Vielfalt ist kein Selbstzweck

Interview

Filiz Keküllüoğlu ist seit acht Jahren Co-Sprecherin von Bunt-Grün, dem Empowerment Netzwerk von und für BIPoC bei Bündnis 90/Die Grünen. Im Interview mit Vjollca Hajdari spricht sie über ihre politischen Herzensthemen, die Herausforderungen, denen sie als Politkerin of Color begegnet und erklärt, wieso Vielfalt in der Politik kein Selbstzweck ist, sondern der Kompass für das demokratische Prinzip.

Portrait Filiz Keküllüoğlu

Filiz Keküllüoğlu hat an der Universität Mannheim Politikwissenschaft und Öffentliches Recht studiert. In London hat sie ihren Master in International Conflict Studies absolviert. Sie hält Lehraufträge an diversen Universitäten zu Rassismustheorien, (diskriminierungs-)kritischen Theorien und Bildungsungleichheit und promoviert zum Thema transnationale Bildungsbiographien. Sie arbeitet bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und ist zuständig für diskriminierungskritische Erwachsenenbildung, politische Bildung und Eltern-Empowerment.

In der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg ist sie gewählte Verordnete und aktiv in den Ausschüssen Schule und Sport sowie Wirtschaft und Ordnungsamt. Seit über acht Jahren ist Filiz Co- Sprecherin von Bunt-Grün, dem Empowerment-Netzwerk von und für BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) bei Bündnis 90/Die Grünen. Bunt-Grün setzt sich für inklusive Parteistrukturen und Empowerment von People of Color und Schwarzen Menschen innerhalb der Partei ein.

Vjollca Hajdari: Was motiviert dich, dich in der Politik zu engagieren?

Filiz Keküllüoğlu: Es motiviert mich sehr zu wissen, dass Veränderungen zum Besseren möglich sind – wenn man hartnäckig genug am Ball bleibt. Ich bin 2013 Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen geworden, weil ich die Vision von einer gerechten Gesellschaft habe, in der Klimaschutz und sozialer Zusammenhalt großgeschrieben werden. Dazu können Parteien einen erheblichen Beitrag leisten. Und damit politische Prozesse und Entscheidungen gerecht und sozial sind, müssen Parteien vor allem auch marginalisierte Gruppen nicht nur ansprechen, sondern in ihren eigenen Reihen repräsentieren. Und DAS ist bis heute eines der größten Herausforderungen aller Parteien. Es motiviert mich, dass uns Grünen durch das hartnäckige Engagement von Bunt-Grün die diskriminierungskritische, diversitätssensible Öffnung unserer Partei Schritt für Schritt gelingt und dass wir sogar auch den Bundesvorstand dahingehend bewegen konnten, dass wir in Bezug auf Diversität ein Umdenken erreicht haben.

Warum ist das wichtig?

Vielfalt dient nicht dem Selbstzweck, sondern ist der Kompass für das demokratische Prinzip. Denn jede politische Entscheidung hat unterschiedliche Auswirkungen auf privilegierte und benachteiligte Gruppen. Wenn wir Vielfalt in unserer Partei nicht berücksichtigen, dann können wir auch kaum die Lebensumstände von diskriminierten Gruppen in den Blick nehmen. Dazu zwei Beispiele:

Erstens: Vor allem Menschen mit geringem Einkommen – und davon sind vor allem Migrant*innen bzw. Menschen mit Rassismuserfahrungen, also BIPoC, besonders stark betroffen – wohnen in kleinen Wohnungen ohne Balkon oder ohne einen Garten – und oftmals an vielbefahrenen Hauptstraßen mit hohen Autoabgasen und schlechterer Luftqualität. Ergo sind BIPoC stärker von den Folgen des unzulänglichen Klimaschutzes betroffen. Und deshalb sind gerade für diese Menschen die Umgestaltung des öffentlichen Raumes – wie etwa in autofreie Spielstraßen – oder die Umwandlung von Parkplätzen in Parks – eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Klimapolitik bzw. die Mobilitätswende muss also inklusiv sein und die Perspektiven von Menschen mit Rassismuserfahrung berücksichtigen.

Zweitens: Wenn in Parteien, im Abgeordnetenhaus oder in der Bildungsverwaltung die Perspektiven derjenigen Menschen flächendeckend fehlen, die genau wissen, wie sich Diskriminierung und Rassismus im Bildungssystem anfühlen, dann ist es auch kaum verwunderlich, dass bis heute der bildungspolitische Wille fehlt und somit die entsprechenden bildungspolitischen Konzepte und Maßnahmen hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit nicht umgesetzt werden – wie viele empirischen Studien belegen.

Für welche Themen setzt du dich politisch ein?

Eines meiner Herzensthemen ist gute und gerechte Bildung. Das Bildungssystem ist durchzogen von institutioneller Diskriminierung. Schüler*innen erfahren noch viel zu oft Diskriminierung, die von ihren Lehrer*innen oder vom Lehrmaterial ausgeht. Das prägt Schüler*innen und verletzt viele. Es gibt immer noch Schulbücher, in denen Menschen mit Migrationsgeschichte als Fremde und als Bedrohung dargestellt werden. Ich habe die Vision, dass Schulen zu Orten werden, an denen offen und kritisch-konstruktiv über Diskriminierungen reflektiert werden kann und wo es verlässlichen Diskriminierungsschutz gibt. Doch auch in anderen Bereichen hat das Bildungssystem Nachholbedarf, etwa bei Digitalisierung und Klimabildung. Deshalb brauchen wir eine grundlegende Bildungswende.

Eine weitere wichtige Frage für mich ist: Wie erreichen wir eine moderne, digitale und agile Verwaltung? Ich finde, dass die Berliner*innen eine Verwaltung verdient haben, die zeitgemäß ist, der Digitalisierung nicht hinter hinkt und die Bedarfe und die Vielfalt der Stadtgesellschaft angemessen berücksichtigt! Die Verwaltung wirkt für viele wie ein verstaubtes, trockenes politisches Feld. Aber ich denke, dass die Verwaltung total spannend ist, weil sie den Rahmen in der Gesellschaft für viele Bereiche bestimmt – sei es für die Mobilitätswende, Klimawende, Digitalisierung, gute Bildung oder Abbau von Diskriminierungen.

Welchen Herausforderungen musstest du dich als Frau of Color in der Politik stellen?

Für Frauen of Color ist es keine Selbstverständlichkeit, politische Räume zu betreten und die eigene Perspektive einzubringen. Ich habe mehrere Anläufe gebraucht, bevor ich in der Partei aktiv werden konnte. Meine ersten Annäherungsversuche startete ich bereits während des Studiums. Weil ich Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung war, war ich davon überzeugt, dass die Grüne Partei mein politisches Zuhause sein wird. So bin ich immer wieder in die Sitzungen des Kreisverbandes in dem Bezirk gegangen, wo ich aufgewachsen bin. Doch hatte ich dort eher das Gefühl, fehl am Platz zu sein – obwohl das auch mein Bezirk war, dessen Entwicklung ich doch so gut kenne: steigende Mieten und Verdrängung von Nachbar*innen und Kleingewerbetreibenden, Obdachlosigkeit oder etwa die Segregation an Schulen.

Das Gefühl der Deplatzierung in der Partei konnte ich damals nicht in Worte fassen. Das Gefühl, nicht so ganz dazuzugehören, war mir auch aus dem Uni-Alltag bekannt. Doch mit Anfang 20 fehlten mir die Worte für dieses Gefühl und ich hatte noch nicht das rassismuskritische Bewusstsein. Das musste ich mir erstmal mit den Erfahrungen in verschiedenen Kontexten aneignen.

Was und wer hat dich empowert, die fehlenden Worte zu finden?

Mich hat das Wissen darüber empowert, dass wir in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft leben und dass dieses ominöse vage Gefühl der Deplatzierung nicht mein individuelles Einzelproblem ist. Es hat mich wahnsinnig empowert zu sehen, dass ich nicht allein bin, dass es so viele von uns gibt, die in diesem System nicht zurechtkommen. Und zwar weil das System gar nicht „will“, dass wir zurechtkommen, dass wir aufsteigen und einfach sein können, ohne defizitär abgestempelt zu werden – als „Frau“, als „Migrantin“, als „migrantisch“ gelesene Frau. Wenn ich als Frau of Color einen Raum betrete, das Wort ergreife und handle, weiß ich mittlerweile, dass ich nicht der vermeintlichen Norm entspreche und dass mir nicht per se Privilegien zustehen; ich muss mich beweisen und resilient sein.

Aber auch einige Persönlichkeiten spielen in meiner Biographie eine wichtige Rolle. Meinen Berufseinstieg hatte ich bei der Heinrich-Böll-Stiftung und es hätte mich nicht besser erwischen können als mit meinem Vorgesetzten Mekonnen Mesghena. Ich muss echt sagen, dass Mekonnen mein Mentor ist, der mit seiner sehr achtsamen Art meine Augen geöffnet hat. Das war sehr empowernd. Von da bin ich losgegangen und habe mich auf die diskriminierungskritische Reise gemacht.

Meine erste Station war die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Ich wollte mich zivilgesellschaftlich engagieren und nicht mehr so parteipolitisch. Ich muss ehrlich sagen, dass die fehlende Vielfalt und die relativ homogene Umgebung mich erstmal allgemein von Parteien zurückgehalten haben.

Du bist allerdings zu den Grünen gegangen.

Ja, weil ich relativ schnell festgestellt habe, dass es auch in NGOs wie Amnesty International in den Strukturen an pluralen Perspektiven fehlt und ein eurozentristisches Weltbild vorherrscht. Dann war für mich klar: Ich MUSS mich parteipolitisch engagieren, denn aus den Parteien heraus werden die Parlamente bestückt, die Regierungen gebildet und die Regierungsprogramme entschieden, die die Gesellschaft direkt gestalten.

Für mich kamen nur die Grünen in Frage – als die basisdemokratischste Partei. Grüne Werte verkörpern die Friedensbewegung, Frauenrechte, Umweltbewegungen, aber auch das Pro-Migrantische. Und bei diesem Anlauf war eine wichtige Sache anders: Das Empowerment-Netzwerk Bunt-Grün war 2013 gerade in der Entstehungsphase. Ich habe an den ersten Sitzungen teilgenommen und es war so ein bestärkender Moment zu erfahren, dass die anderen Bunt-Grünen im parteipolitischen Kontext dieselben Erfahrungen machen und auch das Gefühl kennen: Der Elefant ist doch im Raum, er nennt sich Rassismus und keiner sieht den oder was?

Wir reden hier innerhalb der Partei zum Beispiel über soziale Mietenpolitik und Verdrängung und dann spricht keiner der weiß positionierten Parteifreund*innen das Thema Rassismus auf dem Wohnungsmarkt an. Wie kann das sein? Darüber hinaus war uns klar: Wenn wir in unserer Partei Platz einnehmen wollen, dann müssen wir dafür auch die Parteistrukturen ändern, denn institutionell verankerte Ausschlussmechanismen benötigen institutionell verankerte Lösungen.

Wenn es um Strukturen geht, gibt es oft auch Widerstände. Welche Erfahrungen machst du innerhalb der Partei als Co-Sprecherin von Bunt-Grün?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Parteifreund*innen mein Engagement sehr wertschätzen und mir zu wissen geben, dass sie die Inhalte, die ich in unsere Partei reinbringe, und die politischen Maßnahmen, die ich mitentwickle, gut finden – ob es Parteiprogramme sind, Diskurse oder in verschiedenen Gremien wie im Diversitäts- oder Parteirat. Gleichzeitig besteht die Sorge, dass ein immer stärker werdendes Empowerment-Netzwerk die etablierten Strukturen ins Wanken bringen könnte. Mit dieser Ambivalenz, habe ich den Eindruck, werde ich wahrgenommen.

Als Pionier*innen sind wir Bunt-Grüne so ein bisschen an der Front und sprechen eben nicht immer angenehme Strukturfragen an. Am Anfang haben wir auch Gegenwind erfahren. Aber das gehört dazu und ist ein wichtiger Teil des Öffnungsprozesses jeder Institution. Was mich glücklich macht, ist, dass über nun mittlerweile sehr lange Zeit unsere Parteifreund*innen unser kontinuierliches Engagement zu schätzen gelernt und den Mehrwert erkannt haben. Und so ist uns gemeinsam gelungen, etwa durch den Berliner Parteibeschluss „Plural nach Vorne“ oder das Vielfaltstatut Türen für andere Schwarze Menschen und People of Color zu öffnen, damit sie es in Zukunft leichter haben, Parteiämter und Mandate zu erlangen.

Drei Menschen sitzen auf einer Bank vor einer großen Foto-Wand mit vielen unterschiedlichen Gesichtern.

Portraitreihe: Repräsentation, Teilhabe, Empowerment

Die plurale Migrationsgesellschaft wird in deutschen Parlamenten weiterhin kaum oder viel zu wenig abgebildet. Das ist ein Problem für die repräsentative Demokratie und für gerechte politische Teilhabe und Partizipation. Mit der Portraitreihe junger Politiker*innen of Color, die sich erstmals auf ein politisches Amt auf Landes- oder Bundesebene bewerben, möchten wir Stimmen und Perspektiven stärken, die im politischen Betrieb immer noch zu wenig repräsentiert und sichtbar sind. Hier geht es zu allen Interviews der Portraitreihe.

Wieso sind Sichtbarkeit und Repräsentation von marginalisierten Gruppen so wichtig in der Politik?

Es ist wichtig, damit wir auch Politik machen können, die sich an demokratischen Prinzipien misst. Denn wenn wir – BIPoC, Migrant*innen, Menschen mit Fluchterfahrung – in den Parteien fehlen, dann fehlen die Perspektiven eines bedeutenden Anteils dieser Gesellschaft. Und dieser Anteil kann und darf nicht länger ignoriert werden, nicht in einer Demokratie! Gerade in der Demokratie geht es um den Schutz und die Förderung von Marginalisierten und Benachteiligten. Und es ist ja auch keine Almosenspende, sondern eine Win-Win-Situation. Denn die Menschen aus verschiedenen Communities bringen ihre Ressourcen und Ideen für kreative Politikansätze und somit ja auch Power für die Parteien mit. Das ist das Qualitätsmerkmal von guter Politik und daran muss sich gute Politik messen.

Es ist wichtig, dass wir mit am Tisch sitzen und nicht nur irgendwie einen Teil des Kuchens abbekommen, sondern auch über das Rezept des Kuchens mitbestimmen. Die Spielregeln haben bisher hauptsächlich Menschen gemacht, die nicht von Diskriminierungen betroffen sind -  weder von Klassismus noch Rassismus. In Parteien sind auch kaum Menschen wie ich vertreten. Ich bin die Tochter von Arbeitsmigrant*innen. Ich kenne die Lebensumstände von Menschen, die in prekären Niedriglohnsektoren arbeiten und ausgebeutet werden. Ich denke, diese und zig andere unsichtbar gemachten Perspektiven und Erfahrungen können zu einer sozial gerechten Politik viel beitragen, die die Menschen ins Zentrum ihres Handelns rückt.

Gibt es etwas, das du jungen Menschen of Color, die sich politisch engagieren möchten, mit auf den Weg geben möchtest?

Wenn sich junge Menschen politisch engagieren wollen, würde ich ihnen sehr ans Herz legen, nicht allein in NGOs oder im Rahmen von sozialen Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter aktiv zu werden, sondern auch in die Parteien zu gehen. Denn die Parteien sind die Orte, die die politischen Entscheidungen mittragen, die Parlamente und die Regierungen bestücken. Und es ist sehr wichtig, dass junge BIPoC mehr und sichtbarer werden in Parteien und dort Verantwortung übernehmen, weil sie die Zukunft sind. Ich möchte nicht mehr, dass Politik über sie gemacht wird von Menschen, die ihre Lebensrealitäten nicht kennen.

Geht rein in die Parteien und ja, bildet auch Empowerment-Netzwerke und schöpft Kraft daraus! Total wichtig für mich ist auch, jungen Menschen mitzugeben, dass sie nicht an ihren eigenen Perspektiven zweifeln sollen, auch wenn die Mehrheitsgesellschaft damit (noch) nichts anfangen kann. Es ist wichtig zu wissen, dass die eigene Perspektive und die eigenen Erfahrungen eine Daseinsberechtigung haben und wertvoll sind.