von Angelika Ertl
Die Zuwanderung aus allen Teilen der Welt und das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichsten Lebenskonzepten und kulturellen und religiösen Bezügen ist in der Bundesrepublik Deutschland zu einer wirtschaftlich notwendigen und sozialen Realität geworden. Die vierte Generation der Zugewanderten ist Teil der Mehrheitsgesellschaft geworden. Sie gestaltet politisch, wirtschaftlich und kulturell die Entwicklungen mit. Nicht nur der Grünen- Vorsitzende Cem Özdemir oder die Tatortschauspielerin Sibel Kekilli zeugen von dieser Veränderung. Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wird MigrantInnen erstmals Einfluss auf politische und gesellschaftliche Repräsentanz eingeräumt. Damit entstehen neue sozialpolitische, gesellschaftliche Anforderungen: Minderheitenfragen müssen neu diskutiert werden, weil sich Machtverhältnisse neu konstituieren und sich Interessen nicht mehr als von der Norm abweichende Sonderfälle isolieren lassen.
Die Pioniere der Migration, die sogenannte „Gastarbeitergeneration“, sprechen zumeist vorrangig ihre Herkunftssprache, ihre Integration hat somit vorwiegend über die eigenen Kinder stattgefunden. Soziale Integration blieb ohnehin für viele beschränkt auf das Berufsleben. Gelegenheiten von Begegnungen mit Deutschen und zur Kommunikation in deutscher Sprache sind für viele nach dem Berufsleben kaum gegeben. Verständigung ist daher aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse bis heute für viele ohne Kinder oder DolmetscherInnen/MittlerInnen nicht möglich. Sprachliche Barrieren erzeugen bei den professionellen AltenpflegerInnen eine Fremdheit, die Routinen und Selbstverständlichkeiten im professionellen Alltag der Altenhilfe ausbremsen.
Wenn es um das Leben geht, geht es um mehr als die Überwindung von sprachlichen Barrieren. Altern ist zu einem eigenen Lebensabschnitt geworden mit vielfältig neuen Lebensmöglichkeiten und Rollen. Die Konfrontation mit Krankheit, Begrenzungen und Einschränkungen im Leben offenbart jedoch die Schattenseiten des Alterns. Verlust von Mobilität und Angewiesen sein auf regelmäßige medizinische Betreuung beschränken altgewordene MigrantInnen auf das Leben in Deutschland. Sie können nicht mehr selbstverständlich pendeln zwischen Hier und Dort. Das Pendeln ist eine Möglichkeit der physischen, sozialen und psychischen Auseinandersetzung mit dem Leben, das sie gelebt haben, mit dem, was sich im Dort und im Hier entwickelt hat. Es ist eine wichtige Ressource und Leistung für die Erhaltung der eigenen Gesundheit. Diese Selbstgestaltungsmöglichkeit hat ihre Grenze erreicht, wenn die eigene Mobilität verloren geht und eine neue Phase des Alterns eingeläutet wird.
Es gilt nun Hilfe anzunehmen und sich ein Leben mit Abhängigkeiten zu gestalten, was sich die wenigsten als eine zu gestaltende Phase ihres Lebens vorstellen können. Man wird abhängig von – fremder - Hilfe. Wenn es um einen Umzug in eine Pflegeeinrichtung geht, vollzieht sich das gesamte Leben (also auch die Privatsphäre) in der Öffentlichkeit einer Institution. Im Alter ist man in besonderer Weise konfrontiert mit körperlichen und psychischen Erkrankungen. Die „Angst den Kopf zu verlieren“ ist angesichts der großen Verbreitung demenzieller Erkrankungen eine Angst, mit der sich alternde Menschen beschäftigen müssen.
Pflegebedürftigkeit bedeutet in den unmittelbaren Bedürfnissen Angewiesen sein auf Verstehen und Anerkennung der eigenen Angewohnheiten durch das Pflegepersonal. Das stellt eine Herausforderung für jeden Hilfeleistenden dar, seien es Angehörige oder Professionelle. Die Erforschung der eigenen Bedürftigkeiten, Prägungen, Gewohnheiten des pflegebedürftigen Menschen als Grundlage für die Ausgestaltung des Handelns, ist das Wesen von Hilfe im Alter. Die Humanität einer Gesellschaft misst sich am Umgang mit Menschen, die mit ihren existenziellen Seiten des Lebens auf Hilfe angewiesen sind und keine wirtschaftliche Ressource mehr für die Gesellschaft darstellen.
GastarbeiterInnen: wirtschaftlich erwünscht, politisch geduldet, sozial unerwünscht?
„Gastarbeiter wurden gerufen, Menschen kamen“. Dieser Satz von Max Frisch kennzeichnet kurz und prägnant die spezifische Migrationserfahrung der ersten Generation der ZuwanderInnen. Das sind insgesamt 7.348.000 angeworbene Arbeitskräfte und ihre nachgezogenen Familienangehörigen, die zwischen 1955 und 1973 aufgrund politischer Regelungen als sogenannte „GastarbeiterInnen“ zugewandert sind oder durch Familienzusammenführung ab 1975 zuwandern konnten. Angeworben auf Zeit und mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen, waren diese MigrantInnen auch politisch weiterhin mit dem Herkunftsland verbunden. Anfangs untergebracht in Baracken und Wohnheimen der ArbeitgeberInnen, blieben sie die ersten Jahre weitgehend abgeschirmt von der deutschen Bevölkerung. Eine Integration war nicht vorgesehen und Anpassungserwartungen erstreckten sich vornehmlich auf einen reibungslosen Arbeitsablauf und die Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen. Mit der politischen Entscheidung der Familienzusammenführung in den siebziger Jahren begann eine neue Phase der Migrationsgeschichte.
Dennoch blieben die Familien weiterhin auf Rückkehr bezogen, auch wenn sie endlich die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung oder Aufenthaltsbefugnis erlangten. Gelegenheiten zu Partizipation und zur Gestaltung des öffentlichen, politischen und kulturellen Lebens in den Kommunen gab es kaum. Interessen und Probleme konnten lediglich als marginalisierte Interessengemeinschaften von „AusländerInnen“ geltend gemacht werden.
Als Pioniere der Zuwanderung haben sie in 50 Jahren seit dem ersten Anwerbeabkommen 1955 maßgeblich beigetragen zu wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Sie haben das Leben in Deutschland verändert und eine wesentliche Integrationsleistung vollbracht im Spagat zwischen dem Hier und Dort. Sie lassen sich also auch als Väter und Mütter gelebter und eroberter Integration verstehen. Sie haben nicht nur sozialversicherungsrechtlich, sondern auch gesellschaftlich Anspruch erworben auf ein menschenwürdiges respektvolles Leben im Alter. Was bedeutet das konkret für die Altenhilfe?
Deutungsfalle: die Heimat im Alter liegt im Herkunftsland
„Bist immer noch net zuhause in Italien ..., dann bleibst halt hier, isch au schä in unsrem Ländle“
(Aussage eines schwäbischen Personalleiters).
Das Zuhause scheint nicht dort, wo man seine längste Lebenszeit verbracht hat. Obgleich die Migration als Lebensphase einen prägenden Einfluss auf die Identität ausgeübt hat. Angeworben auf Zeit, geblieben mit befristeten oder ungesicherten Aufenthaltsstatus, ausgestattet mit unterschiedlichen Rechten als EU-BürgerInnen und Nicht EU-BürgerInnen, konfrontiert mit einer Haltung, die Menschen einteilt in „Menschen wie Du und Ich“ und „fremdländische GastarbeiterInnen“ aus den muslimischen Ländern Türkei oder Marokko: MigrantInnen der ersten Generation blieben oft auf den Status der AusländerIn beschränkt. In der Spannbreite zwischen ethnischer Orientierung und kosmopolitischem Selbstverständnis hat man sich entwickelt und gehörte weder im Aufnahmeland noch im Herkunftsland richtig dazu.
Wunsch nach einem Zuhause, Wunsch nach Verwurzelung und Heimwehgefühle sind Emotionen, die alle Menschen nachempfinden können. Schnell wird von deutscher Seite bei dem Gedanken an Rückkehrsehnsucht auch der unausgesprochene Satz mitgedacht: „Sie wollen zurück in die Heimat und da, wo ihre Wurzeln sind, gehören sie auch hin“. Doch diese Aussage bindet altgewordene MigrantInnen an ein Dort, was es so nicht mehr gibt und versperrt ihnen ein Hier. „Rückkehrbindung“ ist ein spezifisches psychisches und soziales Kommunikationsmuster der sogenannten „Gastarbeitergeneration“. Wie bei allen ZuwanderInnen, die mit ihrer Arbeitsmigration eine wirtschaftliche Unterstützung von Menschen in ihrem Herkunftsland verbinden, sind die sozialen und materiellen Beziehungen so zu gestalten, dass eine Auswanderung nicht eine endgültige Lebensentscheidung wird. Die Entscheidung über den eigenen Lebensmittelpunkt ist ein prozessualer Weg und gebunden an persönliche, soziale und politische Entwicklungen im Herkunfts- und Aufnahmeland.
Pioniere des Alterns in der Migration
Die erste Generation von Zugewanderten ist heute die erste Generation der alten MigrantInnen. Sie können nur schwerlich zurückgreifen auf Lebensentwürfe und Vorbilder für das Altern, denn ihre Großeltern sind in unter anderen Umständen gealtert. Sie werden so also zum zweiten Mal zu Pionieren: der Schaffung der Lebensphase Altern in der Migration. Diese gesellschaftliche Entwicklungsaufgabe ist eine Gestaltungsaufgabe, die mehrere AkteurInnen einschließt: die Politik, die Zivilgesellschaft, das Gesundheitswesen, die Altenhilfe ebenso wie Migranten- und religiöse Organisationen, die Familien und die älteren Menschen selbst. Will man die Pioniere der Migration nicht zu VerliererInnen der deutschen Einwanderungspolitik machen, geht es um eine nachträgliche Anerkennung ihrer Lebens- und Integrationsleistungen – um Differenzierung statt Diskriminierung und Nichtbeachtung.
Welche Rolle kann die Familie bei der Bewältigung der Risiken im Alter einnehmen?
Zu unterscheiden ist - wie in allen Familien - zwischen Wertorientierungen (familiäre Erwartungen), Familiendynamik (familiäre Bindungen) und Familiensituation (unterschiedliche Lebenswelten und Lebenslagen innerhalb einer Familie). So gibt es zum Beispiel eine Großzahl von Migrantenfamilien, die ihren Generationenvertrag nicht einlösen können: Kinder haben Werte der Elternsorge zwar verinnerlicht, ihre Lebenssituation aber lässt eine Pflege der Eltern im Alter nicht zu.
Die Antworten auf Hilfe- und Pflegebedürftigkeit der ersten Generation müssen also erst gefunden werden und bedürfen eines gesellschaftlichen und institutionellen Rahmens, in dem viel Spielraum für unterschiedliche Unterstützungen möglich ist in der Bandbreite zwischen familiärer und institutioneller Versorgung.
Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe
In den letzten zehn Jahren hat eine breite trägerübergreifende und interdisziplinäre Verständigung über kultursensible Altenhilfe stattgefunden. Ziel einer kultursensiblen Altenhilfe ist eine (nachträgliche) Anerkennung der Menschen in ihrem biografischen Dasein, also der Anerkennung ihrer Leistungen, ihrer vielfältigen Unterschiede, ihres biografischen Eigensinns. Kultursensible Altenhilfe ist etwas grundsätzlich anderes als Altenhilfe für die Generation der sogenannten GastarbeiterInnen oder einer Altenhilfe für AusländerInnen und (Spät)AussiedlerInnen, die auf soziale Integration und Assimilation ausgerichtet ist. Migrations- und kultursensible Altenhilfe baut auf Biografiebezogenheit in der Altenpflege auf und ist eine sozialhistorisch verpflichtete, individuelle Altenhilfe.
Im Memorandum (und der begleitenden Handreichung) sind die wesentlichen konzeptionellen Entscheidungen beschrieben, die zu einer kultursensiblen Altenhilfe führen. Ende 2002 haben die Wohlfahrtsverbände und die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration das Memorandum unterzeichnet und als Träger der Altenhilfe somit eine klare Position bezogen.
- Kultursensible Altenhilfe ist Sensibilisierung für die Gestaltungsaufgaben eines kultursensiblen Alterns
- Kultursensible Altenhilfe ist Aufklärung über Altenhilfe und über notwendige Schritte des Abbaus von Zugangsbarrieren (Kenntnis über das Hilfesystem und die eigenen Rechtsansprüche, Abbau von Sprachbarrieren, interkulturelle Öffnung) und von Nutzungsbarrieren (Auseinandersetzung mit eigener Abhängigkeit und Kommunikation von eigenen Interessen und Bedürfnissen, interkulturelle Verständigung, Differenzierung des Hilfesystems)
- Kultursensible Altenhilfe ist ein sozialer Prozess, in dem die Pioniere für ein Altern im Migrationsland Gehör und viele Antworten finden können auf ein würdevolles Leben mit Hilfebedürftigkeit
- Kultursensible Altenhilfe ist ein kultureller Prozess, in dem ein öffentlicher Diskurs um das Altern auf vielen Ebenen angestoßen wird
- Kultursensible Altenhilfe ist ein politischer Prozess, in dem Kommunen, Land und Bund Impulse geben und Rahmenbedingungen schaffen für eine Strukturentwicklung und Beteiligung von MigrantInnen bei der Ausgestaltung einer kultursensiblen Altenhilfe
- Kultursensible Altenhilfe ist ein Prozess der Interkulturellen Öffnung von Institutionen, der mit kleinen Schritten beginnen kann und in Qualitätsentwicklung integriert oder übergeführt wird
- Kultursensible Altenhilfe ist ein Prozess der Vernetzung auf den verschiedensten Ebenen.
10 Jahre kultursensible Altenhilfe
Diese konzeptionellen Grundlagen für die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Altenhilfe haben auch nach zehn Jahren ihre Bedeutung für Weichenstellungen einer migrations- und kultursensiblen Differenzierung der Lebensbedingungen im Alter nicht verloren.
Blicken wir auf die Geschichte der Bundesrepublik zurück, so haben wir in den letzten 30 Jahren mithilfe von Medien, Kultur, Bildung und Beratung einen weitreichenden Paradigmenwechsel in unserer Vorstellung von Altern erreicht. Hat man noch vor 40 Jahren mit 60 Jahren „zum alten Eisen gezählt“ und ist mit der Rente in den „Ruhestand“ verabschiedet worden, so gibt es heute viele Gestaltungsräume im Alter. Medien greifen Themen wie zum Beispiel familiäre Betreuung von demenziell Erkrankten Menschen auf und holen so Familien mit ihren emotionalen Belastungen aus dem Schattendasein heraus. Das Tabu der Pflegebedürftigkeit ist weitgehend aufgelöst. Angehörige finden Gehör und nicht nur Sanktionen, wenn sie zugeben, dass sie die Pflege ihrer altgewordenen Angehörigen nicht übernehmen können oder wollen. Heute ist es selbstverständlicher geworden, eine Pflegeeinrichtung in Anspruch zu nehmen. Vor 30 Jahren sprach man noch in professionellen Kreisen davon, dass Angehörige ihre Eltern ins Heim „abgeschoben“ haben und baute Altenpflegeheime an den Rand der Stadt.
Diese Gestaltungsräume für das Altern und im Umgang mit Pflegebedürftigkeit müssen nun auch für Zugewanderte mithilfe öffentlicher Medien, Bildung, Kultur und Beratung geschaffen werden. Es gibt eine Vielzahl von Fragen, auf die es mehr als eine Antwort braucht: Wie will und wie kann ich altern? Welche Bedeutung kann meine Familie darin spielen? Welche Qualität haben die Hilfen durch Institution? Wie kann ich Einfluss nehmen auf die Hilfe- und Dienstleistungen?
In der Wirtschaft laufen die Prozesse der Konkretisierung der Dienste für differenzierte Kundengruppen mitunter schneller. Auch sie haben ihre Wirkung in Bezug auf Daseinsberechtigung und Anerkennung der Pioniere der Migration. Als Beispiel möchte ich auf die neue Flatrate eines großen Mobilfunkanbieters verweisen, die es ermöglicht sowohl in der Türkei wie in Deutschland zu Flatrate-Bedingungen zu telefonieren. Türkischsprachige MitarbeiterInnen begrüßen ihre KundInnen in türkischer Sprache und wechseln dann in die eine oder andere Sprache.
Den Kommunen kommt bei der Durchsetzung der Ansprüche kultursensibler Altenhilfe eine wichtige Schlüsselposition zu: Sie sind Impulsgeber und haben mit den Instrumenten des Altenhilfeplanes und der Bürgerbeteiligung und der Integrationsbeauftragten vielfältige Möglichkeiten von Aufklärung, Begegnung und Strukturentwicklung.
Bilanzierung des eigenen Lebens und Differenzierung des Blicks auf das gelebte Leben ist auch eine Aufgabe der Geschichtsschreibung, zum Beispiel der Kommunen. Wenn wir MigrantInnen als GestalterInnen der Geschichte der Bundesrepublik achten, entsteht eine neue Sicht auf unsere gemeinsame Geschichte. Für die MigrantInnen bedeutet dies eine nachträgliche Wertschätzung und ein Stück Weges anerkennender Integration. Für die Mehrheitsbevölkerung differenziert sich das Verständnis von Geschichte und die Möglichkeit die eigene Haltung zu MigrantInnen zu überdenken. Es geht also nicht um eine Würdigung der „GastarbeiterInnen“ durch eine Migrationsausstellung, vielmehr um das gemeinsame Entwickeln von Stadtgeschichte. Anlässlich des historischen Datums des deutsch-türkischen Vertrages zur Anwerbung vor 50 Jahren entstanden eine Vielzahl von kommunalen Initiativen in diese Richtung. Selbstorganisation und Vernetzung werden vorbildlich in der Stadt Münster unterstützt: das Bürgerzentrum Bennohaus ermöglicht älteren MigrantInnen Lern-, Experimentier- und Kommunikationsräume.
Zum Beispiel wurden Wegweiser für ein selbstbestimmtes Altern entwickelt. „Älter werden in Deutschland“ ist eine Inforeihe für ältere MigrantInnen und eröffnet im Rahmen eines Bildungsprogramms Zugänge zu unterschiedlichsten Institutionen vor Ort, gibt Raum zur Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensfragen und mit der Klärung der Erwartungen an die eigene Familie. Zugleich macht das Personal durch die Begegnung erste institutionelle Erfahrungen mit einem künftigen Kundenkreis.
Die Angebote offener Altenhilfe (zum Beispiel Magnolya e.V. Darmstadt) ermöglichen Begegnungen, stellen Verbindungen her zwischen Frauen unterschiedlicher Herkunft und lassen Gruppen entstehen, die der Vereinsamung älterer Frauen entgegenwirken. Sie stärken die Eigenpotenziale der älteren Frauen und geben den Bedürfnissen der älteren Migrantinnen Raum: Türkische Zeitung lesen oder selbst einkaufen können, eine Busfahrtkarte lösen können, Deutsch lernen, Ausflüge machen an Orte der „Deutschen“, Mobilität erwerben und Fahrradfahren lernen. Das Altern bleibt nicht länger ein individuelles Thema. Einrichtungen der Altenhilfe werden gemeinsam „inspiziert“. Es gibt Kurse zur Ernährung im Alter, Gruppengespräche um alles, was Frauen in ihren Familien beschäftigt, Hausbesuche bei Krankheit und ein herkunftssprachliche Kontakt- und Besuchsdienste bei Krisen oder wenn es um Unterstützung geht bei der Inanspruchnahme von Hilfen im Alter (Arztbesuche, Krankenkasse, Rentenfragen, Wohnungsamt).
Zugangs- und Nutzungsbarrieren abbauen
„Die Heime sind für Deutsche da, die werden sich soundso nicht auf uns einstellen, dort bin ich verloren“.
Das Zutrauen, die eigenen Vorstellungen, Interessen und Gefühle zu äußern, wächst mit der Vorstellung, Recht auf Unterstützung und Hilfe in Deutschland zu haben und dem konkreten Erleben der Institutionen. Hierzu tragen vielerorts entstandene Treffpunkte für SeniorInnen bei und aufsuchende soziale Arbeit/ehrenamtliche Besuchsdienste. Teils entstehen sie aus gewachsenen Strukturen, wie den Migranten- oder Moscheevereinen, teils werden sie im Rahmen der „Sozialen Stadt“ entwickelt oder im Kontext von Frauenorganisationen.
Aufklärung über bestehende Hilfen ist für die neuen Kundengruppen verbunden mit der Prüfung, inwieweit die Hilfeleistungen ihren Bedürfnissen und Prägungen gerecht werden können: Welchen Anspruch auf Hilfe im Alter habe ich? Wie überwinde ich meine Scheu vor diesen Einrichtungen? Gibt es angemessene Hilfe oder sind die Dienstleistungen ganz auf die Deutschen ausgerichtet? Welche Vorbehalte habe ich? Welche Bedürfnisse und Gewohnheiten sollen beachtet werden? Welche Ängste und Sorgen belasten mich?
Die Antworten auf das Wie des eigenen Alterns kann nicht vom Einzelnen allein beantwortet werden. Der Einzelne braucht hierzu Wahl- und Auseinandersetzungsangebote. Undifferenzierte Einwanderungspolitik, undifferenzierte politische Konzepte von Integration, zum Beispiel die Verengung auf interkulturelle Paradigmen und die Ablehnung von muttersprachlichen und gruppenbezogenen Projekten, ignorieren die Biografien der altgewordenen MigrantInnen: Differenzierte Lebenslagen und unterschiedlichste Gruppen benötigen auch differenzierte Angebote. Betreutes Wohnen für alleinstehende MigrantInnen italienischer Herkunft, Tagespflege des Moscheevereins, Demenzberatung in türkischer Sprache ebenso wie interkulturelle Pflegeheime wie in Frankfurt oder Duisburg.
Individuelle Pflege – Garant für migrations- und kultursensible Antworten auf die Hilfebedarfe von MigrantInnen?
Leitbilder aller großen Träger beinhalten das Recht auf individuelle Pflege, einer professionellen Pflege unabhängig von Kultur, Religion, Herkunft. Dieser Diskriminierungsschutz kann als Basis für eine individuelle Pflege vielerorts nicht eingelöst werden. Der Rahmen des professionellen Handelns ist verengt auf einen „Durchschnittspflegebedürftigen“, die Erwartung gerichtet auf den anpassungsfähigen Hilfebedürftigen, kompetent in der Äußerung und Selbstbeschränkung seiner individuellen Problemlagen und Bedürfnisse.
Institutionen der Altenhilfe haben selbst wenig Gestaltungsspielräume, um zwischen Wirtschaftlichkeit und Qualität die Ansprüche auf ein würdevolles individuelles Leben in Abhängigkeit sicherzustellen. Kultursensible Altenhilfe kann hier Impulse setzen im Hinblick auf einen konkreten Entwicklungsprozess im Alltag. Eine wichtige Ressource zur interkulturellen Öffnung der Altenhilfe besteht in der Vielzahl von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund: Mit einer interkulturellen Teamentwicklung können alle von der Vielfalt profitieren, eine gelebte Interkulturalität im Personal öffnet für eine Diversität bei den KundInnen.
Die meisten Institutionen der Aus-, Fort- und Weiterbildung haben inzwischen das Thema kultursensible Pflege als Querschnittthema verankert. Gesellschaftlich erworbene Haltungen im Umgang mit den sogenannten „GastarbeiterInnen, AusländerInnen, kopftuchtragenden Frauen“ werden hier reflektiert und sind Basis für Einfühlung, Anamnese und individuelle Pflegeplanung.
Kultursensible Altenhilfe - Brennglas auf das Bestehende
Es stehen eine Menge von Lernerfahrungen gebündelt in Broschüren, Handreichungen und Handlungsmodellen zur Verfügung. Es geht wesentlich nicht um individuelle Problemlagen, die dann gedeutet werden mit bekannten diskriminierenden Vorstellungen über die altgewordenen GastarbeiterInnen. Es geht vielmehr um Wahrnehmung und Gestaltung einer politischen und bürgerschaftlichen Aufgabe in den Bereichen Politik, Institution, Profession und Gesellschaft. 10 Jahre danach hat das „Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe“ seine Gültigkeit nicht verloren. Es bleibt Orientierung für Paradigmenwechsel und Entwicklung.
Der Prozess der Interkulturellen Öffnung ist kein Zusatzangebot, sondern betrifft die ganze Organisation und erfordert einen transparenten langfristigen Entwicklungsprozess auf allen Ebenen. Für die Umsetzung der Interkulturellen Öffnung ist eine Entscheidung des Trägers erforderlich. Eine verbandspolitische Weichenstellung, wie sie mit der Unterzeichnung der Wohlfahrtsverbände 2002 geschehen ist, kann eine wichtige Stärkung sein. Die Umsetzung der Interkulturellen Öffnung muss dann vom Management gewollt, auf der Praxisebene akzeptiert und für alle Beteiligten transparent gestaltet werden.
Was uneingelöst bleibt und die Kampagne vor zehn Jahren nicht bewirken konnte, ist die Einsicht, dass Investitionen notwendig sind. Qualitätsentwicklung zur kultursensiblen Altenhilfe ist mit Projekten alleine nicht zu bewerkstelligen. Sie stellen Leuchttürme dar und ermöglichen Erfahrungen, auf die sich Regeleinrichtungen beziehen können. Qualitätsentwicklung als Querschnittaufgabe ist mit Regelsätzen nicht zu leisten. Wirtschaftliche Kosten sind für Folgen einer widersprüchlichen Integration aufzubringen und würden ganz neue Diskurse in der „Integrationspolitik“ evozieren. Institutionen und Verbände, die sich auf den Weg der Interkulturellen Öffnung der ambulanten und stationären Altenpflege und Altenarbeit begeben, brauchen politische und finanzielle Unterstützung für eine differenzierte regelhafte Finanzierung kultursensibler Pflege und Interkultureller Öffnung.
Angelika Ertl, Dipl.Soziologin, Supervisorin, Fortbil-dung und Beratung in den Bereichen: Frühe Bildung für ALLE, Interkulturelle Pädagogik und Kommunikation, kultur- und migrationsensible Altenhilfe und Pflege.