Migration als Teil deutscher Geschichte: Was können wir lernen?

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Historische Ein- und Auswanderungserfahrungen zeigen, dass die aktuelle Debatte um Flucht und Migration nur im Kontext der deutschen Geschichte zu verstehen ist.

Migration ist im gegenwärtigen Deutschland ein innenpolitisches Konfliktfeld: Deutschland zu Beginn des Jahres 2016 ist, so die fast einhellige Diagnose, überfordert. Fast eine Million Menschen sind im letzten Jahr nach Deutschland eingewandert, eine Einwanderung von kaum gekanntem Ausmaß.

Von kaum gekanntem Ausmaß? Sieht man sich die Geschichte der Einwanderung allein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, so relativiert sich diese Diagnose. Allein bis 1989 kamen über 700 000 Flüchtlinge aus Osteuropa und der DDR nach Westdeutschland, die Zahl der russischstämmigen Spätaussiedler nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion betrug über 2 Millionen Menschen.

Das vereinigte Deutschland reagierte zu Beginn der 1990er Jahre mit einer Welle des Hasses und der Gewalt auf die Asylbewerber/innen, die Politik agierte hilflos und verschärfte das Asylrecht. Bis sich schließlich Ende des Jahrzehnts die Erkenntnis durchsetzte, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und in seiner Geschichte immer wieder Wellen von gewollter und unwillkommener Einwanderung erlebte.

Umgang mit Einwanderung kontextabhängig

Migration ist seit dem 19. Jahrhundert ein globales Massenphänomen, das beschleunigt/möglich wurde durch die technische Erneuerung des Transportwesens, während die industrielle Revolution die Einwanderung in industrielle Zentren beschleunigte. Auch Deutschland erlebte in dieser Zeit Einwanderung aus anderen europäischen Ländern beziehungsweise Binnenwanderungen in die großen industriellen Zentren wie Berlin und das Ruhrgebiet. Diese Wanderungen waren in vielen Fällen ein Ventil für soziale und kriegsbedingte Notlagen. Die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Kriegsflüchtlingen ist daher aus der historischen Erfahrung heraus nicht aufrechtzuerhalten.

Allerdings beginnt parallel dazu seit dem 19. Jahrhundert, mit der Etablierung moderner Nationalstaaten und ihrer Idee von homogenen ethnisch-kulturellen Gemeinschaften, die Politik der Ausgrenzungen und neuen Definitionen von Zugehörigkeit. Die zunehmenden Massenwanderungen wurden begleitet von Einrichtungen staatlicher Kontrollinstanzen, Quarantänestationen, Transit- und Auffanglager – Maßnahmen, die der späteren staatlichen Regulierungs- und Abschottungspraxis vorausgingen.

Der Umgang mit Einwanderung ist demnach keine „natürliche“ Reaktion auf numerische Überforderung, sondern kontextabhängig, das heißt, sie wurde (und wird) definiert von ethnischen und in vielen Fällen rassistischen Weltbildern, die Zugehörigkeit definieren. Für Deutschland bedeutet das, dass der Umgang mit Einwanderern in unterschiedlichen Epochen sehr unterschiedlich war.

Deutlich wird dies an drei beispielhaften Flucht- und Einwanderungserfahrungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die in sehr unterschiedlicher Weise erlebt und tradiert wurden. Alle drei Ereignisse sind in das kollektive Gedächtnis eingegangen und haben die deutsche Erfahrungs- und Erinnerungspolitik entscheidend geprägt.

„Brain drain“ vorwiegend jüdischer Emigrant/innen

Während die Flucht der NS-Verfolgten lange Zeit in der Nachkriegszeit verschwiegen beziehungsweise als Vaterlandsverrat gebrandmarkt wurde, hat sich seit den 1970er Jahren die Erzählung von einem großen Verlust für die deutsche Geistes- und Kulturwelt durchgesetzt. Der „brain drain“ der überwiegend jüdischen Emigrant/innen wird nicht nur als Unrecht gewertet, sondern auch als ein Bruch in der deutschen intellektuellen Entwicklung gesehen. Ihre Rückkehr wurde zuerst beschwiegen und dann als Beweis für ein neues, ein demokratisches Deutschland ins Feld geführt.

Diese Vertriebenen sind Repräsentant/innen mit einem großen sozialen Kapital, was dieser Fluchterfahrung einen besonderen Platz in der nationalen Erzählung der Bundesrepublik gibt. Ihre Vertreibung hat ebenso die deutsche Haltung zu Flucht und Migration mitgeprägt und zum Narrativ einer spezifisch deutschen moralischen Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen beigetragen wie die allgemeine Menschenrechtsdebatte dies tat.

Migration und die deutsche Kriegsschuld

Die Flucht der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ist sehr viel ambivalenter in der nationalen Erzählung. Sie wird in den Kontext der deutschen Kriegsschuld gestellt und die Anerkennung des Opferstatus der Flüchtlinge wird in diesem Zusammenhang entsprechend widersprüchlich gesehen.

Andererseits ist die Wahrnehmung dieser Erfahrung fest im nationalen Gedächtnis verankert. In den ersten Jahrzehnten wurde sie untermauert durch die ethnische Zugehörigkeit der Flüchtlinge zur „deutschen Schicksalsgemeinschaft“. In den letzten Jahren hat sie einen hervorragenden Platz im öffentlichen Gedächtnis durch die Ikonographisierung der Fluchterfahrung durch mediale Bilder und filmische Erzählungen erfahren. Nachwievor gilt die Integration dieser Flüchtlinge als eine der gelungenen Beiträge im Gründungsmythos der Bundesrepublik.

Arbeitsimmigration ab 1956

Die Arbeitsimmigration ab 1956 als eine von als fremd definierten Einwanderer/innen wurde über einen langen Zeitraum als eine vorübergehende Erscheinung der Aufnahmegesellschaft interpretiert. Sie waren „Gastarbeiter“. Es dauert über mehrere Jahrzehnte, bis in der Bundesrepublik und in dem vereinigten Deutschland eine Debatte über die Integration der Eingewanderten und die Veränderungen im Verständnis von nationaler Zugehörigkeit entstand.

In der Folge hatte diese Einwanderungswelle die bisher weitreichendsten Folgen für die Neudefinition des Staatsbürgerrechts und der öffentlichen Debatte darüber, was es heißt, „deutsch“ zu sein. Sie hat auf einschneidende Weise die Politik gezwungen, sich mit der bis dahin geltenden ethnischen Definition des Staatsbürgerrechts kritisch auseinanderzusetzen und macht die heutige Debatte um Zugehörigkeit und Öffnung überhaupt erst möglich.

Wissen um historische Erfahrungen heute wichtig

Heute gilt Ethnie nicht mehr als ausschlaggebendes Kriterium der Zugehörigkeit. An ihre Stelle ist die kulturelle Definition von Nation als „Wertegemeinschaft“ getreten. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der besonderen deutschen Verpflichtung gegenüber Verfolgten und Opfern, das nachwievor von der Mehrheit der Deutschen geteilt wird, und einer zunehmenden Mobilisierung von rechts, die mit kulturethnischen Rassismen, mit nationaler Abschottung und Homogenisierung argumentiert.

Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass Migration kein aktuelles Phänomen ist, dass Menschen in großer Zahl aus den unterschiedlichsten Gründen oft über weite Strecken gewandert sind und Gesellschaften in erstaunlicher Weise aufnahmefähig sind, zeigt, dass das Wissen um diese historischen Erfahrungen einiges von der derzeitigen Hysterie eindämmen könnte. Die Empathie der meisten Deutschen angesichts der Flüchtlinge speist sich aus den Bildern des Krieges und der Verfolgung, aus denen die Menschen besonders aus Syrien kommen. Daher hat es nicht sehr lange gedauert, bis Bilder im öffentlichen Bewusstsein belebt wurden, die an die Flüchtlingswelle am Ende des Zweiten Weltkrieges erinnerten.

Historische und lebensgeschichtliche Parallelen dieser Art über die Zeiten und Räume hinweg verweisen zugleich auf ein politisches Statement: Die Fremden, die heute ankommen und denen kulturelle Fremdheit nachgesagt und immense Integrationsleistungen vorausgesagt werden, werden eines Tages auch dieses Land repräsentieren. Sie verdienen nicht nur unseren Schutz und unser Mitgefühl, sie sind auch ein Teil der Zukunft hier.