, sich gegenseitig bedingende Faktoren. Es ist dennoch eine klare zeitliche Reihenfolge erkennbar: Vorurteil vor Validierung. Die geschaffenen Voraussetzungen haben mindestens einen negativen Effekt auf die Interaktion der MigrantInnen mit ihrem Umfeld. Dazu gehören die Barrieren in den Köpfen, wie die Barrie-ren im Alltag: Ghettos, Ausländerschulen, Arbeitslosigkeit.
Der Migrantenbegriff, egal welche Silben und Wörter dafür verwendet werden, muss dekonstruiert und neu definiert werden. „Ausländer“ kann demnach Misserfolg oder Erfolg bedeuten und neue „Skills“ werden in den Fokus genommen. „Ausländer“ spielt dann am besten keine signifikante Rolle in der Schule, bei Bewerbungen und in der Öffentlichkeit. In einem zweiten Schritt können gesamtgesellschaftlich Gemüseverkäufer, Sozialschmarotzer, Aufsteiger und akademi-sche „Elite“ aussortiert, gruppiert und bei Bedarf bearbeitet werden. Dann würde selbst ein Thilo Sarrazin als neuer deut-scher Integrationsbeauftragter rein gar nichts ausmachen.
Dezember 2009
Mohamed Amjahid, 21, ist Student der Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sein Berufsziel ist der Qualitätsjournalismus. Er ist Stipendiat im Programm "Medienvielfalt, anders" der Heinrich-Böll-Stiftung.