Es geht auch anders! #Arbeit mit Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen

Podcast-Episode

Wie wirken sich verschiedene Aspekte von Migrationspolitik auf Arbeitsmarktpolitiken und Arbeitsrechte aus? In der vierten Folge von "Es geht auch anders!" sprechen wir mit Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen über das Thema Arbeit.

Lesedauer: 40 Minuten
In blauer Schrift steht auf grünem Hintergrund: Es geht auch anders! Der Podcast. Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft. #Arbeit. Daneben ein Foto von Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen

Wir wollen über Arbeit sprechen! Wie wirken sich verschiedene Aspekte von Migrationspolitik (Sicherheitspolitik, humanitäre Logik, wirtschaftlicher Nutzen) auf Arbeitsmarktpolitiken und Arbeitsrechte aus?

Wie können wir dem falschen und doch ewigen Narrativ der "Arbeitsunwilligkeit" und des vermeintlichen „Ausnutzen des Sozialstaates“ begegnen und wie sieht eigentlich die Realität von prekären Beschäftigungsverhältnissen in solchen Branchen aus, die durch Arbeitsmigration geprägt sind?

Welcher Blick auf geflüchtete und eigewanderte Menschen und ihrem „Nutzen“ für die deutsche Gesellschaft färbt aktuelle Migrationsdiskurse und Politiken? Welche Entwicklungen lassen sich ob der momentanen Entgleisungen im politischen Diskurs beobachten und wie wird es weiter gehen mit Arbeit und Migration?

Im Rahmen der Reihe Es geht auch anders! Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft lud die Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt zum Gespräch mit Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen ein.
 
Ein Podcast mit:

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen ist Professorin für Globale Politische Ökonomie der Arbeit unter Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Kassel. Von April 2017 bis Februar 2020 arbeitete sie am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück und forschte dort zum Verhältnis von migrantischen Mobilisierungen und Gewerkschaften in den 1970er und 80er Jahren in Deutschland. Seit September 2022 leitet sie das Fachgebiet Globale Politische Ökonomie der Arbeit unter Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse. Hier leitet sie den Masterstudiengang Labour Policies and Globalisation (LPG) im Rahmen der Global Labour University (GLU) und ist am Aufbau des Kassel Institute for Sustainability beteiligt. Zudem ist sie Mitglied im Global Partnership Network (GPN). Ihre Schwerpunkte sind u.a. Arbeit und Migration, prekäre und informelle Arbeit, Intersektionalität sowie Gewerkschaften.

Moderation: Geraldine Mormin, unsere Kollegin aus Sachsen-Anhalt, hat die gesamte Reihe moderiert und mitkonzipiert, sie stellt immer genaue Fragen und bringt es auf den Punkt!

Die Reihe "Es geht auch anders!":

In der Reihe "Es geht auch anders! Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft" diskutieren wir gegenwärtige Krisen im Hinblick auf Alternativen. Unsere Gesprächspartner*innen zeigen, wie es gehen könnte und bereits an vielen Orten geht. Wir setzen restriktiven Migrationspolitiken und rechten Diskursen konkrete Visionen einer solidarischen Gesellschaft entgegen. Welche Zukunftsvisionen, welche Ideen, welche Praxisbeispiele für eine menschenrechtsorientierte Migrations- und Asylpolitik gibt es? Diese Veranstaltungsreihe aus dem Jahr 2024 wurde in einen Podcast umgewandelt und erscheint am 27. März 2025 in allen Podcast Apps. 

Eine Veranstaltungs- und Podcastreihe des Heinrich-Böll-Stiftungsverbunds der Landesstiftungen Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und der Bundesstiftung.

Die wichtigsten Links aus dem Gespräch:

Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt: https://www.boell-sachsen-anhalt.de/de 

Music Credits: „Quasi Motion“ by Kevin MacLeod (siehe: https://freemusicarchive.org/music/Kevin_MacLeod/Global_Sampler), Source: Free Music Archive, License type: CC BY.


Hier finden Sie eine Transkription der Podcast-Folge

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen (Expertin):

Migrations- und Aufenthaltspolitiken haben massiven Einfluss darauf, unter welchen Bedingungen Migrant*innen arbeiten dürfen, können oder müssen.

Restriktive Aufenthaltspolitiken sind: Desto eher Menschen auf Arbeit angewiesen sind, desto erpressbar sind sie auch. Und das können wir uns auch alle vorstellen. Erpressbare Arbeiterinnen sind auch aus Sicht der Kolleginnen nicht sonderlich gut.

Das ist eine gewerkschaftliche Fragestellung: Wie geht man damit um, dass einige unter Umständen mit großer Not auch schlechte Arbeitsverhältnisse halten müssen, um ihren Aufenthalt zu sichern, keine Alternativen haben, weil ihnen keine formellen Arbeitsverhältnisse zur Verfügung stehen und entsprechend eben auch die schlechtesten Bedingungen annehmen müssen?

#00:00:40-0#

Carmen Romeo (Bildungsreferentin Petra-Kelly-Stiftung):

Hallo und herzlich willkommen zu „Es geht auch anders. Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft“ Das ist der Podcast zu unserer Online Veranstaltungsreihe aus 2024, also vor der Bundestagswahl. Dass diese Themen und diese Visionen heute aktueller denn je sind, macht uns traurig. Aber gleichzeitig ermutigt es uns, weiter daran zu arbeiten.

Ich bin Carmen Romano und ich darf hier sprechen für den Heinrich-Böll-Stiftungsverbund der Landesstiftungen in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und der Bundesstiftung. Wir sind also viele.

Grenzen töten, Menschen werden kriminalisiert, Kommunen sind überfordert. Das Thema Migration ist viel diskutiert und klar, es gibt viele Herausforderungen. Das möchten wir nicht kleinreden. Häufig ist aber die Debatte sehr polarisiert und wird von rechts vereinnahmt. Viele Missstände wie die Folgen der Klimakatastrophe und des demografischen Wandels, prekäre Wohnsituation oder Fragen zur Arbeit und Mobilität betreffen eigentlich alle Menschen in unserer Gesellschaft, nicht nur Migrant*innen, und sind bestimmt nicht von Migrant*innen verursacht.

Wir diskutieren mit unserer Reihe gegenwärtige Krisen im Hinblick auf Alternativen. Unser Blick zeigt, wie es gehen könnte und bereits an vielen Orten geht. Wir setzen restriktiver Migrationspolitik und rechten Diskursen, konkrete Visionen einer solidarischen Gesellschaft entgegen.

Welche Zukunftsvisionen, welche Ideen, welche Praxisbeispiele für eine menschenrechtsorientierte Migrations- und Asylpolitik gibt es?

Wie schön, dass du dabei bist. Hoffentlich hörst du alle fünf Folgen, wo wir mit tollen Expert*innen diese Fragen anhand der Überschriften Grenzen, Solidarität, Genderarbeit und Aktivismus besprechen. Viel Spaß beim Zuhören und Mitdenken, denn es geht auch anders!

#00:02:34-7#

Geraldine Mormin (Moderation, Bildungsreferentin Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt):

Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute hier sind. Und ganz besonders freue ich mich, Frau Professor Dr. Anna Lisa Carstensen, wie schön, dass Sie heute unser Gast hier sind!

Herzlich willkommen an Sie alle, ganz herzlich willkommen zu: „Es geht auch anders! Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft.“ Und das ist hier unsere vierte Ausgabe dieser Reihe, zum Thema Arbeit.

Ich bin Geraldine Mormin. Ich bin Bildungsreferentin bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Sachsen-Anhalt. Und ich werde Sie heute als Moderation begleiten. Ich begleite die ganze Reihe.

Frau Professor Carstensen, dann darf ich Sie, bevor ich Ihnen das Wort gebe, kurz einmal vorstellen: Sie sind Professorin für Globale Politische Ökonomie der Arbeit unter Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Kassel. Bis 2020 arbeiteten Sie am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität in Osnabrück. Und Sie forschten viel zum Verhältnis von migrantischen Mobilisierungen und Gewerkschaften in den 70er und 80er Jahren und jetzt seit 2022 leiten Sie das Fachgebiet Globale Politische Ökonomie der Arbeit. Ihre Schwerpunkte sind Arbeitsmigration, prekäre und informelle Arbeit. Davon werden wir heute ja auch viel hören.

Wir freuen uns sehr, dass Sie hier unsere Reihe mit uns weiterspinnen und mit uns gemeinsam weiter nach Visionen zur Migrationspolitik der Zukunft forschen. Und zum Einstieg haben Sie einen kleinen Input mitgebracht und ich übergebe Ihnen einfach das Wort und freue mich.

#00:04:14-0#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Und zwar habe ich noch mal Revue passieren lassen: Ich habe vor ein paar Jahren einen Artikel mit zwei Kolleginnen geschrieben, in dem wir damals 2018 rekonstruiert haben, wie wird über Arbeit und Migration in Deutschland gesprochen? Und das sind drei Perspektiven, die wir identifizieren konnten. Und ich würde die gerne mit Ihnen heute noch mal durchgehen und überlegen, was das auch angesichts aktueller Debatten bedeutet und dann eine vierte Perspektive versuchen zu skizzieren.

Es gibt in Bezug auf Migration und Arbeit eigentlich so eine Sicht auf Migration als etwas Nützliches. Das kennen wir ganz klar aus dem Gastarbeiterregime, beispielsweise also die Idee, Menschen werden angeworben, um Engpässe in der Produktion abzufedern. Weitere Fragen stellt man sich nicht. Es geht um den Nutzen für die deutsche Volkswirtschaft an der Stelle. Und das knüpft an, an die Idee einer industriellen Reservearmee, die man mobilisieren kann durch Migration.

Das erfährt gerade aktuell eine ganz neue Konjunktur, diese Sichtweise, weil es zum Beispiel in der Fachkräfte-Anwerbung neue Rekrutierungsprogramme gibt. Und man sieht darin Migrant*innen eigentlich in erster Linie als Arbeitskraft.

Diese Logik wurde in den 1980er Jahren noch mal ergänzt durch die humanitäre Logik.

Die war vorher schon präsent, wurde aber sehr deutlich im Zuge der Zunahme von Flucht und Asyl. Und da steht im Mittelpunkt die migrierende Person in ihrer Not, quasi die Gründe für die Flucht und die Gründe, die dann ja auch das Asyl legitimieren. Und in diesem Fall hat man gerade in den 80er Jahren aufgehört, diese Menschen auch als potenzielle Arbeiter*innen zu sehen, sondern Menschen, die sich um Asyl bewerben haben in erster Linie erstmal kein Recht auf Arbeit, teilweise über sehr lange Jahre. Sie kennen die Debatten und auch die Frustration, die dahinterstecken kann.

Systematische Ausschlüsse vom Arbeitsmarkt, und das weiß die Arbeitsforschung, heißt immer Ausschluss vom formellen Arbeitsmarkt. Das bedeutet Menschen, die offiziell nicht arbeiten dürfen, arbeiten oftmals eben doch, weil sie zum Beispiel Schulden abbezahlen müssen, weil sie ihre Familien versorgen müssen und sind dann auf besonders ausbeuterische prekäre Bedingungen in der informellen Arbeit angewiesen.

Die dritte Perspektive ist vor allem nach dem 11. September 2001 stärker geworden: Die Kontrolle von Migration aus sicherheitspolitischer Logik, also Migrant*innen als potenzielle Gefährder*innen und Straftäter*innen. Und Migrationsregulierung als eine Frage der nationalen Sicherheit. 2018 haben wir schon gesehen, dass diese Sichtweise sehr präsent ist.

Ich würde aber sagen, heute ist sie präsenter als je zuvor und das macht natürlich ein besonderes Bild auf diese Idee der Zunahme von Kontrollen, der Kontrolle von Migrationswegen, die auch wieder Auswirkungen auf Arbeitsmärkte haben, und auf die Frage: Welche Wege Migrant*innen auf sich nehmen müssen, um migrieren zu können, überhaupt welchen Gefahren sie sich aussetzen und wie verletzlich sie dann wiederum am Arbeitsmarkt sind, zum Beispiel weil sie hohe Schulden haben?

Ja, wir beobachten ein kontinuierliches Neuarrangement dieser drei Perspektiven und aktuell interessanterweise eben eine Polarisierung zwischen der Verwertungslogik und der Sicherheitslogik bzw. eine Polarisierung im Zusammenspiel dieser beiden Logiken, und ein harter Kampf um die humanitäre Perspektive.

In Bezug auf Arbeit würde ich aber eben noch mal eine weitere Perspektive ins Spiel bringen. Und die würde ich so formulieren... Ich hatte das früher anders formuliert, aber vor dem Hintergrund meiner aktuellen Arbeit, in der es auch ganz viel um Nachhaltigkeit und globale Gewerkschaftsbewegung geht, ist mir das klarer geworden, dass wir eigentlich anknüpfen können an dem Diskurs um menschenwürdige Arbeit für alle. Also decent work.

Das kommt aus dem Spektrum der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation, aus der Debatte um die Development Goals, also eigentlich eine Vision globaler Mindeststandards für Arbeit, also faire Löhne, Mindest-Arbeitsbedingungen, Zugang zu Interessenvertretung, Zugang zu Beschäftigung überhaupt.

Und ich finde diese Perspektive deswegen interessant, weil sie eben global ist und auf der Ebene zwei überschüssige Momente hat.

Das eine ist, dass man, wenn man es als eine globale Forderung sieht, es eben auch als eine Forderung der Überwindung globaler sozialer Ungleichheiten formulieren kann.

Also ein Ende von Standortwettbewerb, was die Notwendigkeit oder die Bedeutung von Migration in der globalen Perspektive zwar nicht vollkommen verändert, denn Migration ist immer mehr als einfach nur ökonomische Kalkül, aber unter Umständen mehr Alternativen auch an verschiedenen Orten entlang von Migrationsrouten ermöglichen könnte.

Und wenn man menschenwürdige Arbeit für alle definiert, dann lässt sich das auch als eine antirassistische Forderung definieren, nämlich eine, die diese Versuche der Spaltungen, der Abwertungen einiger der Platzierung von arbeitenden Subjekten entgegentreten kann, als eine Forderung der gleichen Rechte für alle, egal welchen Migrationsstatus, welcher Herkunft.

Und das zweite überschüssige Moment steckt für mich in den Begriff der Würde. Und das ist eigentlich sehr undefiniert und auch sehr radikal, nämlich als eine Einladung. Nicht nur als „Wir kämpfen hier um die Mindeststandards und um die kleinsten Tariferhöhungen oder Mindestlöhne“, sondern auch als eine Frage „Wie ist die Arbeit, die es ja gibt, die gesellschaftlich auch sinnvoll und notwendig ist, gesellschaftlich organisiert?“

Eigentlich ist diese Frage, und das lässt sich natürlich auch noch mal verknüpfen mit sozialökologischen Debatten um industrielle Transformation etc., ein Plädoyer dafür, das in einen globalen Zusammenhang zu stellen.

Das klingt vielleicht auch naiv, aber ich glaube, das sind die Debatten, die man anfangen könnte, eigentlich zu führen, wenn man einen breiteren Blick aufwerfen wollen würde.

Ich kann noch mal ein paar Schneisen in die Debatte einfügen oder ein paar Zuspitzungen vornehmen, die man vielleicht sinnvollerweise machen kann, um zu verstehen, worum es eigentlich geht, wenn wir über die Verbindung zwischen Arbeit und Migration sprechen.

Und zwar ist es mir wichtig, klarzumachen oder als Grundlage, um die Diskussion führen zu können, dass wir uns noch mal vergegenwärtigen, dass jede Migrationspolitik auch Arbeitspolitik ist.

Also Migrations- und Aufenthaltspolitiken haben massiven Einfluss darauf, unter welchen Bedingungen Migrant*innen arbeiten dürfen, können oder müssen. Desto eher Menschen auf Arbeit angewiesen sind, desto erpressbar sind sie auch. Und das können wir uns auch alle vorstellen. Erpressbare Arbeiterinnen sind auch aus Sicht der Kolleg*innen nicht sonderlich gut. Das ist eben die gewerkschaftliche Fragestellung: Wie geht man damit um, dass einige unter Umständen auch mit großer Not auch schlechte Arbeitsverhältnisse halten müssen, um ihren Aufenthalt zu sichern, keine Alternativen haben, weil ihnen keine formellen Arbeitsverhältnisse zur Verfügung steht und sie entsprechend eben auch die schlechtesten Bedingungen annehmen müssen?

Sozialpolitik ist Arbeitspolitik, und das haben wir jetzt gerade ganz präsent in der Debatte um den Ausschluss von Sozialleistungen für Menschen im Asylverfahren, die unter die Dublin-Regelungen fallen.

Also die Frage, wenn ich keinen Zugang zu Sozialleistungen habe, aber irgendwie Schulden abbezahlen muss, mich selbst und meine Familie über Wasser halten muss, bin ich eben auch auf Arbeit in informellen Arbeitsverhältnissen unter ausbeuterischen Bedingungen angewiesen.

Also das nennt man Vulnerabilität, diese Kategorie.

Mir ist es auch nochmal wichtig zu betonen, ich komme aus einer theoretischen Schule, die davon ausgeht, dass Migration eigentlich nicht steuerbar ist.

Es gibt aber in den politischen Debatten sehr stark die Idee, wir können Migration steuern, wir können sie in bestimmte Richtungen leiten, in bestimmte Sektoren. Wir können bestimmte Leute zum Migrieren überzeugen, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Also entweder sie sollen kommen oder sie sollen gehen oder sie sollen nicht. Und das lässt sich durch Anreizpolitik erreichen.

Ich und andere, wir glauben, das funktioniert sowieso nicht, weil eben immer noch Migration immer noch mehr ist als das.

Weil Menschen zwar auch Migrationsprogramme aktiv nutzen können, was auch gut ist, weil sich die Geschichte der Menschheit durch Migration entwickelt.

Aber wir sehen eben gerade sehr stark diese Idee, man könne Arbeitsausbeutung durch Bekämpfung illegalisierter Migration bekämpfen. Und da finde ich es total wichtig darauf hinzuweisen, dass eben das meistens einhergeht mit einer Zunahme von Kontrollen. Also auch die Forderung nach sicheren Migrationswegen ist meistens eine Forderung nach mehr Kontrollen, die Migrationswege gefährlicher machen, die Migrant*innen an verschiedenen Stellen ihres Migrationsprozesses ausbeutbarer machen.

Positiv gesehen wird wiederum die Idee der Win win win Situation. Triple win, heißt es in dem Programm. Durch gezielte Anwerbung von Migrant*innen. Also es ist gut für die Herkunftsorte, es ist gut für die Migrant*innen, es ist gut für Deutschland.

Aber wenn Menschen für die Pflege angeworben werden oder für andere Berufe mit Fachkräftemangel - da habe ich gerade vorhin noch einen Artikel gelesen von Christa Wichtig, die aufzeigt, wie stark das (die Win win win Situation) eigentlich in einer globalen postkolonialen Beziehung von Machtverhältnissen zwischen Nord und Süd steht.

Also diese Idee, dass sich die deutsche Gesellschaft sozusagen rausnimmt zu sagen „Ja, wir werben die Leute ab, die zwar anderswo dringend gebraucht werden, die dürfen woanders ausgebildet werden, hinterher auch dort wieder in Rente gehen, aber sie sollen ihre Arbeitskraft hier zur Verfügung stellen.“

Das sind erstmal so Einschlagschneisen.

Und als letztes wollte ich noch mal zur Diskussion stellen: Ich habe mir noch mal vom ver.di Bundesvorstand ein Statement angeguckt. Die sagen, gegen den Rechtsruck hilft Solidarität. Das habe ich jetzt inhaltlich ein bisschen anders gewendet als sie. Aber ich fand dieses Statement total wichtig, zu sagen gegen den Rechtsruck hilft es nicht, selber rechts nach rechts zu rücken.

Migration ist eine gesellschaftliche Realität. Das sehen wir in allen Daten immer wieder, das sehen wir auch in allen Arbeitsmarktdaten immer wieder.

In dem Wissen, dass es auch Rassismus gibt, ist es eigentlich eher der Weg, den Rassismus auch auf die Tagesordnung zu bringen, wenn wir über den Rechtsruck reden.

Ich hoffe, dass das erst mal ein guter Einstieg ist und freue mich auf Nachfragen und Kommentare.

#00:14:31-2#

Geraldine Mormin:

Super! Großen Dank für Ihren Einstiegsinput und auch für die Literaturliste.

Die Reihe heißt „Visionen“ und darüber mag ich darüber natürlich noch gerne mehr erfahren. Und ich habe auch den Eindruck, Sie haben auch schon ein bisschen angerissen, was vielleicht Ihre Vision sein könnte.

Ich habe verstanden, dass das was Sie danebenlegen neben diese Säulen, die menschenwürdige Arbeit für alle und das auch aus einer globalen Perspektive, auf einer globalen Ebene, also nicht nur fokussiert auf Deutschland - da hatte ich den Eindruck, da geht es vielleicht in Richtung von Ihrer Vision?

Mögen Sie uns das noch mal so konkret wie möglich skizzieren? Was wäre Ihre Vision, wenn Sie es sich aussuchen würden? Wie sollte Arbeit und Migration in Zukunft geregelt, nicht geregelt, organisiert, nicht organisiert sein?

#00:15:21-3#

 

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Ja, ich kann, glaube ich, noch mal zu meiner eigenen Verortung auch sagen: Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass man über Arbeit ohnehin immer aus einer gewerkschaftlichen Perspektive spricht, weil für mich Gewerkschaften oder gewerkschaftsähnliche Organisationen, auch informelle Gewerkschaftsorganisationen die einzige Form sind, wie Arbeitende Macht bekommen können, sich selbst auch in Debatten einbringen können. Und das ist natürlich ganz notwendig, ganz zwingend notwendig.

Deswegen würde ich gerne erstmal noch etwas zu dieser gewerkschaftlichen Perspektive in Bezug auf Migration sagen, weil das ja ein ganz heikles Eisen ist. Weil Gewerkschaften sich traditionell immer schwertun mit diesen Migrationsthemen, weil sie eben entstanden sind als Organisationen, die an einen Nationalstaat gebunden sind.

Und ich selber arbeite an einem Projekt, das heißt Global Labour University. Wir versuchen, Gewerkschafter*innen aus der ganzen Welt auszubilden, darin eine globale und transnationale Perspektive einzunehmen, nicht nur in Bezug auf Migration, sondern eigentlich in Bezug auf alle möglichen Fragestellungen in einer globalisierten Weltwirtschaft.

Und da merke ich immer wieder, dass man sich einerseits hinstellen kann und sagen: Wie ist es bei euch, wie ist das bei uns und vergleichen wir mal Strategien.

Man kann aber auch versuchen, eben eine gemeinsame Vision zu erarbeiten. Und die steht tatsächlich überall ganz am Anfang, basierend auf der Idee, dass sich diese gravierenden Ungleichheiten weltweit so stark eingebrannt haben, dass Unternehmen aus dem globalen Norden sich bereichern an Ressourcen und Arbeitskräften aus anderen Orten der Welt, dass Entwicklungspolitik eben auch Interessenpolitik und geopolitische Politik ist.

Die Verknüpfung mit Migrationspolitik kommt in dem Moment, wenn migrantische Bewegungen, wie schon in den 90er Jahren sagen, wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört, also wenn sie das in einem postkolonialen Kontext stellen.

Das stimmt immer noch, das wird in Zukunft auch noch sehr viel mehr stimmen. Und das bedeutet, da muss man auf jeden Fall auch drüber reden.

Der Großteil der Migration findet überhaupt nicht nach Europa statt, sondern anderswo in der Welt.

Lange Rede, kurzer Sinn, ich glaube, wir müssen das immer global sehen und müssen diese Idee, wir sind hier in Deutschland zuständig dafür, wie es in Deutschland ist, einfach versuchen zu überwinden.

Das führt natürlich jetzt erstmal noch nicht so viel weiter für unsere Debatten hier. Hier ist es wie gesagt so, dass sich die Gewerkschaften damit immer sehr schwergetan haben. Weil es ist ja auch so, Migration ist ja auch für eine national verfasste Arbeiter*innenschaft erst mal ein Problem.

Da kommen andere Leute und die arbeiten unter billigeren Bedingungen und das ist auch einfach so. Jetzt ist natürlich die Frage, sieht man diese Leute als ein Problem und versucht sie wieder raus zu drängen oder versucht man sie einzubinden?

Oder und das ist das ist meine Haltung, sieht man sie als Gleichwertige, die auch die gleichen Rechte und Ansprüche haben und mit denen gemeinsam man eben sogar vielleicht sehr viel kreativere, bessere Dinge erkämpfen kann.

Und die Gewerkschaften sind da eigentlich nicht schlecht dran. Schon seit den 70er Jahren wissen die, dass sie die Migrant*innen einbinden müssen.

Sie sind aber genau noch bei diesem Punkt und das verändert auch uns als Organisation. Das verändert auch unsere Agenda, das verändert auch unsere Sicht auf die Dinge. Da hapert es oft immer wieder.

Also mitmachen, ja, auch Interessenvertretung für Migrant*innen. Aber sich wirklich irritieren lassen und auch andere Forderungen entwickeln, die auch die eigenen Gewissheiten über den männlich, weißen Industriearbeiter in seiner Sicherheit, in Frage zu stellen und zu überlegen, wie kommen wir hin zu einer Gesellschaft, in der alle die gleichen Zugänge zu Ressourcen haben?

Ich weiß es immer noch nicht sonderlich konkret, aber ist eine Perspektive.

#00:19:02-6#

Geraldine Mormin:

Aber total spannend. Was würden Sie denn sagen, was wären denn gute erste Schritte? Sie haben angesprochen, dass auch die Gewerkschaften, vielleicht auch eigene innere Logiken, vielleicht auch eigene innere Gewissheiten überdenken könnten. Wo würden Sie, wenn sie jetzt nun alle Macht hätten, ansetzen? Menschen müssten tun, was Sie bestimmen, Frau Carstensen, was wäre der erste Schritt? Womit würden Sie morgen anfangen?

#00:19:25-3#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Ich glaube, ich möchte gar nicht, dass Menschen tun, was ich gerne hätte, sondern mit anderen Menschen gemeinsam. Und als erstes würde ich gerne in den nächsten Wochen auf die Straße gehen mit anderen Menschen gegen die aktuellen sicherheitspolitischen Verschärfungen. Aus einer solidarischen Haltung, um zu sagen, das betrifft uns alle und das betrifft uns eben auch als Arbeiter*innen.

Und dieses Gegenüber spielen, diese Auseinanderfallen, diese Idee, bei Migration ginge es um kulturpolitische Fragen, ginge es um Fragen, die zusätzlich sind, die nichts mit der Wirtschaft zu tun hätten, die zu überwinden, und zu sagen: Nein, wir treten uns am Arbeitsmarkt alle gegenüber und sollten das nach Möglichkeit in einer solidarischen Perspektive tun und nicht gegeneinander ausspielen lassen.

Das ist sehr platt. Ich ringe damit auch, weil ich das Gefühl habe, das ist wirklich wie in den 70er Jahren, nämlich eine gemeinsame Haltung, ein gemeinsames Bündnis zu entwickeln. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, da stehen wir alle ganz am Anfang.

Und das liegt auch daran, dass anders als in den 70er, 80er Jahren sich die Leute in den Betrieben ja gar nicht unbedingt treffen, sondern dass es viele Bereiche gibt, in denen Migrant*innen eben arbeiten, ohne direkt mit den deutschen Kolleg*innen in Kontakt zu kommen. Und da würde ich mir wünschen, dass es mehr Orte gibt, dass es mehr zusammen gemeinsame Berührungspunkte gibt, an denen man eben an einer gemeinsamen Vision überhaupt erst mal arbeiten kann.

#00:20:44-0#

Geraldine Mormin:

Vielen Dank. Sie haben es schon angesprochen, Sie würden gerne in den nächsten Wochen gemeinsam auf die Straße gehen als Protest gegen die aktuellen Gesetzesverschärfungen. Das Stichwort Sicherheitspaket. Wie, wenn wir uns mal aus der aus der Vision auf die Aktualität fokussieren, es ist ein weiterer Schritt aber es hängt ja wirklich auch stark zusammen, wie schätzen Sie denn gerade die aktuellen Entwicklungen ein? Sowohl die ich nenne es mal höflich Entgleisungen im politischen Diskurs als auch eben die ganzen  Hard Facts, die Gesetzesverschärfungen, wenn Sie da mit der Lupe von Arbeit draufgucken?

#00:21:27-2#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Genau das ist ja das Interessante, dass das überhaupt nicht diskutiert wird. Das ist gerade   eine totale Leerstelle, als hätte das gar nicht gar keine Rolle. Da ist es eben total wichtig izu sagen: Nein, es kommt alles wieder zurück!

Es ist ja immer schwierig, von Intentionen zu sprechen. Aber wir leben gerade in einer Gesellschaft, die sehr stark segmentierte Arbeitsmärkte entwickelt hat, also in denen es Branchen gibt, die ganz stark davon geprägt sind, dass da sehr viele Menschen arbeiten, die eben auf unterschiedlichste Art und Weise auch erpressbar sind, weil sie migriert sind, weil sie aufenthaltsrechtliche Fragen zu klären haben oder weil sie einfach auch nicht so gut die Sprache sprechen etc. und in denen die Arbeitsverhältnisse besonders schlecht sind.

Das wissen alle und nehmen es auch alle irgendwie zustimmend hin. Es gibt immer wieder mal Initiativen hier, Regelungen in der Fleischindustrie, Mindestlohn etc. Aber es gibt keine gesellschaftliche Debatte darüber.

Was müsste man an Migrationspolitik ändern, um die Rechte von Migrant*innen zu stärken? Und das ist etwas, was ich sehr, sehr wichtig finde. Man müsste man eigentlich bei jeder dieser migrationspolitischen Maßnahmen oder auch bei jeder Aufenthaltsregelung immer mit drin haben zu gucken, wie dringend müssen die Leute arbeiten?

Wir reden nicht immer nur über Flucht und Asyl. Aber auch in der EU-Migration ist es ja so, dass die EU-Freizügigkeit sich ausschließlich auf Arbeitsmarktsubjekte beschränkt. Also dass es gar keine Möglichkeit gibt, innerhalb der EU zu migrieren, wenn man gar nicht arbeitet. Also solche Fragen wie Zugang zu Sozialleistungen, aufenthaltsrechtliche Fragen überall mit drin haben, das wird gerade nicht so viel diskutiert, weil das eben diese sicherheitspolitische Keule gibt. Aber immer, wenn Sozialleistungen fallen, bedeutet das, Menschen sind gezwungen dazu informell zu arbeiten oder erpressbar am Arbeitsmarkt.

#00:23:22-4#

Geraldine Mormin:

Vielen Dank. Danke Ihnen. Ich will Ihnen gern gleich auch noch mal eine Frage zu den prekären Beschäftigungsverhältnissen stellen. Davor würde ich allerdings gerne Ihre Meinung hören: Es gibt ja Chimären, Vorurteile, die rumgeistern… Dazu würde ich gerne Ihre Perspektive hören: Was würden Sie denn sagen in diesem Spannungsverhältnis von „Die Ausländer*innen nehmen uns die Arbeit weg“ und auf der anderen Seite dieses falsche Narrativ von einer Arbeitsunwilligkeit oder einer vermeintlichen Ausnutzung des Sozialstaats, das sind jetzt eigentlich zwei gegenläufige Narrative, die sich aber irgendwie erstaunlich gut verstehen. Wie ist da Ihre Antwort drauf?

#00:24:11-9#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Vielleicht ist man da selber auch mit schuld, dass die sich so gut verstehen, also muss ich mir mal selber Gedanken darum zu machen…

Also dieses „Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg“, das ist ja total 80er. Das ist eigentlich lange vorbei. Aber es ist interessant, sich noch mal dran zu erinnern. Also was da passiert ist, um auch zu verstehen, warum das weiterhin noch in den Köpfen rumgeistern will. In den 80er Jahren gab es einen Strukturwandel, der irgendwie auch notwendig war und viele Menschen wurden arbeitslos und parallel dazu gab es Kampagnen und auch richtige Hetzkampagnen und Rückkehrförderungsprogramme, die diese Idee gestärkt haben. Dass es einem wieder gut gehen wird, wenn die Leute wieder weg sind. Was ja überhaupt gar keinen Sinn ergab, angesichts dieser gesellschaftlichen und ökonomischen Situation. Was die IG Metall ja übrigens mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung gekontert hat - was ein Move war, genau diese Konkurrenz um Arbeit irgendwie ein bisschen zu thematisieren.

Heutzutage ist es aber nicht so, dass Ausländer*innen anderen die Arbeit wegnehmen und seit den 80er Jahren eigentlich auch nicht mehr so, weil eben Migrant*innen oftmals in Bereichen arbeiten, wo andere, die nicht so erpressbar sind, gar nicht erst arbeiten.

Das war damals diese Idee mit der Unterschicht, die einher ging mit dem Effekt, dass es anderen dann plötzlich besser ging. Und diese Unterschichtung sehen wir auch, allerdings ohne Fahrstuhleffekt, weil sich das eben auf allen Seiten des Arbeitsmarktes gerächt hat und dieser große Niedriglohnsektor überhaupt erst entstehen konnte angesichts der Konkurrenzen am Arbeitsmarkt.

Heutzutage haben wir eher diesen Fachkräftemangel, der auch ein Resultat ist von Abwertung, Feminisierung bestimmter Berufe, Unattraktivmachung von zum Beispiel Pflegeberufe, so dass es eigentlich eher so ist: Migranti*nnen halten die Dinge am Laufen seit langer Zeit.

Diese Gegennarrativ ist natürlich total problematisch, weil da lässt man sich selber auf diese Nützlichkeitsargumentation ein. Integration ja, wenn sie der deutschen Wirtschaft nützt und das ist für mich als Migrationsforscherin immer wieder so ein Dilemma. Und ich sehe das auch bei anderen Kolleginnen, dass wir doch oft in die Falle tappen, so zu argumentieren, wenn wir nicht mehr wissen, wie wir sonst argumentieren sollen.

Aber eigentlich würde ich dem begegnen mit einer starken Menschenrechtsperspektive und sagen, nein, Migration auch derjenigen, die nicht nützlich sind, unter Umständen, wenn sie zum Beispiel im Rahmen von Flucht und Asyl.

Eine ganz wichtige Rolle spielt die Arbeitsunwilligkeit. Die kommt eher auf einer anderen Ebene rein. Die betrifft ja diese Idee, es gäbe in Deutschland einen Sozialstaat, der für alle da sei und den Migrant*innen einfach ausnutzen könnten, sozusagen indem sie ihre Rechte in Anspruch nehmen. Und das ist de facto ja einfach nicht so .

Also die Menschen beispielsweise aus der EU, haben einfach keinen Anspruch auf Sozialleistungen, wenn sie nicht arbeiten oder gearbeitet haben oder arbeitssuchend sind. Das sind ganz komplizierte Rahmenbedingungen und auch da frage ich mich manchmal, was mit uns los ist. Wenn man überlegt, dass die EU lange Zeit diskutiert wurde als eine Möglichkeit der Integration, die zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse führen könnte, langfristig, in der de facto aber eigentlich die gegenteilige Entwicklung passiert ist, nämlich dass es Orte gibt, die ein Arbeitskräftereservoir sind, den Leuten aber ,ratifizierte Rechte‘ nennt man das, verwehrt, also den EU-Bürger*innen trotz alledem keinen Zugang zu den sozialen Rechten in Deutschland gibt.

Das heißt, es hat genau eben nicht zu einer Integration, zu einer Gleichwertigkeit der Rechtsansprüche der Menschen in Europa geführt, sondern zu einer starken Ausdifferenzierung auf Kosten der Menschen aus den ärmeren Ländern.

Also Hand aufs Herz, es ist nicht so, dass die Leute weniger soziale Rechte haben, weil sie schon arm sind, sondern sie sind arm, weil sie keinen Zugang zu den sozialen Rechten haben. Das ist, glaube ich, die wichtigste Verkopplung, die wir in diesen Debatten haben.

Und der Sozialstaat ist immer schon dazu da, dass Arbeitende gegenüber ihrem Arbeitgeber, ihrer Arbeitgeberin weniger erpressbar sind. Dazu, dass sie Alternativen haben.

Nimmt man Menschen diese Alternativen, nimmt man auch die Chancen, sich gegen Ausbeutung zu wehren und Grenzen zu setzen. Und das ist dann die Folge.

#00:28:19-0#

Geraldine Mormin:

Vielen Dank. Dann stelle ich noch mal eine letzte Frage, bevor wir zu den Fragen von allen Anwesenden kommen und ich würde gerne noch mal als letztes mit Ihnen, Frau Carstensen, auf die Realität von prekären Beschäftigungsverhältnissen schauen. Sie haben da schon einiges angeschnitten, auch unter dem Stichwort Erpressbarkeit. Können Sie uns da noch mal mitnehmen? Wie ist die aktuelle Realität in diesen, in diesen Branchen? Und vielleicht gibt es auch was, das wir tun können, um Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen irgendwie zu unterstützen.

#00:28:53-9#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Ich habe noch mal in der Vorbereitung reingeguckt in eine Studie vom DGB. Die haben ja diesen Index, gute Arbeit, und haben da rekonstruiert: Wie geht es eigentlich Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland?

Und das war total interessant, weil die haben eine Studie gemacht, in der sie nur Leute mit deutscher Vorwahl, also nur Leute, die auch Deutsch sprechen und die formell arbeiten, befragt haben. Also sehr viele der Leute, die prekäre Arbeit haben, wurden von Forschungsdesign ausgeschlossen.

Und trotzdem haben sie eben sehr deutlich rekonstruieren können, dass Menschen mit jeglicher Art von Migrationshintergrund, also auch Menschen, die in Deutschland geboren sind, aber deren Eltern im Ausland geboren sind, eben weniger Geld verdienen.

Ich glaube, über 40 % der Befragten sagten, sie kommen mit ihrem Einkommen nicht über die Runden, dass sie sich starke Sorgen um die Zukunft machen, häufiger befristet arbeiten und häufiger als andere in diesen sogenannten einfach Arbeitsberufen oder Helfertätigkeiten, also unqualifizierte Arbeit ausüben, wo dann auch keine Aufstiegsperspektiven sind, eher Schichtarbeit und eher Leiharbeit. Und das sind halt eben diejenigen, die in die in die Daten eingehen, sozusagen.

Ich habe ja diesen Begriff der durch Migration geprägten Branchen eher so ein bisschen aus Hilflosigkeit für mein Forschungsprojekt ausgesucht, weil ich das Gefühl habe, wir wissen alle, wovon die Rede ist. Es gibt einfach Branchen, in denen ein sehr großer Anteil der Menschen sehr unterschiedliche, aber trotz alledem einschlägige Migrationserfahrungen selber macht und das den Umgangston in diesen Branchen quasi prägt.

Und das ist eben nicht nur keine Tarifbindung, kein Einhalten von Mindeststandards, sondern auch oftmals, das kannten wir aus der Fleischindustrie oder 24 Stunden Pflege, die Baubranche, ganz viele Fälle, die auch strafrechtlich relevant sind, wie Lohnraub, Einbehalten von Dokumenten, Überstunden, Anordnung, nicht Einhalten von Sicherheitsvorschriften etc.

Und da ist noch etwas, das dazu kommt, dass es für Migrantinnen oftmals zwar theoretisch möglich wäre, diese Fragen vor Gericht zu bringen, praktisch aber total schwierig und hochgefährlich, weil sie einfach gar nicht so lange vor Ort sind. Eventuell, weil Gerichtsverfahren über Jahre dauern, weil man das Geld auch einfach jetzt braucht, wenn man ohnehin sehr wenig verdient und keine Perspektive hat, dass jetzt in fünf Jahren diese 300 € irgendwie einzuklagen etc., so dass da ganz systematischer Rechtsbruch passiert in solchen Bereichen.

Ich glaube, man muss noch mal auf einige Mechanismen auch der Prekarisierung von Arbeit gucken, um auch zu überlegen, wo man was tun kann. Und das ist nämlich vor allem oftmals Outsourcing, Auslagerung von Arbeit sowohl an große Leiharbeitsfirmen als auch an kleine halb-formelle Klitschen, die dann oftmals rechtlich auch sehr viel schlechter greifbarer sind als auch die Infomalisierung von Arbeit.

Das habe ich ja jetzt auch schon sehr oft genannt. Also in Deutschland ist es nicht so, dass wir einen anderen informellen Sektor haben, der außerhalb des Staates funktioniert, sondern eher Arbeit ohne Arbeitserlaubnis, Arbeit ohne Vertrag, Arbeit, die über den Vertrag hinausgeht, Lohnabzüge für Arbeitskleidung, für Unterkunft, irgendwelche Arrangements vor Ort. Und denen ist auch sehr schwer mit Arbeitsinspektion beizukommen.

Also auch, um das auch gleich vorwegzunehmen, weil oftmals unter den Arbeitsinspektionen eher die Beschäftigten leiden, weil dann eben auffliegt, die haben ja gar keine Arbeitserlaubnis, oder die haben ja gar keinen gesicherten Aufenthalt. Beschäftigte haben selber also daran gar kein Interesse. Das wäre so was, wo man auch noch mal in einer praktischen Stellschraube gucken könnte. Wie könnte Arbeitsinspektion Beschäftigte auch noch stärker schützen?

Das wären jetzt so ein paar Schlaglichter. Sie wollten aber auch noch was, dass ich noch was dazu sage, was wir alle tun können. Natürlich hat alles, was wir hier sagen, damit zu tun, wie wir, wie wir konsumieren und wie wir leben. Wir können aber nicht einfach anders konsumieren, damit Leute nicht ausgebeutet werden. Wir können aber an gesellschaftlichen Debatten um die Regulierung von diesen Sektoren, um die es geht, teilnehmen.

Also wir können uns fragen Wie funktioniert eigentlich die Pflegeversicherung und warum ist da nicht genug Geld? Was ist mit der Krankenhausreform passiert etc.

Als Gesellschaft nehmen wir ja auch in verschiedenen Rollen an diesen politischen Debatten teil oder nehmen wahrscheinlich alle auch irgendwie Teil oder Anteil.

Das ist die Seite der Nachfrage nach Arbeit. Die andere Seite ist die Seite der Migrant*innen, der Beschäftigten und das sind Leute wie Sie und ich. Die wir alle kennen in unserem Leben, in unserem Alltag. Und es geht auf der Ebene ja darum, eben dafür einzustehen, dass Migrant*innen gleichen Zugang zu Rechten, gleiche Hilfestellungen bekommen wie andere Menschen. Das als ein antirassistisches, alltägliches Projekt.

Ich glaube sehr stark daran, dass auch diese Alltagsunterstützung was daran verändert, wenn auch nur einzelnen Leuten dabei geholfen wird, eben zu sagen, ich habe mich informiert, das ist so nicht richtig, denn dann verändert das ja was auf dem Arbeitsmarkt. Und insofern glaube ich auch, dass alltägliche Unterstützungsleistungen und ein Eintreten für die Rechte der Migration und der Migrantinnen zentral sind.

#00:34:04-1#

Geraldine Mormin:

Vielen Dank. Dann widmen wir uns mal den Fragen im Chat. Vielen Dank! Da sind jetzt schon einige angekommen. In vielen Diskussionen wird Wert daraufgelegt, dass Flucht, Migration und Arbeitsmigration getrennt wird und die Person, die das schreibt, vermutet, dass dies geschieht, um die humanitäre Sichtweise hervorzuheben. Aber verhindert das nicht auch, dass man Fluchtmigration auch als Chance begreift, den Arbeitskräftemangel bei uns zu reduzieren? Menschen, die schon hier sind, eine Ausbildung zu geben? Und falls diese wieder zurückgehen in ihre Heimat, hat dies ja vielleicht wiederum auch dort einen positiven Effekt. Was sind da Ihre Gedanken dazu?

#00:34:41-2#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Sowohl als auch. Ich fühle diese Frage gerade ganz stark, weil das war das, was uns damals in diesen Artikel bewegt hat. Und ich hatte ursprünglich auch noch eine Folie zu genau dieser Unterscheidung zwischen Flucht- und Arbeitsmigration. Ich glaube, es war strategisch eine sehr wichtige Entscheidung, auch der der Bewegung in den 80er und 90er Jahren genau diese humanitäre Perspektive hervorzuheben.

Und ich habe manchmal dieselbe Tendenz und ich glaube, viele Menschen um mich herum auch, um eben zu sagen, es müssen nicht alle Menschen nützlich sein in irgendeiner Form, um grundlegende Menschenrechte zu genießen.

Es kam aber genau nach dem Sommer der Migration 2015, genau diese Idee auf, es ist ein unglaubliches, ungenutztes Arbeitskräftepotenzial. Und die Leute wollen ja arbeiten.

Also es war bis dahin immer der Kampf um das Recht auf Arbeit, was die Geflüchteten umgetrieben hat. Und es gab dann ja auch sehr viele Initiativen, eben genau Menschen in Arbeit zu bringen, Arbeitsverbote aufzuheben etc.

Und ich glaube, es gibt Momente, an denen sich gezeigt hat, dass es nicht so gut funktioniert. Zum Beispiel gab es in den letzten Jahren immer wieder die Idee, dass die Leute, die aus der Ukraine kommen, die könnten dann ja auch in der Saisonarbeit eingestellt werden in der Landwirtschaft. Und dann ist einfach die Passung nicht da.

Es sind dann eben doch auch Menschen, die vor Krieg fliehen. Sind zwar vielleicht qualifiziert für bestimmte Berufe, haben aber vielleicht auch ein paar Jahre lang nicht daran gearbeitet, sind vielleicht auch traumatisiert. Das ist ja auch ein großes Thema in dem Bereich, also diese Vision, es ginge nur darum, so ein paar Qualifikationen anzuerkennen und so ein bisschen Matching zu betreiben hat eine große Ernüchterung erfahren in den letzten Jahren.

Insofern gibt es genau diese beiden Momente, also Arbeit, Zugang zum Arbeitsmarkt als Forderung, weil Arbeit eben das ist, was ein eigenständiges Leben auch in Deutschland und eine bestimmte Art gesellschaftlicher Integration ja auch überhaupt erst ermöglicht und Qualifikation, Wissenstransfer etc.

In der Praxis ist es aber meistens einfach dadurch, dass es Menschen sind und wir auch ein bisschen komplizierter und funktioniert nicht ganz genauso. Aber Projekte gibt es unglaublich viele, vor allem Projekte, geflüchtete Frauen in Arbeit zu bringen. Interessanterweise. Und eben diese Idee, die könnten ja jetzt hier den Fachkräftemangel stopfen, die, die geistert lange schon durch die Debatten. Danke für die Frage.

#00:37:08-9#

Geraldine Mormin:

Vielen Dank Ihnen für die für Antwort. Wie groß schätzen Sie die Rolle des demografischen Wandels in Deutschland in Bezug auf Fachkräftemangel und Arbeitsmigration ein?

#00:37:20-6#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Mir fehlen die Daten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Fachkräftemangel ein arbeitspolitisches oder ein arbeitsmarktpolitisches und nicht ein rein demographisches Problem ist.

Also klar gibt es einen demografischen Wandel. Klar gibt es auch diese Frage und die ist vor allem in Bezug auf die Pflegeberufe oder im Pflegesystem insgesamt von der total großen Bedeutung.

Der demographische Wandel ist aber nichts, das jetzt total überraschend kommt und der ist auch nicht was mit entsprechenden Arbeitspolitiken und Ausbildungspolitiken… also wenn jetzt Altenpflege, Krankenpflege total die attraktiven Berufe wären, dann hätte ich es auch gemacht. Dann gäbe es eine ganz andere Beschäftigungsstruktur in Deutschland. Und dass es das nicht ist, das ist ja das Resultat politischer Entscheidungen in diesem System, in diesen Versicherungen.

Und insofern glaube ich, dass es tatsächlich wichtig ist, auch darüber zu reden. Warum sind eben einige Berufe so stark abgewertet? Denn diese Frage wird dann ja wiederum auch auf die Migrierenden projiziert und die haben ja auch dieses Problem, diese Abwertung, die damit einhergeht. Also ist es ja nicht so dass, bloß, weil andere das machen, wird es nicht weniger abgewertet.

Gerade habe ich wieder so eine Studie gelesen, nein ich habe einen Verweis gelesen auf eine Studie, die gefragt hat: Was bräuchten Krankenpflegerinnen? Also wie viele würden zurückkommen, wenn sich die Bedingungen verändern würden und wieder in dem Beruf arbeiten, den sie aufgegeben haben? Und das ist das Dreifache des Bedarfs im Krankenhaussektor.

Das bedeutet, dass es eher strukturelle, arbeitspolitische Probleme gibt. Und die Migration ist eben der Weg, die nicht anzugehen.

Da kann man dann hoffen. Aber das ist auch wieder sehr romantisierend, dieses Projizieren, diese Verlagerung der gesellschaftlichen Aufgabe auf die Migrant*innen, aber dass vielleicht die Leute, die kommen, in den nächsten Jahren durch diese neuen Arbeitsanwerbeprogramme, dass sie wieder neue Forderungen mitbringen und einen gesellschaftlichen Wandel mit anstoßen können.

#00:39:18-3#

Geraldine Mormin:

Super. Vielen Dank. Dann zur nächsten Frage. Bei den Thesen hatten Sie das Zitat ‘Gegen den Rechtsruck hilft Solidarität‘ eingebracht. Und haben Sie dazu eine Idee, wieso medial und auch im parteipolitischen Spektrum so stark gegenläufige Entwicklungen überwiegen? So in meinen Worten: Warum steht das nicht überall?

#00:39:36-8#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Ja, das frage ich mich natürlich auch. Was ich mich auch immer wieder frage, ist, wenn wir über den Rechtsruck reden, warum wir dann nicht mehr über Rassismus und Sexismus reden?

Also warum wir das nicht auf einer inhaltlichen Ebene stärker thematisieren, um was es eigentlich geht. Und die Antwort darauf ist leider, weil da die Visionen fehlen, wie eine nicht sexistische, nicht rassistische Gesellschaft aussehen könnte.

Und eben diese Solidarität ist eine antirassistische Perspektive, die viel zu wenig präsent ist im Alltag und in diesen Debatten, weil es viel zu sehr um diese Idee geht: Ach ja, das Narrativ, das ist schon da. Also das ist tief eingeschrieben, dieser Rassismus hier und da muss man jetzt überlegen, zu wie viel Prozent man das bedient, an welchen Stellen man diese Zugeständnisse macht und wann eben nicht.

Also ich habe den Eindruck, die politische Diskussion verläuft sehr oft, ohne sich zu fragen, welche Konsequenzen das tatsächlich für echte Menschen hat. Und ich weiß nicht, ob das jetzt als Politikwissenschaftlerin sehr, sehr platt ausgedrückt ist… Aber ich glaube, das wäre halt auch eine strategische Aufgabe, das zu verdeutlichen, dass es halt nicht um Macht, politisches Geschachere geht, wenn es um Migrationspolitik geht, sondern um grundlegende menschenrechtliche Fragen, die eben Menschen auch wirklich in ihrer Existenz betreffen.

#00:41:07-5#

Geraldine Mormin:

Dann noch eine nächste Frage: Wie schafft man es in politischen und gesellschaftlichen Räumen das Argument, dass die Kommunen überfordert und überlastet sind, zu begegnen? Ist da tatsächlich was dran, wie man es die ganze Zeit hört?

#00:41:21-2#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Das ist es nicht. Das ist nicht das Problem der Migrant*innen, oder? Das ist auch kein durch Migration geschaffenes Problem, sondern das ist ein Problem, wie viele gesellschaftliche Probleme in Deutschland, die an diesem Thema verhandelt werden.

Aber diese Frage, wie die Kommunen finanziell ausgestattet sind, die steht ja erstmal für sich.

Und da gibt es ja politische Debatten drum herum und da gibt es auch Möglichkeiten, das anders zu machen.

Eigentlich müssen wir jetzt nicht in die Details gehen, dass dann irgendwie viele Aufgaben auf der Ebene der Kommune landen und in den Kommunen, die viel schwächer sind, noch viel mehr Probleme und viel mehr Ausgaben eigentlich anstehen, ist total klar.

Und das ist vielleicht auch noch mal was, was im föderalen System eine wichtige Rolle spielt. Und ich glaube, gerade diese Frage der Verteilung von Geflüchteten , dieses Hin und Herschieben von Kostenpunkten zwischen den verschiedenen Systemen, das hat nichts mit der entscheidenden Frage zu tun: Ist Migration gut oder schlecht oder in dieser Region angebracht oder nicht?

Sondern das ist eine Frage des Problems: Wo kommt das Geld her und rein? Also auch wieder eine politisch gemachte Entscheidung. Das ist, glaube ich, was mir das erst mal das Allerwichtigste ist zu sagen: Wir leben in einem sehr, sehr reichen Land, in dem die Kommunen eben sehr unterschiedlich ausgestattet sind. Und wo genau die, die die Aufgabe haben, die am nächsten an den Menschen dran sind, quasi die wenigsten Ressourcen dafür haben.

Also das ist vielleicht die Frage, also diese politische Auseinandersetzung um die lokale Ebene, eine, die man auch antirassistisch wenden kann, sagen kann: Ja, dann brauchen wir halt hier das Geld, um die Sachen, die wir als Menschen hier brauchen, auch haben zu können aber nicht, um sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Das wäre der Weg.

#00:43:08-1#

Geraldine Mormin:

Verstehe. Vielen Dank! Dann auch noch mal eine Nachfrage: Sie hatten im ersten Vortrag einen Text genannt, den Sie gelesen hatten, in dem es um eine transnationale, postkoloniale Perspektive ging. Und in diesem Zusammenhang auch den Triple Win-Gedanken. Könnten Sie das nochmal ein bisschen näher ausführen und gegebenenfalls die Literaturangabe noch mal nennen?

#00:43:29-9#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Ich poste das gleich, wenn ich denn den Link wieder gefunden habe. Es war eine Kollegin von mir, die forscht zur Anwerbemigration aus Indien. Da wird deutlich, wie in der Konsequenz eigentlich diese Fachkräfteprogramme dazu führen, dass in den Ländern, wo rekrutiert wird, Bildungssysteme entstehen oder die zukünftigen Migrant*innen Bildung in Anspruch nehmen an Privatuniversitäten etc., die schon gleich auf die Bedarfe des deutschen Arbeitsmarktes ausgerichtet sind. Also da war die Rede von Ausbildungsprogramm, in denen dann auch Deutsch unterrichtet wird etc. und damit im Prinzip ja die Verantwortung für die Ausbildung derjenigen, die in Deutschland arbeiten, an ärmere Länder abgegeben wird.

Aber auch das muss man sich ja auch immer fragen: Was bedeutet das gesellschaftlich, wenn es einfach Gruppen von Menschen gibt, die sich über Jahre lang darauf vorbereiten, nach Deutschland zu gehen und sich dort ein Leben aufzubauen, ohne zu wissen, was sie da erwartet, auch ob sie dableiben werden oder nicht. Also das muss man eben auch auf so einer gesellschaftlichen Mikroperspektive nachverfolgen.

#00:44:33-2#

Geraldine Mormin:

Ja, super, vielen Dank. Wunderbar. Dann vielleicht als allerletzte Frage von mir kurz vor Schluss, wenn Sie so in die Zukunft blicken, mit all diesen unterschiedlichen Facetten, die Sie hier für uns auch aufgeblättert haben: Wie blicken Sie in die Zukunft? Wie optimistisch sind Sie rund um das Thema Arbeit und Migration? Und vielleicht haben Sie auch noch einen Wunsch in die Zukunft hinein?

#00:44:56-4#

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen:

Na, ich blicke, glaube ich, wie viele andere auch, sehr ängstlich in die Zukunft. Erstmal.

Und zwar sowohl was die Zukunft in meiner Stadt, in meiner Kommune, wo ich lebe, in Kassel, als auch deutschlandweit, als auch weltweit.

Ich glaube, wir stehen vor starken Zuspitzungen. Viele der diskutierten Fragen, und ich wünsche mir da natürlich eine starke Perspektive der Arbeit und der Migration in diesen zukünftigen Auseinandersetzungen.

Und ich bin mir noch nicht sicher, wer dabei ist. Ich bin mir noch nicht sicher, mit wem die Bündnisse sein werden. Ich sage das auch immer in unserem globalen Netzwerk, dass ich mich immer wieder frage: Stehen wir am Ende der Arbeiter*innenbewegung oder am Anfang eines neuen Zyklus der Auseinandersetzung?

Und ich wünsche mir natürlich… wir leben in der Zeit der Krise und das birgt eben auch Möglichkeiten, Fragen anders zu stellen und Bündnisse anders zu bilden.

Und ich wünsche mir natürlich, dass wir das auch tun, auf irgendeine Art und Weise und dass da was Neues daraus entsteht.

Insofern blicke ich in die Zukunft mit dieser Idee. Wir haben da jede Menge Arbeit vor uns. Und noch mal, ich glaube, sowohl auf der Ebene der Arbeitspolitik, also der Frage: Wie ist Arbeit organisiert für alle? als auch der Frage: Wie können Migrant*innen ihren Platz in der Gesellschaft halten und verteidigen und wie kann dabei auch Unterstützung organisiert werden?

Und wie kann das Recht auf Migration gewährleistet werden?

Ich glaube, das sind die zentralen Auseinandersetzungen und das ist dann eigentlich die soziale Frage aus Sicht der Migration oder als antirassistische Frage formuliert.

#00:46:32-7#

Geraldine Mormin:

Ja, super. Vielen, ganz, ganz, ganz vielen lieben Dank, Frau Carstensen, dass Sie uns hier für eine Stunde Rede und Antwort gestanden haben und so viele, wie ich finde, tolle Richtungen, Gedanken, Perspektiven aufgefächert haben.

Mich hat vor allen Dingen auch diese globale Perspektive noch mal sehr beeindruckt. Das erscheint mir jetzt, wo ich drüber nachdenke, sehr, sehr logisch!

Vielen Dank von mir für auch gerade jetzt, für diese Ideen, wie wir es eben auch angehen können und dass Sie auch diese antirassistische Perspektive immer wieder stark gemacht haben.

Also ganz herzlichen Dank!

Und ich darf ganz zum Schluss den Hinweis geben rund um diese Reihe. ‚Es geht auch anders. Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft‘ geht weiter.

Und die fünfte Ausgabe dieser Reihe richtet die Petra Kelly Stiftung in Bayern aus. Unter dem Thema ‚Aktiv‘. Dort werden wir mit einem Vertreter der Organisation oder des Bündnisses ‚Offen‘ sprechen. Denn in Bayern hat dieses Bündnis eine ganz kreative und praktische Initiative gestartet rund um das Thema der Bezahlkarte und wie man dieses System in einer solidarischen Zivilgesellschaft aushebeln kann.

Das Bündnis ‚Offen‘ hat mehrere Wechselstuben in München organisiert, in denen diese Gutscheine, die die Menschen mit der Bezahlkarte kaufen können, gegen Bargeld getauscht werden können. Und dieses Projekt, das wächst die ganze Zeit und hat sehr großen Zuspruch.

#00:47:58-3#

Carmen Romeo:

Herzlichen Dank fürs Zuhören, wenn auch du möchtest, dass diese Visionen Realität werden, müssen diese Inhalte ein breiteres Publikum erreichen. Abonniere deshalb unseren Podcast. Teile den Link zu Folge mit deinen Freund*innen und deiner Familie usw. Jeder Klick hilft.

Wenn du weitere Folgen hören möchtest, findest du alle unter ‚Es geht auch anders!‘ in jeder Podcast-App deiner Wahl oder auf heimatkunde.de, das migrationspolitische Portal der Heinrich-Böll-Stiftung.

Den Link findest du wie immer in den Shownotes und auch live geht es weiter, voraussichtlich ab Mai. Das Programm unserer live Online-Diskussionen findest du im Böll-Kalender ebenfalls in den Shownotes. Bis zum nächsten Mal und bleibt solidarisch!

#00:48:38-1#