Bei dem folgenden Text handelt es sich um den gleichnamigen Vortrag, den Jane Schuch auf der Tagung “Bildungsaufbruch! Handlungsstrategien zur gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland“ gehalten hat. Diese Tagung wurde von der RAA Berlin, RomnoKher und Madhouse am 7. Oktober 2014 in Berlin, in der Werkstatt der Kulturen, veranstaltet.
„Bildungsaufbruch!“ Lautet das Motto dieser Tagung und die Thematik lautet „Handlungsstrategien zur gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland“. Nun ist die Frage, was hat dies alles mit der Thematik meines Vortrages, mit „Antiziganismus als Bildungsbarriere“ zu tun? Die Antwort darauf beginnt schon mit dem Motto der Tagung, das an sich als eine Antwort auf ein tradiertes stereotypisiertes und auch rassistisch konnotiertes Klischee lesbar ist: Sinti und Roma als bildungsferne, gar bildungsablehnende oder gar nicht bildbare Menschen. Dieser Blick der Mehrheit zieht sich durch die Jahrhunderte hindurch und wurde immer wieder neu ausgelotet, wobei der Fixpunkt nie die Idee der Selbstermächtigung durch Bildung für die Angehörigen der Minderheit war, sondern die Frage ihrer gesellschaftlichen Assimilation bzw. Integration durch Erziehung. Dabei waren Roma und Sinti als fremd und anders markierte Menschen im europäischen Raum nie gleichberechtigt einbezogen in diese Diskussionen, sondern vielmehr gewaltvollen Maßnahmen ausgesetzt, wie die Einweisung in Arbeitshäuser oder die Wegnahme ihrer Kinder und deren Zwangsbildung in staatlichen Institutionen. In der Zeit des Nationalsozialismus fand dann die staatlich sanktionierte Exklusion von Sinti und Roma aus dem Schulsystem statt, bis hin zu der Tatsache, dass die Kinder direkt aus der Schule heraus abgeholt und in die Todeslager deportiert wurden. „Bildungsaufbruch!“ ist der von der Minderheit selbst gewählte Slogan, der sich dieser Exklusion bzw. nie erfolgten wirklichen Inklusion in mehrheitliche Bildungskontexte entgegenstellt und darauf beharrt, gleichberechtigte Bildungschancen einzufordern, da nur so eine wirkliche Teilhabe an der „Bildungsgesellschaft“ möglich ist.
Wieso stelle ich nunmehr den spezifischen und historisch tradierten Rassismus gegen Sinti und Roma, den Antiziganismus, in den Mittelpunkt meiner Überlegungen zur Bildungsbeteiligung und wieso behaupte ich dazu noch, dass dieser eine Bildungsbarriere für Sinti und Roma darstellt? Es gäbe eine ganze Reihe von Aspekten, die diese Verbindung argumentativ stützen könnten. Ich werde heute aber nur zwei Bildungsbedingungen für Sinti und Roma herausgreifen, um meine Behauptung zu untermauern. Das ist zum einen die Gegebenheit familiärer und kollektiver Traumatisierungen aufgrund des Genozids an den europäischen Roma und Sinti und zum anderen die Tatsache, dass Schule in Deutschland immer noch kein diskriminierungs- und rassismussensibler/-kritischer Raum ist. Für beides behaupte ich konkrete Auswirkungen auf die Bildungsbedingungen von Sinti und Roma hinsichtlich des Erwerbs von Zertifikaten an Bildungsinstitutionen – an erster Stelle natürlich die allgemeine Schulbildung. Das eine richtet sich in seiner Perspektive eher auf die Bedingungen innerhalb der Minderheit, das andere auf die Mehrheit.
Voranstellen möchte ich, dass es bisher in Deutschland so gut wie keine fundierte und auf Partizipation ausgerichtete Bildungsforschung zu dieser Thematik gibt. Zum Antiziganismus gibt es einige Untersuchungen und Studien, die aber mehrheitlich ohne Einbezug der Minderheitenperspektive arbeiten und sich eher am mehrheitlichen Mainstream hinsichtlich rassistischer Praktiken abarbeiten. Dies gilt schon für den Begriff „Antiziganismus“, der als Parallelbegriff zum Antisemitismus sicher sein Aufklärungspotential hat, jedoch in einigen Sinti-und-Roma-Communities aufgrund des Wortteils „Ziganismus“ auch kritisch diskutiert wird. Ich selbst halte den Erklärungsaspekt für gewichtig, respektiere jedoch auch die kritischen Stimmen und plädiere daher für einen breiten Diskurs, der auch minorisierte Perspektiven zu Wort kommen lässt. Im Weiteren werde ich verschiedene Begrifflichkeiten für die Formen, Mechanismen und Deutungsmuster der Ablehnung/Abwertung von, Feindseligkeit gegen und gewalttätigen Übergriffe auf unsere Menschen verwenden.
Individuelle und familiäre Traumatisierungen als Bildungsbarriere
Nun zu meinem Blick auf die familiären Traumatisierungen als Bildungsbedingungen der Minderheit selbst. Das individuelle und familiäre Leid, körperlich und psychisch, das aus Verfolgung, Deportation, Folter und Mord in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden ist, können wir als individuelle und familiäre Traumatisierung fassen. Für ganze Gruppen, die von diesen Erfahrungen betroffen sind, gibt es den Begriff der kollektiven Traumatisierung. Beides ist nicht ganz unumstritten, zumal es in den letzten Jahrzehnten geradezu einen inflationären Gebrauch davon gab sowie Forschungen, die eine Traumatisierung von Täter-und-Opfer-Gruppen gleichermaßen annehmen und z.T. dazu tendieren, die Traumatisierungserfahrungen beider Gruppen zu nivellieren. Ich verwende in Bezug auf Sinti und Roma trotzdem ganz bewusst den Traumatisierungsbegriff und werde auf die individuelle Traumatisierung und deren intergenerationelle Transmission eingehen. Das Thema der kollektiven Traumatisierung, das ohne Zweifel für die Minderheiten der europäischen Roma und Sinti von großer Relevanz ist, spare ich heute aus.
Im Bereich der Traumaforschung zum Genozid an den jüdischen Menschen gibt es eine breite und ausgefächerte Forschung, die vor allem mit dem Posttraumatischen Belastungssyndrom arbeitet und solche Symptome auch für die zweite Generation der Überlebenden feststellen konnte, die oftmals das Leiden ihrer Eltern teilen. Dabei ist die Rede von Depressionen, Angststörungen, Störungen der Emotionalität, übermäßiger Trauer etc.[1] Die Konzentration auf das klinische Krankheitsbild befindet sich allerdings zunehmend in der Kritik. Nunmehr gibt es eine Abkehr von Verallgemeinerungen und automatisierter klinischer Pathologisierung und eine Hinwendung zur Anerkennung der Widerstandskraft Überlebender und der individuellen verkörperten Erfahrungen im Familienkontext, wie z.B. das Bereitstellen eines Koffers für eine schnelle Flucht und Ähnlichem, die nicht zwangsläufig pathologischen Charakter tragen müssen, auch wenn etwa in der nachfolgenden Generation und in Friedenszeiten ein Fluchtkoffer unausgesprochen bereitgehalten wird. Gleichwohl haben sich damit die Gewalterfahrungen einzelner Familienmitglieder in die Familie eingeschrieben und gleichwohl gibt es die manifesten Folgen dieser Erfahrungen.[2]
In Bezug auf die gewaltvollen Erfahrungen von Sinti und Roma während des Genozids und deren Verarbeitung, auch in den Folgegenerationen, sind wir noch weit entfernt von jeglichen Disputen solcher Art. Es gibt noch nicht einmal den Anfang einer Forschung in dieser Richtung[3], dennoch existieren die Erfahrungen in den Familien und mit großer Sicherheit sehr viele Menschen mit psychischen und/oder körperlichen Belastungen, auch in der zweiten Generation. Die gemachten Erfahrungen tragen sich in alle weiteren Generationen fort, zumal es gerade für die deutschen Sinti und Roma Faktoren gibt, die das Fortleben von Trauma, ob verkörperte Erfahrung oder klinische Symptomatik, bedingen. Dazu zähle ich die Tatsache, dass die deutschen Sinti und Roma aus den Konzentrationslagern in das Land zurückkehren mussten, das lange keine deutliche Abkehr von nationalsozialistischer Täterschaft vornahm – zumindest ist dies für die Bundesrepublik Deutschland so zu behaupten. Insbesondere gab es keine Abkehr von und Verurteilung der Täter und Täterinnen, die sich am Genozid an den europäischen Sinti und Roma schuldig gemacht haben. Die Traumaforschung weiß, dass gerade für die Überwindung eines Traumas nicht unbedingt die Schwere und das Ausmaß der erlebten Gewalterfahrung ausschlaggebend sein muss, auch nicht unbedingt die Art und Weise der therapeutischen Intervention, sondern vor allem die Lebensbedingungen danach[4]. Und hier sind für die in Deutschland lebenden Sinti und Roma gleich mehrere erschwerende Bedingungen auszumachen: Sie kamen in das Land der Täter zurück, das sich bis in die 1980er Jahre überhaupt weigerte, einen Genozid anzuerkennen und mit allen Mitteln versuchte, die finanzielle Wiedergutmachung zu verhindern – also noch bis in die 1980er Jahre hinein finanzielle und politische Entschädigung verweigerte. Romani Rose spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Zweiten Verfolgung“. Individuell besonders drastisch erfahrbar, wenn einzelne Opfer den Tätern und Täterinnen in Amt und Würden auch nach dem 8. Mai 1945 persönlich wiederbegegneten.
Rosa Mettbach berichtet: „Ich wurde 1940 in Wien im Alter von 16 Jahren mit der gesamten Familie festgenommen und in das als „Zigeunerlager“ eingerichtete Konzentrationslager Lackenbach im Burgenland gesperrt. Nach einem dreiviertel Jahr wurden wir alle nach Litzmannstadt deportiert, wo meine Mutter und Geschwister ermordet wurden. Ich konnte vom Transport fliehen und mit falschen Personalien trotz mehrfacher Kontrollen und vorübergehenden Festnahmen mich unerkannt in der Illegalität durchschlagen. Im Februar 1944 wurde ich jedoch von Himmlers „Zigeunerleitstelle“ in München von dem Kriminalbeamten August Wutz verhaftet und einen Monat später von Wutz persönlich auf den Transport ins „Zigeunerlager“ des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau gebracht. (…) 1947 stellte ich in München Anträge auf Wiedergutmachung. (…) Genau sieben Jahre später, im Juli 1954, schrieb die Abteilung des Bayerischen Landesentschädigungsamt: ‚Eine rassische Verfolgung der Mettbach kann keinesfalls bejaht werden. Sie ist vielmehr als asoziale, wenn nicht gar kriminelle Zigeunerin zu bezeichnen. Ihre Einweisung in ein KZ-Lager wurde ihr wegen ihrer Wahrsagereien und Gauklereien wiederholt angedroht. Sie hätte es zum damaligen Zeitpunkt auch in der Hand gehabt, durch entsprechendes Verhalten eine Einweisung zu vermeiden. (Geyer) Krim. Insp.‘ Als mein Rechtsanwalt gegen die Ablehnung bei Gericht klagte, erschienen dort die vom Bayerischen Landesentschädigungsamt und vom Gericht bestellten Gutachter August Wutz, der mich nach Auschwitz gebracht hatte, und der Kriminalinspektor Geyer. Das Gericht lehnte meine Wiedergutmachung für Schaden an Körper und Gesundheit und Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen und sogar Haftentschädigung und Soforthilfe ab. Ich hätte, so das Amt und Gericht, als ‚reinrassige Sintezigeunerin‘ nach Himmlers Willen nicht nach Auschwitz kommen dürfen. Daß ich trotzdem dort gewesen sei, sei der Beleg für meine ‚Asozialität und Kriminalität‘. [5]
Die gesamtgesellschaftliche Atmosphäre als auch konkretes individuelles Erleben sorgten dafür, dass Traumata individuell, familiär und in den Communities erhalten blieben bzw. wenig Möglichkeiten zu deren Heilung oder Milderung vorhanden waren. Meine These ist, dass sich diese Verarbeitungsmöglichkeiten nur noch in den Familien selbst, sofern diese noch vorhanden waren oder in einer neu gegründeten Familie, auftaten und die Familie somit zum einzigen Schutzort wurde, in dem Überleben möglich war. Nicht ohne Zufall wurden in der von Daniel Strauß herausgegebenen „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ von 2011 auch die individuellen und familiären Erfahrungen und Umgangsformen mit der Zeit des Nationalsozialismus erfragt[6]. Doch diese Ergebnisse wurden bisher kaum beachtet/rezipiert, obwohl sie nach meinem Dafürhalten indirekte und direkte Links zur Bildungsteilhabe von Sinti und Roma in Deutschland enthalten.
Ich möchte diese nunmehr akzentuiert vortragen, um dann meine These von den durch massenhafte Verfolgung, Folter und Mord entstandenen Traumata und deren generationelle Weitergabe als Bildungsbarriere zu entfalten.
Traumata in biographischen Interviews
In diesem Modellprojekt wurden 270 Menschen nach dem Schneeballprinzip ausgewählt und durch dafür qualifizierte Interviewer/innen, die selbst auch aus der Minderheit der deutschen Sinti und Roma kommen, zu verschiedenen Themen befragt bzw. zum biographischen Erzählen angeregt. Ausnahmslos alle Befragten waren direkt oder familiär vom Holocaust betroffen. In Hinblick auf den Genozid sind Überlebende und Menschen aus drei Folgegenerationen befragt worden. Es wurden 30 Interviews, die die Grundgesamtheit in allen Kriterien widerspiegeln, für eine qualitative Auswertung ausgewählt, an der u.a. ich beteiligt war. Die Ergebnisse der qualitativen inhaltsanalytischen Auswertung dieser Interviews waren in Hinblick auf die Folgen des Genozids für mich erschütternd. Die Verfolgung und Ermordung der Familienmitglieder sind bei mehr als zwei Drittel der Befragten gegenwärtig. Bei einem Teil werden die Geschichten nicht konkret erzählt, das Thema ist aber trotzdem präsent; wenn beispielsweise eine junge Romni ihren unbedingten Bildungswillen damit begründet, dass sie die Argumente der so genannten NS-Rasseforschung entkräften will. Bei einem anderen Teil werden die Geschichten wöchentlich erzählt und gehören somit zum familiären Alltag. Unter den 30 Befragten gab es vier, die selbst Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung waren. Bei diesen wird eine anhaltende und starke Traumatisierung erkennbar. Beispielsweise mussten alle Gespräche aufgrund der emotionalen Überwältigung unterbrochen oder ganz abgebrochen werden. Zwei Befragte betonen immer wieder, dass ihre Erzählungen der Wahrheit entsprechen würden. Eine ältere Frau, die Flucht und mehrere Konzentrationslager überlebt hat, begrüßt die Errichtung des Mahnmals in Berlin sehr, denkt jedoch, dass dies die Mitglieder der Minderheit selbst finanzieren müssten, und bedauert, kein Geld geben zu können. Zwei sehr konkrete Beispiele für diese Traumatisierungen und deren familiäre Weitergabe bzw. Verinnerlichungen und Verkörperungen aus der Todeswelt möchte ich noch nennen. Zwei der Überlebenden berichten, dass sie sich immer wieder Dokumentationen im Fernsehen anschauen, ja fast zwangsläufig anschauen müssten, um möglicherweise ermordete und/oder vermisste Angehörige zu entdecken. Und einige Befragte berichten, dass ihre Großeltern/Eltern Romanes sprechen/sprachen, es aber nach der NS-Zeit nicht an ihre Kinder und Enkel weitergegeben haben, aus Angst, diese könnten durch das Sprechen einer anderen Sprache als Deutsch mehr auffallen und letztlich als Sinti/Roma identifiziert werden und weiteren Verfolgungen ausgesetzt sein. Genauso evident und in einem ganz direkten Zusammenhang mit dem Zugang zu Bildungsinstitutionen heute ist der Befund, dass mehrfach starke Ängste und Vorbehalte innerhalb der Familie im Zusammenhang mit dem Schulbesuch der Befragten oder ihrer Eltern und Großeltern geäußert wurden. Diese Ängste ziehen sich unterschiedslos durch alle Generationen.
„Ja, aber ich hatte mit meiner Mutter eine enge Bindung und das hatte aber damit zu tun, weil meine Mutter bis 1945 verfolgt wurde. Und deswegen war kein Vertrauen da, dem Deutschen gegenüber und deshalb hat meine Mutter mich auch nicht in den Kindergarten geschickt, schon deshalb. Also praktisch zu sagen, sie hat mich nicht losgelassen. Sie hatte Angst von damals und die Angst hat sich auch auf mich übertragen. (...) Bin mit sieben Jahren eingeschult worden. Hatte aber Probleme, alleine in der Schule zu bleiben. Ich hatte Angst und deshalb musste meine Mutter mit in der Schule bleiben. Wurde ihr aber auch genehmigt, und sie durfte in der Klasse hinten in der letzten Reihe mit sitzen. Ist vom Direktor genehmigt worden. Das hat sich dann nachher etwas gelegt, aber ich musste meine Mutter immer sehen, und dann hat sie sich später unten auf dem Hof hingesetzt und mir wurde dann genehmigt, dass ich ab und zu mal aus dem Fenster gucken kann, um zu sehen, dass sie noch da ist. Bis sich das ganz gelegt hat und dann war’s okay.“[7]
Aus traumtheoretischen Überlegungen heraus würde ich an dieser Stelle diesen Befund noch stark ausweiten und behaupten, dass in sehr vielen, wenn nicht der Mehrheit der Sinti- oder Roma-Familien in Deutschland, aufgrund der unbewusst oder bewusst weitergegebenen Traumaerfahrungen, die auf die Zeit des Nationalsozialismus gründen, starke Ängste und Sorgen um die eigenen Kinder bestehen, wenn sie den geschützten Raum der Familie verlassen müssen. Und diese Sorge spiegelt sich wiederum in den ausgrenzenden, stigmatisierenden und auch gewaltvollen Erfahrungen, die die Eltern entweder selbst in ihrer Schulzeit machen mussten oder die ihre Kinder selber erfahren. Und damit bin ich bei der zweiten Perspektive, die sich mit der ersten verschränkt. (Heute allerdings von mir aus Zeitgründen stark akzentuiert dargelegt wird.)
Schule als unsicherer Ort
Die erwähnte „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ hat sehr deutlich gezeigt, dass Schule immer noch kein sicherer Ort für Roma- oder Sinti-Kinder ist. Die Befragten berichten von diskriminierenden Äußerungen und Handlungen durch Teile der Schülerschaft, die von „Neben einem Zigeuner möchte ich nicht sitzen“ bis hin zu „man hat vergessen, dich zu vergasen“ reichen. Die Lehrerschaft scheint hier selten professionell einzuschreiten. Jedenfalls wurde nur vereinzelt von einer solchen Intervention berichtet. Noch viel schwerer wiegt, dass sogar einzelne Lehrer und Lehrerinnen diskriminierend agieren. Die befragten Sinti und Roma berichten von Andersbehandlung, ungerechter Notengebung, entmutigenden Aussagen, wie „Du bist Zigeuner, du bist nichts wert, aus dir wird sowieso nichts“ bis hin zu Äußerungen wie, „Der Hitler hat schon Recht getan an euch“. Auch hier sind keine einschneidenden Konsequenzen für die betreffenden Lehrpersonen bekannt. Dieser offene Antiziganismus in der Schule, so zeigt es diese Studie, wird zunehmend ergänzt mit subtileren Formen der Diskriminierung, die viel weniger greifbar sind und von den Befragten verbalisiert wurden als Gefühle der Ablehnung, Andersbehandlung oder der Ignoranz. Vielfach wird der Schul- oder Ausbildungsabbruch nachvollziehbar mit diesen Diskriminierungserfahrungen begründet. Die von mir heute rezipierte Studie ist fokussiert auf die politisch anerkannte Nationale Minderheit der Deutschen Sinti und Roma. Es gibt leider starke Gründe anzunehmen, dass die Befunde für alle anderen Sinti- oder Roma-Gruppen auch gelten. Insgesamt wäre es an der Zeit, dass es eine an Partizipation ausgerichtete und an die strikte Einhaltung von forschungsethischen Standards gebundene Bildungsforschung dazu gibt.
Handlungsstrategien zur gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland
Die einschlägige Literatur und Forschung zum Thema Diskriminierung und Bildungserfolg benennt sehr deutlich, dass ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu „ihrer“ Schule bei Schülerinnen und Schülern positive Effekte auf Lernmotivation, allgemeines Wohlergehen, Leistung und somit Bildungserfolg haben. Erfahrene Diskriminierung hingegen senkt die Identifikationsmöglichkeiten und beeinträchtigt das Selbstwertgefühl der Betroffenen in erheblichem Ausmaße. [8] Ängste, die wie hier geschildert, ihren Ursprung in der Weitergabe familiärer Traumatisierungserfahrungen haben, beeinträchtigen ebenfalls die Möglichkeiten von Kindern und ihren Familien sich auf den Raum Schule und sein Umfeld einzulassen. Vor allem dann, wenn sie nicht ernstgenommen werden und die Familien pauschal als „bildungsunwillig“ bezeichnet werden. Und dann schließt sich wieder der Kreis von rassistischer Ausgrenzung, Gewalt, traumatisierendem Leid und Wiederholung dieser Erfahrungen – Differenzen von gesamtgesellschaftlichen Orientierungen und Klima werden für die Menschen in diesen Konstellationen kaum wahrnehmbar. Und deshalb brauchen wir „Handlungsstrategien zur gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland“, die gerade auch die Formen und Strukturen von antiziganistischer Ausgrenzung, Stigmatisierung und Gewalt und deren gesellschaftlichen Folgen, reflektieren und sie zu verändern suchen.
[1] Z.B. sehr eindrücklich nachzulesen bei Ilany Kogan „Der stumme Schrei der Kinder. Die zweite Generation der Holocaust-Opfer“ erschienen 2009, Gießen (englische Erstausgabe 1995).
[2] Hierzu siehe die Arbeiten von Carol A. Kidron, z.B. „Verkörperte Präsenz statt Psychopathologie - Eine Dekonstruktion der transgenerationellen Weitergabe des Überlebenden-Syndroms“ in „Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas“ herausgegeben von J. Brunner and N. Zajde, Göttingen 2011, S. 30-57 sowie “Embodied Legacies of Genocide: Holocaust Descendant Sensual Memories of Inter-subjectivity and Inter-corporeality.” in “Companion to Anthropology of Bodies/Embodiment.” herausgegeben von Fran Mascia Lees, Wiley Blackwell 2011, S. 451-466.
[3] Einzige mir bekannte Ausnahme bildet die Studie von Heike Krokowski in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti e.V. „Die Last der Vergangenheit. Auswirkungen nationalsozialistischer Verfolgung auf deutsche Sinti, erschienen Frankfurt/New York 2001.
[4] Dazu u.a. Natan Kellermann „Holocaust Trauma – Psychological Effects and Treatment“. New York 2009.
[5] Rosa Mettbach in Rose, Romani: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland. Hrsg. vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg 1987. S. 67-69
[6] Vgl. Strauß, Daniel (Hrsg.) „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Dokumentation und Forschungsbericht, Marburg 2011.
[7] K.L. (Sintizza, 62 Jahre, in der DDR aufgewachsen, Abschluss 8. Klasse, in den 1970er Jahren Übersiedlung in die BRD) in Uta Rüchel/Jane Schuch: „Bildungswege deutscher Sinti und Roma“ in „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma Dokumentation und Forschungsbericht“, herausgegeben von Daniel Strauß, Marburg 2011, S. 57.
[8] Siehe dazu zusammenfassend „Bildungsforschung Band 19: Schulerfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im internationalen Vergleich“ herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006.