Die Zivilgesellschaft organisierte sich schnell und effektiv, als die ersten Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland ankamen. Viele Unterstützungsstrukturen, die sich 2015/16 gebildet hatten, wurden reaktiviert. Klar ist aber auch: Die Zivilgesellschaft kann und sollte nicht die Aufgaben des Staates übernehmen. Christian Jakob berichtet von solidarischen Initiativen, kooperativen Ansätzen und bestehenden Herausforderungen in den Städten und Kommunen.
Seit Jahrzehnten suchten nicht mehr so viele Menschen in so kurzer Zeit Schutz in Deutschland, wie nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Hunderttausende brauchen Aufnahme, Versorgung, womöglich eine langfristige Perspektive. Vieles an der aktuellen Fluchtsituation ist anders als 2015/2016, als Menschen über die Balkanroute nach Deutschland kamen. Und doch können Zivilgesellschaft und Staat auf den Erfahrungen aufbauen, die Kommunen, alte und neue Beratungsstellen, Tausende Gruppen und Hunderttausende Freiwillige damals sammelten.
Wie nach einem Winterschlaf finden sich viele von ihnen in diesen Monaten erneut zusammen. Sie reaktivieren Kontakte, Räumlichkeiten, Netzwerke. Was 2015 spontan entstand, baut heute vielfach auf Bestehendem aus dieser Zeit auf. Das Gute daran ist, dass die Ankommenden leicht private Kontakte knüpfen können. Doch klar ist auch: 2015/2016 mussten Freiwillige vieles von dem leisten, was Aufgabe des Staates gewesen wäre. Das darf diesmal nicht wieder so sein.
Ausreichende Finanzierung: Unterstützung der Kommunen
Eine der wohl wichtigsten Voraussetzungen dafür ist eine ausreichende Finanzierung, vor allem für die Kommunen, die die Aufnahme letztlich umsetzen müssen. Sie hatten verlangt, dass Bund und Länder sie „vollumfänglich“ entlasten – anders als bei Asylsuchenden also die gesamten Kosten der Aufnahme übernehmen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit Ausgaben von ungefähr 1.000 bis 1.500 Euro pro aufgenommene:r Ukrainer:in je Monat.
Tatsächlich einigten sich Bund und Länder bei der Ministerpräsidentenkonferenz am 7. April auf eine Regelung, die diese Forderung zumindest teilweise erfüllt: Wie anerkannte Asylsuchende sollen Geflüchtete aus der Ukraine keine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern nach dem Sozialgesetzbuch II/XII („Hartz IV“) erhalten. Und das bedeutet: Der Bund zahlt. Voraussetzung ist eine Registrierung im Ausländerzentralregister und ein deshalb ausgestellter Aufenthaltstitel. Zudem bekommen die Kommunen vom Bund insgesamt zwei Milliarden Euro, unter anderem für Unterkunft und Kinderbetreuung. Im November soll über eine Anschlussregelung für 2023 entschieden werden.
Es sei „klar, dass die Bundesgelder nicht ausreichen werden, die Aufwendungen etwa für Kinderbetreuung, Schule, Pflege oder Menschen mit Behinderungen auszugleichen“, sagte Markus Lewe, der Präsident des Deutschen Städtetages. Die Länder müssten die Gelder des Bundes ungeschmälert an die Kommunen weiterleiten und dringend aufstocken.
Doch bis auf Weiteres müssen Kommunen und freiwillige Helfer:innen nun mit den Mitteln auskommen, die vereinbart sind. Welche Wege, welche Ansätze finden Städte, die bei der Aufnahme regulärer Asylsuchender in der Vergangenheit nach fortschrittlicheren Ideen gesucht hatten? Und welche Rolle kann dabei die Zivilgesellschaft spielen?
Bremen: Die aktive, antirassistische Zivilgesellschaft
Im Rot-Rot-Grün regierten Bremen etwa ist seit vielen Jahren eine antirassistische Zivilgesellschaft aktiv, die sich auf politischer Ebene und durch direkte Unterstützung mit Geflüchteten solidarisiert – und auch die Landesregierung dazu aufruft, es ihr gleichzutun. Bremen senkte so die Zahl der Abschiebungen deutlich unter den Bundesdurchschnitt. Die Stadt wies das städtische Migrationsamt an, Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen, wann immer dies rechtlich möglich sei. Schon 2005 führte Bremen eine bundesweit wegweisende ‘Gesundheitskarte’ für alle Geflüchteten ein, um ihnen eine regelmäßige medizinische Versorgung zu ermöglichen.
Nach dem russischen Angriffskrieg kamen im Schnitt rund 1.000 Menschen pro Woche aus der Ukraine in Bremen an. Das Land setzt eigentlich auf die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen. Doch für die Ukrainer:innen wurden zwei Messehallen, Turnhallen und Zelte des DRK als Unterkünfte eingerichtet, Plätze in Hotels angemietet. „Im Moment ist erstmal Katastrophenmanagement angesagt“, sagt Markus Saxinger, der Projektleiter des Bremer Integrationsnetzes (bin) und Landesbeauftragter für Flucht und Migration des Roten Kreuzes. „Einerseits gruselt es einen vor Massenunterkünften.“ In solchen seien derzeit schätzungsweise etwa zwei Drittel der Ukrainer:innen untergebracht. Andererseits: „Genug Wohnungen gab es vorher auch schon nicht. Und man muss schnell Lösungen finden, die Leute unterzubringen,“ sagt Saxinger.
Die Zivilgesellschaft rührt sich. Bei der Freiwilligenagentur in Bremen meldeten sich innerhalb von drei Tagen über hundert Freiwillige, die sich engagieren wollten – die Agentur verhängte einen Aufnahmestopp. „Es gibt mittlerweile große, schnell entstandene ehrenamtliche Strukturen“, sagt Saxinger. Die arbeiteten teils eng mit der Verwaltung zusammen, Referatsleiter würden zu Netzwerktreffen erscheinen und die Helfer:innen informieren. Unter anderem wurde so ein gut organisiertes Zentrum für Kleiderspenden in einem Gebäude der Stadtwerke, nahe der Messehallen eingerichtet. „Vorher kamen die alle irgendwo auf einen Haufen, jetzt wird ein richtiger Umsonstladen aufgebaut.“
Integration in Arbeitsmarkt und Bildungssystem
Das Land setzt wegen der Ukrainer:innen gerade viel in Bewegung. Programme, die wegen sinkender Flüchtlingszahlen zum Sommer reduziert werden sollten „werden jetzt alle wieder hochgefahren, da ist plötzlich ziemlich viel Schwung drin,“ sagt Saxinger. „Da wird es sehr schwer, kurzfristig fachkundiges und erfahrenes Personal zu finden.“ Geplant seien unter anderem große Projekte zur Arbeitsmarktförderung. Denn schon seit die ersten Ukrainer:innen eintrafen, zeichnete sich ab: Die deutsche Wirtschaft hat angesichts von Fachkräftemangel und in die Rente gehenden Babyboomer:innen ein großes Interesse an den Menschen, die gerade vor Krieg und Zerstörung fliehen. Die Ankommenden profitieren dabei heute von einer Vielzahl an Institutionen, die ab 2015 ausgebaut wurden, um Ankommenden den Weg auf den deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern: Mit Fachsprachkursen, Weiterbildung, Nachqualifizierung, vor allem aber der Anerkennung mitgebrachter Abschlüsse. Mit Erfolg: Ab 2015 angekommene Flüchtlinge sind im Schnitt deutlich schneller erwerbstätig als solche, die in früheren Jahren nach Deutschland kamen, als es all diese Programme nicht gab.
Durch die für sie erstmals aktivierte „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU dürfen ukrainische Geflüchtete arbeiten, ohne ein Asylverfahren zu durchlaufen. In Bremen haben Handelskammer, IHK und Agentur für Arbeit ein Kooperationsprojekt gestartet. Schon sehr früh wurden Unternehmen aufgefordert, „grundsätzliches Interesse an der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine“ anzumelden.
Das Bremer Bildungsressort hat Lehrer:innen im Ruhestand um Hilfe gebeten und alle Sprachförderlehrkräfte gefragt, ob sie ihre Unterrichtsstunden aufstocken wollen. „Wir haben in Bremen schon viele pädagogische Fachkräfte, die Ukrainisch oder Russisch sprechen können und ihre Unterstützung angeboten haben. So haben sich bereits mehr als 20 ukrainische Lehrkräfte bei uns gemeldet", sagte eine Sprecherin des Bildungsressorts dem Evangelischen Pressedienst. Das sei aber nicht genug, um den Unterricht für alle geflüchteten ukrainischen Kinder und Jugendlichen abzudecken. Bis Mitte April waren dies rund 2.000. Geplant sind für sie Willkommensklassen an mehreren zentralen Standorten. Gleichzeitig sollen „Vorkurse“ im Grundschul- und Sekundarbereich ausgeweitet werden, in denen erste deutsche Sprachkenntnisse gelernt werden. Die Teilnehmenden können auch an einzelnen regulären Schulfächern mitmachen.
Lübeck: Reaktivierung von solidarischen Initiativen
Auch in Lübeck werden in diesen Monaten Strukturen reaktiviert, die 2015/2016 entstanden. Zum Beispiel das „Solizentrum“, ein Gelände auf der Wallhalbinsel, direkt im Zentrum. Einst lagerte die Stadt hier Baumaschinen, heute gibt es den „Kost-nix“-Laden, einen Veranstaltungssaal, Fahrradwerkstatt, ein Café, Sprachkurse, Beratung – eine Art All-Inclusive der praktischen Solidarität mit Ankommenden.
Willkommensinitiativen wie das Solizentrum schossen damals überall in Deutschland aus dem Boden. Deutschland gefiel sich darin so gut, dass 2019 gar ein Ex-SPD-Bundestagsabgeordneter beantragte, die UN-Kulturorganisation Unesco möge die deutsche „Willkommenskultur“ in ihre Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufnehmen. Im Solizentrum will man von so etwas selbstredend nichts wissen. Nicht einmal das Wort „Willkommensinitiativen“ gefällt den Aktiven hier. „Wir sprechen lieber von Solidarität“, sagt Melissa Lindloge, eine junge Frau, die vor Jahren zum Studieren nach Lübeck kam und seither im Vorstand des Zentrums aktiv ist.
2015/2016 wollten viele Ankommende nach Skandinavien. Und in Lübeck legen die Fähren dorthin ab. Schon in Hamburg wurden die Geflüchteten damals registriert, vorangemeldet, am Bahnhof in Lübeck erwarteten sie Freiwillige, die sie über den Stadtgraben, vorbei am Holstentor zum Solizentrum geleiteten. Über 15.000 Menschen kamen hier an – anders als die Ukrainer:innen heute zunächst ohne Anspruch auf Sozialleistungen und ohne Aufenthaltsrechte, und teils nach einer mehrjährigen Flucht-Odyssee.
Sie schliefen auf Matratzen im Solizentrum, bekamen Tickets für die Fähre, bezahlt von den Spenden von Privatleuten. „Bäcker brachten Brot, türkische Restaurants Essen. Aktivist:innen haben rund um die Uhr Schichten geschoben und Wache gehalten, aus Angst vor Nazi-Angriffen“, sagt Brinkmann, eine der Gründer:innen. Es ging so lange, bis Schweden Anfang 2016 die Grenze schloss.
Das Café hat auch in den Jahren weitergemacht, in denen weniger Flüchtlinge kamen, auch während der Pandemie, in denen Cafébetrieb und Veranstaltungen nur schwer möglich waren. Das Gelände durften die Aktiven vorerst behalten. Einfach so? Man habe „symbolisch besetzt und beharrlich verhandelt“, sagt Brinkmann. Schließlich gab es von der Stadt einen Vertrag für das Gelände. Der verlängert sich jedes Jahr automatisch."
Das Solizentrum ist nun wieder Donnerstag und Freitag geöffnet, willkommen ist jeder, aber geworben wurde natürlich unter den angekommenen Ukrainer:innen. Zwei Dutzend Freiwillige bieten Fahrradreparaturen, Hilfe im Alltag, Rechtsberatung, kochen Kaffee, übersetzen und halten den Umsonstladen offen.
Lübeck kann heute auf eine umfassende Infrastruktur zurückgreifen, in der Zivilgesellschaft und Verwaltung einander ergänzen und Ankommenden zur Seite stehen. Trotzdem geht es viel ruhiger zu als 2015. Das liegt nicht nur einer gewachsenen Routine oder daran, dass viele Ukrainer:innen auch in Lübeck vor allem von Landsleuten versorgt werden. „Wir haben damals Aufgaben übernommen, die der Staat nicht erledigt hat“, sagt Melissa Lindloge vom Solizentrum. „Heute sagen wir da deutlicher: Nee.“ Das heißt vor allem: Für Übernachtungen ist das Zentrum nicht geöffnet. „Das wollten wir nicht nochmal machen, 2015 ging das echt an die körperlichen Grenzen von allen, viele haben kaum geschlafen.“ Diesmal wolle man anders helfen als mit Matratzen. Um die Übernachtungen habe sich die Stadt zu kümmern, sagt Lindloge. Und das funktioniere auch. Neben den städtischen Unterkünften gebe es viele Angebote von Privatpersonen, die städtische Freiwilligenagentur koordiniere diese. „Bei denen haben sich auch viele Strukturen verbessert,“ sagt Lindloge.
Die Zivilgesellschaft kann nicht die Aufgaben des Staates übernehmen
Dies gilt auch für Großstädte wie Hamburg und Berlin. Die Hauptstadt ist dabei die erste Anlaufstelle für viele – und viele von ihnen bleiben. Rund 100.000 Ukrainer:innen hielten sich nach Schätzungen des Senats Mitte Mai hier auf. Der Senat hat ein umfassendes Hilfsangebot mit Anlaufstellen und mehrsprachigen Websites aufgesetzt. Dabei kooperiert die Verwaltung auch mit einer ganzen Reihe zivilgesellschaftlicher Institutionen wie der gewerkschaftlichen Beratungsstelle Arbeit und Leben, Frauenzentren oder dem „Start with a friend“-Projekt zur Vermittlung privater Sozialkontakte. Und jenseits dieser öffentlich-zivilgesellschaftlichen Kooperation gibt es eine kaum zu überblickende Landschaft mehr oder weniger formeller Initiativen, etwa der 2015 gegründete Verein "Moabit hilft".
Gleichwohl klagen freie Unterstützungsgruppen über Probleme, vor allem bei den Sozialleistungen. Mitte Mai kritisierten elf private Willkommensinitiativen um „Moabit hilft“ ein drohendes „Chaos“ beim anstehenden Wechsel der Zuständigkeit von Sozialämtern zum Jobcenter. Ratsuchende würden über unklare Leistungsbescheide oder unberechtigte Ablehnungen klagen, Kostenübernahmen für Mietverträge würden von den noch zuständigen Ämtern mit Hinweis auf die Jobcenter verweigert.
„Wir wissen um die große Aufgabe und die Zahl der geballt zu bearbeitenden Anträge und Fälle und auch um die Herausforderungen an die Verwaltung in Berlin“, heißt es in der Erklärung. „Wir reden jedoch hier über die Sicherstellung des Existenzminimums von Menschen. Und wir reden auch darüber, dass wir in der Beratung gerne helfen.“ Die Unterzeichnenden – die nach eigenen Angaben täglich Hunderte Ratsuchende beraten – verweisen auf die Wichtigkeit der Kooperation zwischen solidarischer Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik, machen dabei aber klar: Die Zivilgesellschaft kann nicht die Aufgaben des Staates übernehmen. Private Initiativen könnten keine „Leistungslücken schließen“ und fehlende Versorgung sicherstellen, heißt es in ihrer Erklärung. „So viele Gutscheine für Einkäufe in Supermärkten haben wir nicht.“
Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholen
Unterdessen stellt sich immer deutlicher die Frage, wie es mit den Angekommenen weitergehen soll. Das Bundesinnenministerium hatte Ende März gut 1.900 Menschen aus der Ukraine befragen lassen, die sich zu dem Zeitpunkt maximal zwölf Wochen in Deutschland aufgehalten hatten. Befragt wurden vorwiegend Erwachsene im erwerbstätigen Alter, überwiegend Frauen. Von den Befragten gaben 52 Prozent der Menschen an, in Deutschland arbeiten zu wollen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass hierbei die Frage eine Rolle spielt, ob die Menschen „die Chance sähen, mit ihrer Qualifikation auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“, wie Innenministerin Nancy Faeser sagte. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) räumt ihnen dabei wegen der meist guten Ausbildung gute Chancen ein, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Voraussetzung dafür seien Unterstützung bei der Kinderbetreuung sowie flexible und bedarfsgerechte Angebote, etwa „passgenaue Sprachkurse“.
In der Vergangenheit ist die Politik immer wieder davon ausgegangen, dass viele Menschen das Land wieder verlassen würden oder abgeschoben werden können. Die aus diesem Irrtum entstandenen Versäumnisse rächten sich teils noch viele Jahre später. Bei den Ukrainer:innen wird es darauf ankommen, diesen Fehler nicht zu wiederholen.