Die Beschulung der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine

Analyse

Die Ankunft geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus der Ukraine stellt das ohnehin angespannte deutsche Bildungssystem vor Herausforderungen. Mit Blick auf die Erkenntnisse aus den vergangenen Jahren diskutiert Soziologin Dr. Juliane Karakayali bestehende Modelle und Praxen der Bildungsintegration aus rassismuskritischer Perspektive und verweist auf vielversprechende Ansätze für die Migrationsgesellschaft.

Zwei Kinder sitzen in der Schule an einem Tisch und malen

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zwingt eine große Zahl von Menschen zur Flucht, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche. Das unterscheidet die Situation von der Fluchtbewegung 2015 aus Syrien: auch damals flohen Menschen vor einem Krieg. Da damals aber keine Möglichkeit bestand, legal nach Deutschland einzureisen, sondern die oft tödlich endende Reise übers Mittelmeer gewagt werden musste, blieben durch diese Migrationspolitik der EU gerade die Verletzlicheren im Krieg zurück. Für die, die jetzt hier ankommen, stellt sich die Frage, wie sie ihre Schullaufbahn fortsetzen können und um die Frage, wie das konkret geschehen soll, ist eine breite Diskussion entstanden. Grundsätzlich ist Bildung Ländersache. In allen Bundesländern besteht eine Schulpflicht, die auch für neu zugewanderte Schüler*innen gilt, wobei variiert, wann genau die einsetzt. Mit Stand Anfang Mai 2022 meldet das Bundesbildungsministerium die Zahl von über 90.000 Schüler*innen aus der Ukraine, die an Schulen in Deutschland unterrichtet werden. Schon vor der Ankunft der neuen Schüler*innen aus der Ukraine war die Situation an Schulen in Deutschland sehr angespannt, weil seit vielen Jahren nicht angemessen in die Bildungspolitik investiert wurde: es fehlen überall Lehrkräfte, viele Schulgebäude sind in einem maroden Zustand. Versäumte Lernzeit muss aufgeholt werden, weil in der Pandemie viele Schüler*innen von der Möglichkeit zu lernen ausgeschlossen waren, weil ihnen nicht die nötige technische Ausstattung für den online-Unterricht zur Verfügung gestellt wurde. Aber auch da, wo dieser Unterricht stattfand, ließ er aufgrund eines Mangels an entsprechender Qualifikation der Lehrkräfte oft zu wünschen übrig. Wie erfolgt nun die Aufnahme der Gruppe der ukrainischen Schüler*innen in dieses ohnehin angespannte System?

Verbreitete Beschulungsform: Vorbereitungsklassen

Die meisten Bundesländer kündigen laut einer Umfrage des Mediendienstes Integration an, ähnlich wie im Nachgang zur Migrationsbewegung 2015, separate Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte Schüler*innen einzurichten, in denen die Schüler*innen zunächst Deutsch lernen sollen. Untersuchungen zeigen allerdings, dass in jedem Bundesland alle möglichen Beschulungsformen für neu zugewanderte Schüler*innen nebeneinander praktiziert werden, unabhängig davon, was die Landesbildungspolitik vorgibt, und sehr unterschiedliches unter dem Begriff Vorbereitungsklassen verstanden wird: Manchmal besuchen die Schüler*innen eine Regelklasse und erhalten ergänzenden Deutschunterricht, manchmal werden komplett separierte Klassen eingerichtet. Aus einer Perspektive der Migrations- und Rassismusforschung bergen separierte Formen der Beschulung für Schüler*innen mit echter oder zugeschriebener Migrationsgeschichte immer die Gefahr, dass sich erstens gesonderte, sich vom Regelschulbetrieb (nach unten) abweichende Standards etablieren, die kaum kontrolliert werden, und zweitens, dass diese Besonderung rassistische Stigmatisierungen befördert – unter anderem dadurch, dass Gleichaltrige neu zugewanderte und bereits in Deutschland lebende Schüler*innen keine Kontaktgelegenheiten haben. Grundsätzlich ist separierte Beschulung ein Ausdruck davon, dass die Regelinstitution Schule Migration nicht als Alltäglichkeit und reguläre Aufgabe behandelt, sondern als Ausnahme, als Abweichung, für die (oft hektisch) Sonderregelungen geschaffen werden.

Parallelsysteme und Ressourcenmangel: Forschungsergebnisse

Die negativen Effekte der separierten Beschulung konnten auch im Rahmen verschiedener in Berlin durchgeführter Untersuchungen bestätigt werden. Sie zeigen, dass die Bildungspolitik in Berlin kaum formale Vorgaben für diese Klassen macht: es gibt keinen Lehrplan, keine definierten Ziele des Unterrichts und auch die Frage, ab wann Schüler*innen in den Regelunterricht übergehen dürfen, war damals – und ist auch bis heute – nicht geklärt. Die Folge ist, dass die hier beschulten Schüler*innen auf eine Weise beschult werden, die die Qualitätsstandards des Regelschulbetriebs deutlich unterschreiten: Die Lerninhalte variieren von Klasse zu Klasse in Abhängigkeit von der jeweiligen Lehrkraft, d.h., dass Schüler*innen, die diese Klassen besuchten, völlig Unterschiedliches lernen; altersentsprechender Fachunterricht findet nur sporadisch statt. Damit verlieren die Schüler*innen in der Vorbereitungsklasse Zeit. Die Kriterien, anhand derer entschieden wird, ob die Kinder in die Regelklasse übergehen dürfen, sind an jeder Schule anders und orientieren sich nicht unbedingt an den Deutschkenntnissen; für Schüler*innen und ihre Eltern besteht damit keine Transparenz darüber, was in welchem Zeitraum gelernt werden muss, um am Regelunterricht teilnehmen zu dürfen. Viele der Lehrkräfte sind als Quereinsteiger*innen für diese Klassen gewonnen worden und haben zuvor weder Kinder unterrichtet noch Kenntnisse über Inhalte und Didaktik an der Grundschule. Diese Besonderung spiegelt sich auch in der Wahrnehmung der Schüler*innen durch die Lehrkräfte wieder: die Schüler*innen werden nur über ihr Defizit – kein Deutsch zu sprechen –  wahrgenommen, nichts von dem, was sie an die Schule mitbringen, scheint es wert zu sein, erfragt und berücksichtigt zu werden, ihr Status als Teil der Schulgemeinschaft ist prekär (). Dass die Probleme dieser Beschulungsform auch die Schulleitungen und Lehrkräfte beschäftigt, zeigt sich in einer weiteren Studie, die aufzeigt, dass sich die Schulen eine stärkere konzeptuelle und organisatorische Unterstützung durch die Bildungsverwaltung sowie verbindliche Vorgaben hinsichtlich der Sprachstandserfassung, curricularer Vorgaben sowie Vorgaben für die Lernstandsdokumentation und den Übergang in die Regelklassen wünschen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass laut dieser Studie 46% aller Schüler*innen länger als 12 Monate in einer Vorbereitungsklasse verbleiben, macht die Dringlichkeit einer Veränderung deutlich. Diese Untersuchungen zeigen, dass mit den Vorbereitungsklassen eine Art Parallelsystem an der Schule entsteht, das kaum formalisiert ist und in Bezug auf Inhalte, Qualität und verlässliche Abläufe deutliche Defizite gegenüber dem aufweist, was für den Regelbetrieb einer Schule erwartbar ist.

Digitaler Unterricht auf Ukrainisch nach ukrainischem Lehrplan?

Während die Schüler*innen, die 2015 und in den darauffolgenden Jahren aus Syrien und Afghanistan nach Deutschland kamen, vor allem als aus einem defizitären Bildungssystem kommend wahrgenommen wurden, wird aktuell medial und politisch die Qualität des ukrainischen Schulsystems hervorgehoben. Insbesondere die Tatsache, dass gesamte Schulgänge auch digital verfügbar sind und viele Familien darauf hoffen, dass der Krieg schnell vorbeigehen und eine Rückkehr möglich wird, hat eine Debatte darum angestoßen, ob Kinder und Jugendliche aus der Ukraine weiterhin am ukrainischen online-Unterricht teilnehmen sollten, statt in Schulen in Deutschland eingeschult zu werden. Auch Mischformen aus ukrainischem und deutschem Lehrplan werden diskutiert. Aus einer Perspektive der Migrations- und Rassismusforschung lassen sich folgende Überlegungen dazu anstellen: Zunächst gilt in Deutschland die allgemeine Schulpflicht. Die müsste für einen dauerhaft angelegten regulären Unterricht nach ukrainischem Lehrplan aufgehoben werden. Angesichts der ohnehin schon mangelnden Berücksichtigung neu zugewanderter Schüler*innen im Schulsystem in Deutschland kann das kein sinnvoller Schritt sein, zu groß ist die Gefahr, dass zukünftig noch weniger Ressourcen für diese Gruppe bereitgestellt werden. Mit dem Blick in die Geschichte wirft das Konzept der Orientierung von Schüler*innen auf ihre Rückkehr weitere Fragen auf: in den 1960er und 1970er Jahren war man ebenfalls sicher, dass die Kinder der Arbeitsmigrant*innen nur temporär bleiben und sie am besten in der Sprache ihrer Herkunftsländer unterrichtet würden. Die Folge waren die sogenannten Ausländerklassen, in denen zweifelhafter, kaum kontrollierter Unterricht stattfand, der sich nur manchmal an einem deutschen Curriculum orientierte. In der Folge verließen viele Schüler*innen ohne Abschluss die Schule, die rassistische Stigmatisierung, die damit einherging, war erschreckend. Dieser Fehler sollte auf keinen Fall wiederholt werden. Entgegen aller empirischer Erfahrung geht man in Deutschland immer davon aus, dass Migrant*innen nur temporär bleiben. Für die aktuelle Situation lässt sich daraus schließen, dass es eine Beschulung braucht, für die ein Bildungssystem Verantwortung und Kontrolle übernimmt und das mit einem anerkannten Bildungstitel abgeschlossen werden kann.

Portrait von Juliane Karakayali

Dr. Juliane Karakayali ist Professorin für Soziologie an der evangelischen Hochschule Berlin. In den letzten Jahren hat sie sich insbesondere mit institutionellem Rassismus an der Schule beschäftigt. Zu ihren sonstigen Lehr- und Forschungsschwerpunkten gehören Migrations- und Rassismusforschung, feministische Theorie, die postmigrantische Gesellschaft und Rechtsextremismus aus rassismuskritischer Perspektive.


Vielversprechende Ansätze für die Migrationsgesellschaft

Einige sehr zielführende Überlegungen werden dazu bereits aktuell angestellt. Diese verweisen auch darauf, dass die Bildungspolitik in Deutschland offensichtlich bereit ist, Modernisierungsimpulse für die Schulstruktur aufzunehmen, die durch die aktuelle Migration entstehen. Aus der Perspektive der Migrations- und Rassismusforschung ist z.B. das Ziel, ukrainische Lehrkräfte in den Schuldienst zu übernehmen, absolut zu begrüßen. Dies wäre ein dringend notwendiger Beitrag zu einer Diversifizierung der Lehrer*innenschaft. Wenn hier nun Wege gefunden werden, die eine Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse einfacher ermöglichen, wäre das auch für die Zukunft hilfreich – die Übernahme syrischer Lehrkräfte in Folge 2015 scheiterte zumeist an den starren Vorgaben. Ebenfalls richtungsweisend ist die Überlegung, Ukrainisch als Fremdsprache anzuerkennen – das könnte in dem Zuge dann auch gleich regelhaft für alle anderen Erstsprachen von Schüler*innen erfolgen, eine längst überfällige Anpassung der Schule an die Realitäten der Migrationsgesellschaft. In die Richtung nachhaltiger Pluralisierung gehen auch die in Berlin angestellten Überlegungen, mit dem bewährten Konzept der Europaschulen eine Deutsch-Ukrainische Schule aufzubauen, in der zu gleichen Teilen auf Deutsch und Ukrainisch unterrichtet wird. Es bleibt zu hoffen, dass in den nächsten Wochen weitere konzeptionell durchdachte Maßnahmen entstehen, die eine qualitativ angemessenen Beschulung der neu zugwanderten Kinder und Jugendlichen, nicht nur aus der Ukraine, ermöglichen.