Integrative Schweiz 2020 und Basler Integrationspolitik: Diversität als Chance für Gesellschaft, Wirtschaft und Natur

Ankunft in der Schweiz – am Züricher Flughafen

 

von Thomas Kessler

Die Schweiz ist ein Land mit einem speziellen Potenzial an Menschen und Natur. Diversität ist das Prägende: Vier Landessprachen, zwei große Konfessionen und eine riesige Vielfalt an kleinen religiösen Gemeinschaften, 3000 weitgehend autonome Gemeinden mit eigenem Brauchtum, mediterrane (im Süden) und arktische Klimazonen (ab 3000 Meter über Meer), starke Immigration seit 1860. Um auch in zwölf Jahren bezüglich Demokratie, Bildung, Wohlstand und Naturschönheit an der Weltspitze zu stehen braucht es jedoch jetzt mutige und weitsichtige politische Entscheidungen. Das menschliche Potenzial muss besser entfaltet und die Natur nachhaltig geschützt werden.

Dazu einige Fakten: Die Schweiz gehört mit Singapur und einigen europäischen Kleinstaaten zu den meistglobalisierten Ländern der Welt; über ein Drittel der Bevölkerung ist aus insgesamt 196 Ländern eingewandert oder stammt direkt von einem eingewanderten Elternteil ab, ein Grossteil der Wirtschaft ist exportorientiert. Was auf den ersten Blick verwundern mag, ist eine logische Folge unserer wirtschaftlichen Spitzenposition und des Zusammenwachsens der Agglomerationen zu einer Metropole mit 7,6 Millionen Einwohnern, - eng vernetzt mit den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und den S- und Autobahnen. Unsere asiatischen Gäste staunen jeweils über die kurzen Fahrtzeiten von nur 55 Minuten zwischen den Quartieren (die Bern, Luzern, Zürich oder Basel heißen) und vor allem über die grosszügigen Grünflächen dazwischen - extra bestückt mit Bauernhöfen für die TouristInnen...

Wir stehen mit unserer Exportindustrie und Dienstleistungen in Konkurrenz zu anderen Stadtstaaten und Metropolen - mit London, Shanghai, Boston oder eben Singapur. Aufstrebende Regionen mit junger und hochmotivierter Bevölkerung in Ostasien und Amerika fordern uns zu großen politischen und wirtschaftlichen Innovationen heraus, wenn wir den hohen Lebensstandard an die nächste Generation weitergeben wollen. Dazu müssen wir das große Potenzial an kultureller Vielfalt im Inland besser nutzen und insgesamt fitter werden, ansonsten fallen wir im globalen Konkurrenzkampf zurück und verlieren Arbeitsplätze, Wohlstand und Integrationskraft.

Die Gestaltung der Vielfalt - Doch wie schaffen wir das rechtzeitig, ohne Übungen aus Not?

Die Ausgangslage der Schweiz ist luxuriös, die Wirtschaft boomt und die gesellschaftlichen Probleme sind im internationalen Vergleich klein. Ein kritischer Blick auf die Nutzung der beiden bereits genannten großen Ressourcen unseres kleinen Landes - das große Potenzial an jungen Leuten mit kultureller Vielfalt und die ebenfalls vielfältige Schönheit der Natur - zeigt aber, wo im Hinblick auf die Zukunft dringender Handlungsbedarf besteht. Die Verjüngung der alternden Einheimischen-Gesellschaft wird stark durch Immigration geprägt, die rund 1,6 Millionen AusländerInnen aus 196 Ländern sind mehrheitlich in der ersten Lebenshälfte, die 6 Millionen Schweizerinnen und Schweizer aus 26 Kantonen in der zweiten.

In den Städten ist fast jede zweite Ehe binational, die Hälfte aller Kinder haben mindestens einen ausländischen Elternteil. Aber zu viele scheitern auf dem Bildungsweg, zwei Fünftel der Migrationsbevölkerung haben keine Berufsausbildung, ebenso ein Fünftel der Schweizerinnen und Schweizer. Der lebenslange Misserfolg wird oft schon in den ersten drei Lebensjahren festgelegt; fehlende Förderung im Kleinkindesalter, falsche Ernährung und fehlende Prophylaxe prägen für das ganze Leben. Integrationsdefizite der bildungsfernen Eltern werden vererbt, junge MigrantInnen ohne Perspektiven und überforderte junge SchweizerInnen füllen die Problemstatistiken auf der Symptomebene - im Therapie-, Justiz- und Sozialbereich.

Politische und rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten

Das muss nicht sein, mit einer auf tatsächlichen Chancengleichheit ausgerichteten Familien- und Frühförderpolitik starten auch Kinder aus bildungsfernen Familien mit intakten Chancen in die Bildungskarriere, zudem erhöhen Investitionen in familienergänzende Betreuungsstrukturen sowohl das Bildungsniveau der Kinder (aus allen gesellschaftlichen Schichten) wie auch die Erwerbsquote und die Kinderzahl der Frauen, so dass sowohl die Gesellschaft und die Wirtschaft und ebenso der Staat (über höhere Steuereinnahmen) profitieren. Mit einer proaktiven Familien-, Frühförder- und Integrationspolitik nach dem in Basel erfolgreichen Prinzip "verbindlich fördern und fordern ab dem erstem Tag" entfalten wir das Potenzial unserer vielfältigen Jugend optimal und schaffen mit hohem Bildungs- und Sozialkapital Chancen auf dem stetig anspruchsvolleren Arbeitsmarkt. Diese Kombination von Maßnahmen zur Potenzialentfaltung muss im Sinne der aktuellen Motion (verbindlicher parlamentarischer Vorstoß) von Fritz Schiesser (FDP, Alt-Ständerat des Kantons Glarus und jetzt Präsident des ETH-Rates, Rat der Eidgenössischen Technischen Hochschulen) für eine moderne und systematische Integrationspolitik möglichst bald in einem zukunftsweisenden nationalen Integrationsgesetz klar geregelt werden.

Als Vorbild für seinen Vorstoß diente Fritz Schiesser das neue Basler Integrationsgesetz, das die Prinzipien Fördern und Fordern mit tatsächlicher Chancengleichheit, Antidiskriminierung und fortlaufender Optimierung des Integrationssystems verbindet. Eine solche Politik muss in eine kohärente Migrations- und Integrationsstrategie eingebettet sein, die die Steuerung der Migration (mit einer intelligenten Kombination der Modelle Schweiz - Kanada) und die erfolgreiche Integration der Zuziehenden als prioritäre Faktoren der gesamten Landesentwicklung bezüglich Bildung, Forschung, Produktion, Gesellschaft, Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit anerkennt. Dementsprechend sollen die Integrationsziele zeitlich (rascher Erfolg) und sozial (tatsächliche Chancengleichheit auf hohem Niveau) ambitiös ausgestaltet werden, der Bund dazu Kompetenzen zur wirkungsvollen Steuerung erhalten und die Kantone für den Vollzug bedarfsgerecht mit jährlich CHF 100 Millionen unterstützt werden.

Biodiversity, Hightech, Toleranz – die vielfältige Zukunft gestalten

Die Entwicklung des Arbeitsmarktes wiederum hängt von unserer Position im globalen Wettbewerb ab. Das angestrebte hohe Bildungsniveau wird nur in Kombination mit Forschung, Produktion, Entwicklung und Vermarktung produktiv. Auch hier ist die Ausgangslage der Schweiz dank den Leistungen der innovativen Kleinbetriebe, der großen Dienstleister und der Pharma-, Nano- und Biotechnologie-Branchen noch luxuriös, aber bereits zeichnet sich ein Wegschmelzen des Vorsprungs ab. Neben dem notwendigen Produktivitätszuwachs und den fortlaufenden Verbesserungen im Kunden-Service sind saubere Luft und Gewässer, hohe Trinkwasserqualität, ausreichend gesunde Nahrung, Unabhängigkeit von Fossilenergie und halbierter CO2-Ausstoss Ziele des globalen Wettbewerbs - vorab im zukunftsträchtigen Nahrungsmittel-, Umwelt- und Energiebereich. Mit maximaler Energieeffizienz und nachhaltiger Nutzungs-Politik soll der Energieverbrauch pro Kopf auf 2000 Watt und der CO2-Ausstoss auf 1 Tonne gesenkt werden.

Während die Schweizer Bundespolitik (noch) nicht den Mut hat, jetzt jene ökologischen Maximal-Standards verbindlich einzuführen, die bereits auf dem Markt sind, werden in den Golfstaaten, in China und in den USA große ökologische Forschungszentren und CO2-neutrale Musterstädte für die Zukunft gebaut. Die Metropole Schweiz darf diesen Wettbewerb nicht verschlafen und muss mit globalen Spitzenstandards und einer Investitionsoffensive in modernste Energie- und Umwelttechnologien wieder - wie in den 1980er-Jahren - einen Platz in der obersten Liga einnehmen.

Davon profitiert in erster Linie die Bauwirtschaft; die notwendige Sanierung der älteren Liegenschaften löst zusammen mit der Umrüstung auf erneuerbare Energien einen Investitionsboom aus und lässt die über 20 Milliarden Franken, die wir jährlich für Öl in politisch zweifelhafte Länder schicken, im eigenen Land produktiv werden. Zudem ist der weitere Konsum von Landressourcen für Einfamilienhäuser raumplanerisch und mit der Attraktivitätssteigerung des Wohnens in Städten zu stoppen, die Schönheit des Landes geht sonst verloren. Ähnliches gilt für das internationale Engagement, im Austausch mit armen Ländern stehen Gerechter Handel, Bildung für alle und Schonung der verbleibenden Wald- und Fischbestände im Vordergrund.

Die Energiefrage fordert uns generell zu Pioniertaten heraus. Wasser, Holz, Bioabfälle, Wind und Erwärme sind landeseigene Energieträger, die Nutzung der Sonneneinstrahlung steckt gemessen am Potenzial in den Kinderschuhen. Die nutzbare verbaute Fläche entspricht einem mittleren Kanton, in Verbindung mit modernsten Nutzungs-Technologien und Minergie-Standards liesse sich mit einheimischer Energie die gesamte Heizungsenergie gewinnen und erst noch ein Beitrag an die Elektrizitätsversorgung. Wieso hier nicht mit mutigen Vorgaben und einem Investitionsplan Massstäbe setzen und einen internationalen Spitzenplatz erarbeiten? Die vielfältige Jugend braucht gemeinsame Ziele und intakte Berufsperspektiven.

Der Schutz von Diversität ist eine Frage der Zukunftssicherung

Noch etwas für Herz und Kopf: Pioniertaten braucht es auch zum Schutz unserer glanzvollen Gletscher - quasi die strategische Trink- und Nutzwasser-Reserve Europas. Die Realisierung der "2000-Watt"- und "1-Tonnen-CO"-Gesellschaft im Inland ist das eine, der Schutz vor dem Abschmelzen in den Sommermonaten mittels neuer, noch zu entwickelnden feinen, kaum sichtbaren Folien (oder Schaum) das andere. Dies kann als Kosmetik kritisiert werden, ist aber wenigstens zur teilweisen Sicherung der Wasserreserven (und für einen energie-effizienteren Skitourismus) notwendig.

Mit einer weitsichtigen Politik nach dem Potenzialansatz - mit systematischer Familienunterstützung, Frühförderung und proaktiver Integration, und mit einer innovativen Umwelt- und Energiepolitik schaffen wir in Kombination von hoher Bildung, Forschung und Vermarktung eine Schweiz, die 2020 einen soliden Wohlstand und eine geschonte Natur an die nächste, von Diversität geprägten Generation weitergeben kann. Damit leistet sie in ihren engen Grenzen ihren konstruktiven Beitrag an die globale Entwicklung.

 

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Thomas Kessler ist Delegierter für Migrations- und Integrationsfragen des Kantons Basel-Stadt und Leiter der kantonalen Stelle für Integration und Antidiskriminierung.