von Karin Schuster
Das Arbeitslosengeld II, besser bekannt als "Hartz IV", steht im Mittelpunkt kontroverser Debatten. Diese knüpfen auch daran an, dass die Reform des Grundsicherungssystems die Förderung erwerbsfähiger Hilfebedürftiger mit einer Eingliederung in den Arbeitsmarkt verbindet, ohne auf individuelle Lebensentwürfe Rücksicht zu nehmen1. Damit ist das Sozialgesetzbuch II (SGB II) im Vergleich zum Bundessozialhilfegesetz wesentlich stärker an einer (unmittelbaren) Integration Erwerbsloser in den Ersten Arbeitsmarkt orientiert. Laut Gesetz sollen individuelle AnsprechpartnerInnen gemeinsam mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen durch individuelle Beratung eine Strategie zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt entwickeln. Die Steuerung sowohl arbeitsmarkt- und sozialintegrativer Leistungen als auch der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erfolgt im Wesentlichen in Kooperation der Bundesagentur für Arbeit und kommunaler Träger. Die Arbeit der Argen und Jobcenter zielt auf ein baldiges Ausscheiden der „KundInnen“ aus dem Leistungsbezug. Sie unterliegt dem Prinzip „Fordern und Fördern“ und schließt eine (einseitige) existenzbedrohende Sanktionsgewalt ein.
Kulturelle, personale und soziale Unterschiedlichkeit prägen den Alltag in Argen und Jobcentern. Chancengleichheit und Gleichbehandlung aller BürgerInnen sind zentrale gesellschaftspolitische Ziele, und mit der Unterzeichnung der „Charta der Vielfalt“ hat auch die Bundesagentur für Arbeit ein grundlegendes Bekenntnis zur Wertschätzung dieser Vielfalt abgelegt. Doch auf welche Weise setzt sie eine Politik der Vielfalt um und wie erfolgreich ist die Organisation dabei? Anhand des Zugangs zu Integrationsleistungen nach dem SGB II soll dieser Frage nachgegangen werden. Erfahrungen von LeistungsbezieherInnen, den KundInnen der Arbeitsagentur, lassen zum einen vermuten, dass Ressourcen abhängig von persönlichen Merkmalen ungleich verteilt werden, zum anderen, dass in der Praxis des Alltags vielfältige Potenziale unerkannt und somit ungenutzt bleiben.
Zugang zu Integrationsleistungen nach dem SGB II
KundIn und FallmanagerIn verbindet ein Arbeitsbündnis, welches sich von üblichen professionellen Beratungs-Standards wesentlich unterscheidet: Ihre Beziehung basiert nicht auf Freiwilligkeit, sie soll ein extern vorgegebenes Ziel verfolgen und schließt eine (einseitige) Sanktionsgewalt ein. Um schnellstmöglich einen Übergang der KundInnen in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis oder eine existenzsichernde Selbständigkeit zu erreichen, steht ein vielfältiges Repertoire arbeitsmarktpolitischer Instrumente zur Verfügung. Wie gestaltet sich nun der Zugang zu Bildungsgutscheinen, Trainingsmaßnahmen, Kombilohn und Ein-Euro-Jobs?
Erste Hinweise ergibt ein Blick auf die erste Phase der Zusammenarbeit von KundIn und FallmanagerIn, in der entscheidende Grundlagen für den späteren Zugang zu Integrationsleistungen erarbeitet werden. Zunächst werden Informationen und Eindrücke zur sozialen und arbeitsmarktrelevanten Situation der KundInnen erhoben und im Vermittlungs-, Beratungs- und Informationssystem der Arbeitsagentur (VerBIS) erfasst. Auf dieser Basis erfolgt anschließend eine Bewertung der Chancen auf Integration in Arbeit unter Berücksichtigung des Unterstützungsbedarfs. Dieses sogenannte „Profiling“ dient der Diagnose individueller Stärken, Schwächen und Chancen, gleichzeitig wird es zur KundInnensegmentierung und Ressourcenallokation genutzt. Arbeitsuchende werden anhand ihrer prognostizierten Chancen am Arbeitsmarkt und ihres Unterstützungsbedarfs gruppiert, um ihnen anschließend nach intern festgelegten Regeln Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Die Entwicklung einer KundIn bis zur existenzsichernden Integration in Erwerbsarbeit vor dem Hintergrund der vorangegangenen Chancen-Prognose lässt sich anhand eines Betreuungsstufenmodells2 nachzeichnen. Die Zuordnung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu einer Betreuungsstufe und somit die Steuerung gesetzlicher Leistungen stützen sich auf Vermutungen der FallmanagerIn, wann und mit welcher Unterstützung eine KundIn in Erwerbsarbeit integrierbar sein könnte.
Individuelle Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster von FallmanagerInnen verhindern Zugang zu Ressourcen
Beispiele zeigen, welchen Einfluss Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster der FallmanagerInnen und Persönlichen AnsprechpartnerInnen (PAps) auf den Zugang zu Ressourcen und damit gleichzeitig auf individuelle Entwicklungschancen Arbeitsuchender nehmen.
Merkmal Geschlecht
Sabine M., 35, soll, weil das Einkommen ihres Mannes die Existenz der Familie nicht sichert, einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Nach dem Hauptschulabschluss hatte sie eine Ausbildung begonnen, diese aber nach der Geburt des ersten Kindes nicht fortgeführt, um sich ausschließlich der Kindererziehung und dem Haushalt zu widmen. Ihre letzte Erwerbstätigkeit liegt acht Jahre zurück.
In diesem konkreten Fall bietet die Software VerBIS lediglich die Möglichkeit, den Schulabschluss, die nicht abgeschlossene Ausbildung sowie einige als Hausfrau und Mutter erworbene Fähigkeiten zu erfassen, z. B. sanitäre Einrichtungen reinigen, spülen, Gemüse und Salat putzen und Kinderbetreuung. Langjähriges unbezahltes Haushalts- und Familienmanagement ist nicht im Werdegang abbildbar. Raumpflegerin oder Küchenhilfe können auf der Basis dieses Profils als berufliche Perspektive für die Kundin ermittelt werden.
Erhebliche Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern in Kombination mit kürzeren Erwerbsarbeitszeiten aufgrund der Übernahme unbezahlter Reproduktionsarbeit schlagen sich in einer geringeren sozialen Sicherung im Falle von Erwerbslosigkeit nieder, da der Status im Erwerbsleben in die sozialen Sicherungssysteme hinein verlängert wird. Mit der Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld II greift das Konzept der Bedarfsgemeinschaft, durch das Ansprüche aufgrund der Anrechnung von Partnereinkommen reduziert werden oder entfallen. Dies betrifft überproportional Frauen, da sie angesichts der besseren Erwerbsintegration von Männern wesentlich häufiger auf das Einkommen ihres Partners verwiesen werden.
Hinter scheinbar neutralen Regelungen kann sich außerdem eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts verbergen, ein Beispiel hierfür ist die geschlechterdifferenzierende Vermittlung von Tätigkeiten. Zudem benötigen Berufsrückkehrerinnen Zeit für Orientierung und Qualifizierung, die ihnen nicht eingeräumt wird. Dies alles trägt zu einer Verfestigung der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes bei.
Merkmal ethnische Herkunft
Ein 52-jähriger Handwerksmeister verlor vor zwei Jahren wegen Insolvenz des Betriebes seinen Arbeitsplatz. Er verfügt über langjährige Berufserfahrungen und ist bundesweit umzugsbereit. Auch einem Umzug ins englisch- oder französischsprachige Ausland steht er offen gegenüber, da er viele Jahre in einem Land gelebt hat, in dem beide Sprachen gesprochen werden. Derzeit bewirbt er sich sehr engagiert auf ausgeschriebene Stellen. Bei der Formulierung schriftlicher Bewerbungsunterlagen in deutscher Sprache benötigt er etwas Unterstützung.
Sowohl handwerkliche als auch kaufmännische Fähigkeiten lassen sich weitgehend in VerBIS abbilden, muttersprachliche Kenntnisse jedoch nicht, da sich alle Sprachen außer der deutschen in der Rubrik „Fremdsprachen“ finden. Auffällig an dem Profil des Kunden ist, dass dort ausschließlich sein beruflicher Werdegang in Deutschland dokumentiert ist, obwohl er in einem anderen Land einen (in Deutschland anerkannten) Ausbildungsabschluss und fast zehnjährige Berufspraxis erworben hat. Außerdem wird der Kunde als integrationsfern, als nicht in ein Beschäftigungsverhältnis vermittelbar, eingestuft, da er aufgrund seiner Hautfarbe nicht in Beschäftigungsverhältnisse vermittelt werden könne, die den Kontakt mit KundInnen umfassen.
Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind wesentlich schlechter als die Vergleichsgruppe mit deutschem Pass in den Arbeitsmarkt integriert. In VerBIS hinterlegte Informationen zeigen, dass die Bewertung der Fähigkeiten von KundInnen oftmals in einem Zusammenhang mit deren deutschen Sprachkompetenzen steht. Menschen, die nicht fließend in deutscher Sprache kommunizieren können, werden häufig geringe Fähigkeiten zugetraut, und sie selbst sind nicht ohne weiteres in der Lage, ihre Erfahrungen, Fähigkeiten und beruflichen Ziele zu artikulieren.
Skepsis ist häufig auch gegenüber nicht in Deutschland erworbener Berufspraxis zu beobachten, zudem können Berufserfahrungen von MigrantInnen nur in geringem Umfang mit Hilfe von Qualifizierungsmaßnahmen für den hiesigen Arbeitsmarkt nutzbar gemacht werden, da eine möglichst unmittelbare Arbeitsaufnahme Vorrang hat3. Zur Unterstützung der Zusammenarbeit kann eine DolmetscherIn hinzugezogen werden, in der Praxis scheint davon jedoch selten Gebrauch gemacht zu werden. Auch ein fortgeschrittenes Lebensalter schlägt sich bei der Zuordnung in das Betreuungsstufensystem nieder, für den Zugang zu einigen Eingliederungsleistungen sind sogar Altersgrenzen vorgesehen.
Merkmal Behinderung
Jennifer H. sucht seit zwei Jahren vergeblich einen Ausbildungsplatz. Sie ist lernbehindert und hat eine Förderschule mit hervorragenden Noten abgeschlossen. Um die Zeit bis zum Beginn einer Ausbildung zu überbrücken und Einblicke in verschiedene Berufsfelder zu erhalten, hat sie zahlreiche Praktika absolviert und stellte fest, dass die Bereiche Altenpflege und Hauswirtschaft interessant für sie sind.
Im Rahmen der Praktika erworbene hauswirtschaftliche Fähigkeiten lassen sich recht detailliert in VerBIS abbilden, jedoch nicht der Abschluss der Förderschule. Einzige mögliche Angabe ist „kein Schulabschluss“. Diese KundIn wurde wegen ihrer Behinderung auf die Gruppe der Integrationsfernen verwiesen. In ihrem Profil findet sich zudem kein Vermerk, dass sie als lernbehinderte Ausbildungsuchende Schwerbehinderten gleichgestellt ist. Dies würde den Zugang zu besonderen Fördermöglichkeiten eröffnen, z. B. speziellen Ausbildungsangeboten für lernbehinderte Menschen.
Obgleich der Gesetzgeber die Notwendigkeit der beruflichen (Wieder-) Eingliederung von Menschen mit Behinderungen fortwährend betont, sind in der Praxis spezifische Fördermöglichkeiten wenig bekannt. Insbesondere die Integrationsfachdienste unterstützen behinderte Menschen bei Fragen des Zugangs zum Arbeitsmarkt.
Fazit: Ungenutzte Potenziale und diskriminierende Bewertungen
Die geschilderten Beispiele zeigen, dass umfangreiche Potenziale nicht berücksichtigt werden, obwohl personale, soziale und kulturelle Vielfalt täglich in Argen und Jobcentern zu erleben ist und Irritation erzeugt. Kompetenzen und Erfahrungen Arbeitsuchender werden von FallmanagerInnen, die in einem Spannungsfeld von Kontrolle und individuellem Fallverstehen agieren, unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Für einen individuellen Beratungs- und Integrationsprozess notwendige zeitliche und personelle Ressourcen stehen nicht zur Verfügung, die praktische Umsetzung ist selbst von dem angestrebten Personalschlüssel von 1:75 im Verhältnis von FallmanagerIn zu KundInnen oftmals weit entfernt4. Insofern kann die für den Zugang zu Integrationsleistungen relevante Zuordnung zu einer Betreuungsstufe auch von der Frage nach dem daraus resultierenden Arbeitsaufwand geleitet sein.
Diskriminierende Bewertungen, unzureichende Möglichkeiten des Vermittlungs-, Beratungs- und Informationssystems sowie die strukturell verankerte Möglichkeit der Ungleichbehandlung und Hierarchisierung aufgrund persönlicher Merkmale nehmen nicht nur Einfluss auf den Zugang zu Integrationsleistungen, sondern können auch zur Grundlage (sanktionsbewehrter) Forderungen an KundInnen werden. Strukturen und standardisierte Instrumente zur Umsetzung des SGB II bergen insofern Diskriminierungsrisiken im Hinblick auf die Verteilung von Ressourcen in sich. Ressourcen werden in erheblichem Umfang sogenannten „marktnahen“ KundInnen zur Verfügung gestellt, jene mit erheblichem Unterstützungsbedarf und geringen Chancen am Arbeitsmarkt werden auf ihre individuelle Initiative und Verantwortung verwiesen. Eine konkrete Umsetzung der Selbstverpflichtung zur Wertschätzung und Förderung von Vielfalt, wie sie die Bundesagentur für Arbeit mit der Unterzeichnung der Charta der Vielfalt formuliert hat, zeigt sich im operativen Bereich der Leistungserbringung bislang nicht.
Diversity als Chance für die Arbeitsmarktpolitik
Zielgruppenspezifische, an Defiziten ansetzende arbeitsmarktpolitische Instrumente entfalten bisher häufig keine oder eine geringe Wirkung. Demographischer Wandel, zunehmendes Streben von Frauen nach Erwerbsbeteiligung, ethnisch-kulturelle Vielfalt sowie die „Rente mit 67“ bei gleichzeitiger Klage über zunehmenden Fachkräftemangel erfordern eine Veränderung arbeitsmarktpolitischer Strukturen und Instrumente, auch um erhebliche ökonomische Nachteile zu vermeiden. Der Diversity-Ansatz kann Veränderungspotenziale für den Bereich der Arbeitsmarktpolitik aufzeigen, weil er zielgruppenübergreifend ist. Er öffnet den Blick auf die Vielfalt und Mehrdeutigkeit von Erfahrungen und Kompetenzen aller am System Arbeitsmarkt beteiligter AkteurInnen. Vielfalt im Sinne des Diversity-Konzeptes umfasst die von den EU-Gleichbehandlungsrichtlinien sowie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz 5 geschützten Merkmale. Der Ansatz geht allerdings darüber hinaus, indem er nicht allein auf ein Vermeiden von Ungleichbehandlungen und Hierarchisierungen aufgrund persönlicher Merkmale zielt, sondern auf eine positive Wendung des Antidiskriminierungsauftrages hin zu einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt.
Politik-der-Vielfalt auf dem Arbeitsmarkt
Ein tiefgreifender Wandel von Erwerbsarbeit zeigt sich im Entstehen vielfältiger Arbeits- und Lebensmodelle, das sogenannte Normalarbeitsverhältnis als bisherige Standardnorm von Erwerbstätigkeit hingegen löst sich auf. Mediale Inszenierungen von Arbeitslosen als arbeitsunwillige und in großem Stil missbräuchlich Leistungen nutzende Menschen verweisen Zugehörige dieser Gruppe auf einen Platz in unserer Gesellschaft, der mit geringer Wertschätzung verbunden ist, an uneingeschränkter „Marktfähigkeit“ von Erwerbs-Arbeitskraft orientierte Handlungsstrategien von Argen und Jobcentern sind funktional eine systematische Ausgrenzung von Reproduktionsarbeit und bürgerschaftlichem Engagement.
Verschiedenheit und Komplexität prägen jedoch den Alltag in Argen und Jobcentern, sie sind keine Störung. Eine Arbeitsmarkt-Politik der Vielfalt impliziert deshalb Diversity als Querschnittsaufgabe. Sie richtet ihren Blick sowohl auf differenzierende Unterschiede als auch auf verbindende Gemeinsamkeiten und entfaltet Fragen nach der Wahrnehmung und Bewertung von Unterschieden und die damit verbundenen Praxen des Einschließens und Ausschließens vor dem Hintergrund spezifischer Interessen- und Machtstrukturen. Durch das Bewusst-Machen von Strukturen und Verhaltensmustern schärft eine solche Perspektive das Bewusstsein für die Akzeptanz und Nutzung vielfältiger Potenziale.
Im Prozess des Unterscheidens und Bewertens dient Wahrnehmung zunächst der Orientierung und Strukturierung. Doch vor dem Hintergrund des Zugangs zu Integrationsleistungen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und verstärkter Konkurrenz in einigen Segmenten des Arbeitsmarktes stellt sich die Frage, welche Funktion eine Abgrenzung von KundInnengruppen auch aufgrund persönlicher Merkmale erfüllt. Welche Muster werden in der täglichen Praxis von Argen und Jobcentern kommuniziert und reproduziert, und zur Stabilisierung welcher Positionen und Privilegien trägt dies bei? Zahlreiche Beschäftigte in Argen und Jobcentern sind befristet beschäftigt und befürchten, irgendwann auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz nehmen zu müssen. Unter den jetzigen Umständen impliziert z. B. die Unterscheidung erwerbstätig vs. nicht-erwerbstätig eine bedeutende Bewertung, aber welche Formen von Arbeit sind für unsere Gesellschaft notwendig, und wie können sie gelingend und gestaltet werden?
„Im Diversity-Lernen geht es um das Initiieren von Irritation: Bisherige Verhaltens- und Erlebensweisen werden aus ihrer gewohnten Wahrnehmung gelöst und mit neuen bzw. (…) nicht wahrgenommenen Wirklichkeiten konfrontiert.“6 Die Bundesagentur für Arbeit steht vor einem grundlegenden Paradigmenwechsel, verbunden mit langfristigen Lernprozessen, wenn ihr Bekenntnis zur Wertschätzung, Förderung und Nutzung von Vielfalt und damit zugleich zur Ablehnung von direkter und indirekter Diskriminierung sich auch zu einem prägenden Merkmal der Praxis von Argen und Jobcentern entwickeln soll.
Eine besondere Herausforderung im Hinblick auf die Leistungserbringung wird es sein, die bisherigen Integrationsleistungen in einem zielgruppenübergreifenden Konzept zusammenzuführen, das sich nicht mehr an angenommenen Defiziten der KundInnen orientiert, sondern vielfältige Erfahrungen, Kompetenzen und Ziele berücksichtigt. Ein solcher Ansatz schließt die Frage ein, wem warum welche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die Regionalen Einkaufszentren (REZ) der Bundesagentur für Arbeit müssten konkrete Vorgaben für die Vergabe von Maßnahmen an externe DienstleisterInnen formulieren, damit die Wertschätzung und Förderung von Vielfalt im Rahmen von Weiterbildungen, Trainingsmaßnahmen usw. gewährleistet werden können. Dies gilt auch für das Controlling und die Evaluation der Leistungserbringung. Die Zusammenführung der bisherigen Maßnahmen in einem Diversity-Ansatz kann sowohl die Qualität der Leistungserbringung und die KundInnenzufriedenheit verbessern als auch die Legitimität der Nutzung finanzieller Ressourcen erhöhen, denn die Sozialgesetzgebung sieht nicht vor, dass gesetzlich verankerte Leistungen abhängig von den prognostizierten Chancen der BezieherInnen am Arbeitsmarkt gewährt werden.
Auch in ökonomischer Hinsicht könnte ein zielgruppenübergreifender Ansatz, der sich nicht an Defiziten orientiert, sondern darauf zielt, Potenziale zu erkennen und zu nutzen, positive Wirkungen entfalten. Manche Maßnahme zur „künstlichen“, oftmals unfreiwilligen Beschäftigung Arbeitsloser mit „besonderen Vermittlungshemmnissen“ entfiele beispielsweise dann, Mitnahmeeffekte bei Beschäftigungszuschüssen im Zuge der Einstellung von Menschen trotz bestimmter persönlicher Merkmale wie Alter oder Behinderung ließen sich reduzieren.
All diesen Prozessen müssen zunächst die Formulierung und Kommunikation eines klaren Leitbildes vorangehen, ebenso eine intensive Schulung der FallmanagerInnen und Persönlichen AnsprechpartnerInnen, die sie zur Reflexion und schrittweisen Veränderung ihrer Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster anregt sowie ihre Kommunikationskompetenz erweitert, damit sie in der Zusammenarbeit mit KundInnen einen konstruktiven Umgang mit Unterschieden gewährleisten können.
Bundesverfassungsgericht gibt Anlass zum Lernen
Aktuellen Anlass für die Initiierung von Lernprozessen bietet ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 7, welches die derzeitige Kooperation kommunaler Träger mit der Bundesagentur für Arbeit in Argen und Jobcentern für nicht verfassungskonform erklärt. Das Bundesverfassungsgericht zwingt zum Aufbrechen, bis 2010 muss die Umsetzung des SGB II neu gestaltet werden. Dies berührt Fragen nach den Eigeninteressen der beteiligten AkteurInnen und ist insofern einerseits mit Tatendrang, anderseits mit Spannungen und Konflikten verbunden, wie die derzeitigen Aushandlungsprozesse zwischen Bundesagentur für Arbeit und Kommunen sowie ein aktueller ReferentInnenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales 8 für ein Gesetz zur Neuausrichtung arbeitsmarktpolitischer Instrumente zeigen.
Da bisherige Erfahrungen sowohl in die Gestaltung neuer Kooperationsformen als auch in die strategische Ausrichtung und den operativen Bereich einfließen werden, ist die Evaluation u.a. durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von besonderer Bedeutung. Die größte Gruppe der am System Arbeitsmarkt beteiligten AkteurInnen sind jedoch die KundInnen. Als solche liegt es ihrem Interesse, als ExpertInnen ihrer Lebenslage eine Dienstleistungserbringung aktiv einzufordern9, die sich an ihren vielfältigen und dynamischen Lebens-, Arbeits- und Erwerbsarbeitsmustern orientiert. Ob es eine Bereitschaft der übrigen beteiligten AkteurInnen gibt, Ressourcen in diesem Sinne zu nutzen, ist allerdings fraglich.
Mit der Unterzeichnung der „Charta der Vielfalt“ hat die Bundesagentur für Arbeit zwar ein grundlegendes Bekenntnis zur Wertschätzung von Vielfalt abgelegt, doch dies ist vielen Beschäftigten nicht einmal bekannt. Die vorhandene Organisationskultur zeichnet sich nicht durch Wertschätzung von Unterschieden und Vermeiden von Vorurteilen und Diskriminierungen aus. Noch hat Standardisierung beim Zugang zu Integrationsleistungen Priorität vor Vielfalt, und deshalb stellt sich auch die Frage, warum die Bundesagentur für Arbeit eigentlich diesen Namen trägt und nicht Bundesagentur für Erwerbsarbeit heißt.
Endnoten
1 Nach § 3 SGB II wird der Arbeitsaufnahme und der Beendigung des Leistungsbezugs der unbedingte Vorrang vor anderen Zielen eingeräumt. Nach § 10 Abs.1 SGB II ist jede Arbeit zumutbar. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit haben Vorrang vor Leistungen zum Lebensunterhalt.
2 Siehe hierzu die PowerPoint-Präsentation der Bundesagentur für Arbeit: Profiling und Betreuungsstufen im SGB II. Arbeitshilfe zur fachlichen Unterstützung und Umsetzung in VerBIS, 2007
3 Siehe hierzu Frings, Dorothee: Arbeitsmarktintegration – Chancen und Risiken für Migrantinnen
4 Siehe Ames, Anne: Arbeitssituation und Rollenverständnis der persönlichen Ansprechpartner/innen nach § 14 SGB II, hier zur Projektbeschreibung
5 Siehe dazu Merx, Andreas/Vassilopolou, Joana: Das arbeitsrechtliche AGG und Diversity-Perspektiven, in: Bruchhagen, Verena/Koall, Iris (Hg.): Diversity Outlooks. Managing Diversity zwischen Ethik, Politik und Antidiskriminierung, Münster 2007. Hier zum Beitrag als pdf-Datei (452 KB, 33 Seiten).
6 Siehe hierzu die PowerPoint-Präsentation von Bruchhagen, Verena: Diversity-Lernen: Anforderungen und ZuMutungen im Umgang mit Komplexität, Vortrag vom 12.05.2006 in Wien
7 Arbeitsgemeinschaften gemäß § 44b SGB II widersprechen dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung der Kommunen.
8 Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. hat eine Synopse zu dem kontrovers diskutierten ReferentInnenentwurf erarbeitet.
9 Tacheles e.V. bietet Gesetzestexte, umfassende Informationen zum SGB II sowie ein Diskussionsforum und Vernetzungsmöglichkeiten an.
Karin Schuster ist Politikwissenschaftlerin und Diversity-Beraterin. Sie arbeitet im Bereich Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik.