Als erste Partei in Deutschland haben sich die Grünen mit dem Vielfaltsstatut zum Ziel gesetzt, die vielfältige Gesellschaft auf allen Ebenen der Partei zu repräsentieren. Das Statut ist Ergebnis eines langen Prozesses, an dessen Anfang die Selbstorganisierung von progressiven und marginalisierten Kräften innerhalb der Partei stand. Zwei Co-Sprecherinnen des Empowermentnetzwerkes "Bunt-Grün" zeichnen diesen Weg nach.
Vor 35 Jahren haben die Grünen mit dem Frauenstatut Erfolgsgeschichte geschrieben. Diesen Erfolg hat die Partei vor allem feministischen weißen Frauen zu verdanken, die erst einmal in autonomen Strukturen unter sich diskutierten und Forderungen entwickelten bevor sie diese an die Partei adressierten. Auch wenn Frauen* in der konkreten Basisarbeit mancherorts noch unter 50 Prozent liegen, finden sich in keiner anderen Partei so viele Frauen* unter den Mitgliedern (ca. 38 Prozent in 2020) und unter Amts- und Mandatsträger:innen (unter den Fraktionen im Bundestag weisen sie bspw. mit 58 Prozent seit 2017 den höchsten Frauenanteil auf).
Aber Geschlecht – vor allem ein nicht auf ein binäres Geschlechterverständnis reduziertes – ist nicht das einzige Vielfaltsmerkmal, auf das wir das Augenmerk in einer repräsentativen Demokratie richten müssen: Auf Basis einer horizontalen und intersektionalen Perspektive muss das Verständnis um Diskriminierungsdynamiken in Bezug auf Rassismus, Hetero- und Cissexismus , Ableismus und Klassismus erweitert werden, wobei keine Diskriminierungsform hierarchisiert wird. Denn Rassismus und Diskriminierungen strukturieren unsere gesamte Gesellschaft und damit auch alle gesellschaftlichen Institutionen – darunter auch Parteien.
Mit dem Vielfaltsstatut und der Einführung eines oder einer vielfaltspolitischen Sprecher:in im Bundesvorstand, was per Briefwahl nach der digitalen Bundesdelegiertenkonferenz im Dezember 2020 beschlossen worden ist, stellen wir Grüne uns als erste Partei der Realität, dass wir strukturelle Lösungen für strukturelle Probleme brauchen. Das neue Statut wird von der Partei – insbesondere in Analogie mit dem Frauenstatut – als “historischer Moment” gefeiert. Und es gibt viele Parallelen zum Frauenstatut, wenn auch (noch) nicht im Ergebnis, so aber bereits in der Entstehungsgeschichte:
Denn auch diesen Erfolg hat die Partei einer progressiven Bewegung zu verdanken, die erst autonom unter sich diskutierte, bevor sie Forderungen an die Partei adressierte und strukturelle Änderungen zum Abbau von Diskriminierung und für die Förderung von Vielfalt bewirkte.
Strukturelle Veränderungen brauchen progressive Bottom-up Bewegungen – der Berliner Weg
2013 haben wir Bunt-Grün – ein basisorientiertes Empowermentnetzwerk für Schwarze Menschen und Menschen of Color (Black and People of Color, BPoC) – gegründet. Wir bieten zum einen Schutzräume (‘safer spaces’) für den Erfahrungsaustausch sowie Räume für Empowerment, um BPoCs darin zu unterstützen bei den Grünen anzukommen und mittel- und langfristig verantwortungsvolle Aufgaben in Ämtern oder durch Mandate zu übernehmen. Ein wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeit besteht darin, gemeinsame Positionen zu erarbeiten, die wir in den Meinungsbildungsprozess der Partei einbringen. Unser Fokus liegt zwar auf Repräsentation und Empowerment von BPoCs, unser Netzwerk ist aber offen für alle Menschen, die sich für rassismus- und machtkritische sowie postkoloniale Perspektiven einsetzen und sich als Verbündete (‘Allies’) positionieren. Unser Empowermentnetzwerk basiert auf einem macht- wie auch rassismuskritischen und intersektionalen Ansatz. Allianzen, auch mit anderen marginalisierten Gruppen, sind für unseren Ansatz elementar.
Wir haben das Netzwerk 2013 gegründet, weil wir uns in vielen grünen Räumen bewegt haben, in denen rassismuskritische Perspektiven als Querschnittsthema gefehlt haben. Diskussionen und Vorträge zu Politikfeldern wie Wohnungs-, Sozial- und Bildungspolitik, aber auch Umwelt-, Klima- und Gesundheitspolitik wurden ohne die Einbeziehung von Betroffenen und ihrer Perspektiven verhandelt. Und auch heute ist es immer noch häufig so, dass Perspektiven, die nicht mit am Tisch sitzen, unberücksichtigt bleiben. Zwar häufig unbeabsichtigt, aber unabhängig von der Intention hat dies ausschließende und diskriminierende (politische, soziale, ökonomische) Folgen für Betroffene.
Die Selbstorganisation und das Engagement von grünen BPoCs war am Anfang in der Partei keine Selbstverständlichkeit. Unser Bestreben nach Sichtbarkeit und Stimme erfuhr starken Gegenwind. Aktivist:innen aus der Frauen- oder LSBTIQ*-Bewegungen kennen das allzu gut: Widerstände treten immer da auf, wo sich neue Gruppen formieren und bestehende Machtverhältnisse in Frage gestellt werden. Insbesondere, wenn diese Gruppe nicht nur einen kleinen, symbolischen Teil vom Kuchen möchte, sondern auch das Rezept mitbestimmen will. Für privilegierte Menschen haben diese Aushandlungen reale Konsequenzen, weil Umverteilung mit ihrer Machtabgabe einhergeht.
Der Kampf von Feminist:innen hat gezeigt: Wenn es um echte Veränderungen geht, helfen nur gezielte Förderungen und Quoten, um marginalisierte und unterrepräsentierte Gruppen gleichzustellen. Mit diesem Wissen hat Bunt-Grün im März 2015 auf dem Landesparteitag einen ersten Vorstoß gemacht und einen Antrag für eine PoC-Quote eingebracht. Der Antrag hat eine kontroverse Debatte im Berliner Landesverband ausgelöst und den damaligen Landesvorstand in Zugzwang gebracht. Statt einer Abstimmung zur Quote auf dem Landesparteitag wurde vorab ein “Kompromiss” ausgehandelt, der einen Antrag zur Gründung einer AG Diversity beinhaltet hat. In dieser wurde zwei Jahre lang sehr kontrovers diskutiert und um Positionen, Forderungen und Maßnahmen gerungen.
Das Ergebnis dieses erarbeiteten Prozesses findet sich im Antrag “Plural nach vorne”, der 2017 auf dem Landesparteitag verabschiedet wurde und mit dem zahlreiche strukturelle Veränderungen beschlossen wurden: Seit 2017 gibt es im Berliner Landesverband einen Diversity-Rat, zwei Antidiskriminierungsbeauftragte, Diversitätsbeauftragte in allen Bezirksvorständen, freiwillige Diversity-Trainings, Förderung von Empowerment für Menschen mit (potenzieller) Rassismuserfahrungen und eine Zielvereinbarung, die vorsieht, dass (rassistisch) diskriminierte Gruppen entsprechend ihres gesellschaftlichen Anteils in der Partei repräsentiert werden. Für 2021 hat sich die Berliner-Partei das Ziel gesetzt, die Repräsentation von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund von 31 Prozent zu erreichen.
Bunt-Grün hat sich über die Jahre beweisen müssen und bewiesen: Wir meinen es ernst mit der gerechten Repräsentation und der diskriminierungskritischen Politik und dafür investieren wir als (Basis-)Mitglieder unsere Freizeit, Herzblut und viel Energie. Wir sind zu einer Bewegung und einem neuen Machtfaktor gewachsen und erfahren innerhalb und außerhalb der Partei viel Unterstützung. Auf der anderen Seite sehen wir auch den Wandel, den wir als Partei durchlaufen haben und wie nicht nur der Landesvorstand, sondern auch viele Kreisverbände sich auf den Weg machen, ihre Strukturen, Perspektiven und Programme rassismuskritisch und inklusiver zu gestalten und zu leben.
Der Bundesvorstand erklärt Vielfalt zur Chef:innensache
Was in Berlin als bottom-up Bewegung angefangen hat, wurde vom Bundesvorstand top-down aufgenommen und zur Chef:innensache erklärt. Im Mai 2019 hat der Bundesvorstand die Arbeitsgruppe Vielfalt eingesetzt, die aus unterschiedlich positionierten Parteimitgliedern aus der Europa-, Bundes-, Landes- und Kommunalebene, BAG-Sprecher:innen, Netzwerk Bunt-Grün und Basis-Mitgliedern bestand und von externen Expert:innen beraten wurden. Geleitet wurde die Arbeitsgruppe von der damaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden und frauenpolitischen Sprecherin Gesine Agena. Ziel der Arbeitsgruppe war es Vorschläge zu erarbeiten, wie Hürden und Diskriminierungen abgebaut und Vielfalt aktiv gefördert werden kann, damit sich die Vielfalt der Gesellschaft auch auf allen Ebenen der Parteistruktur und politischen Prozessen der Grünen widerspiegelt.
Als Bunt-Grüne haben wir gemeinsam mit den Mitgliedern der AG Vielfalt um Maßnahmen gerungen, die unsere Strukturen weiterentwickeln, damit sie in Bezug auf Geschlecht, rassistische Zuschreibungen, Religion und Weltanschauung, Behinderung oder Erkrankung, das Lebensalter, die Sprache, die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität, den sozialen oder Bildungsstatus oder die Herkunft nichtdiskriminierend wirken. Im Dezember 2020 wurde das “Statut für eine vielfältige Partei” und die Einführung einer oder eines vielfaltspolitischen Sprecher:in per Briefwahl final abgestimmt und beschlossen. Neben dem neuen Sprecher:inposten wurde 2021 auch ein Vielfaltsreferat in der Bundesgeschäftsstelle und ein Diversitätsrat auf Bundesebene eingerichtet, die gemeinsam Maßnahmen zur angestrebten gleichberechtigten Teilhabe und Repräsentation von (rassistisch) diskriminierten Gruppen entwickeln. Zur Repräsentation heißt es im Vielfaltsstatut, dass diskriminierte oder benachteiligte Gruppen mindestens gemäß ihres gesellschaftlichen Anteils auf allen Ebenen der Partei vertreten sein sollen und die Entwicklung alle zwei Jahre wissenschaftlich fundiert evaluiert und das Ergebnis auf der Bundesdelegiertenkonferenz vorgestellt wird. Das Statut beinhaltet aber nicht nur strukturelle Veränderung, sondern stellt mit der Einführung des Vielfaltscent (ein Cent von jedem Mitgliedsbeitrag) ein Mindestmaß an Mitteln zur Verfügung. Damit sollen einerseits Parteimitglieder befähigt werden, eigene Denkmuster zu hinterfragen und die eigene Rolle, Position und damit einhergehende Verantwortung in der Gesellschaft zu reflektieren, und andererseits Empowermentangebote für Menschen mit Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung zu organisieren.
Das ist eine wichtige und notwendige - und eine schon längst überfällige - Zielsetzung, weil Repräsentation eine zentrale Frage der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Vielfalt ist. Gleichzeitig wissen wir aber – vielleicht besser als jede andere Partei – dass Gleichstellung ohne eine verbindliche Quotenregelung nicht funktioniert. Die Soll-Formulierung im Vielfaltsstatut zur Repräsentation empfiehlt zwar mehr oder minder eindringlich, dass alle Gliederungen und Gremien auf Repräsentation achten und diese umsetzen sollen, doch viel wird davon abhängen, inwieweit jede:r Einzelne sich dem verpflichtet fühlt und bereit ist, das Statut an dieser Stelle mit Leben zu füllen, sich mit diskriminierten Gruppen zu solidarisieren und ggf. eigene Privilegien abzugeben, um den Platz für gerechte Repräsentation freizumachen.
Reicht das Vielfaltsstatut um Grün Bunt zu machen?
Gerade in Bezug auf Rassismus und Menschen mit Rassismuserfahrung (BPoC) haben wir Grüne – sowie alle Parteien im linken Spektrum – noch einen langen Weg vor uns. Denn das Selbstverständnis als antirassistische Partei führt häufig dazu, dass Rassismus am rechten Rand der Gesellschaft verortet wird und mit einer Ableugnung von Unterschieden (“ich sehe keine Farben”) einhergeht. Mit der neuen Ära, die mit dem Vielfaltsstatut in der Grünen Partei aufbrechen muss, sind vor allem Entscheidungsträger:innen in der Partei gefragt, immer wieder über die Strukturen, formellen Routinen und informellen Gewohnheiten kritisch zu reflektieren, die weiß positionierte Menschen privilegieren, weil andere Gruppen rassistisch diskriminiert werden. Dieser Prozess muss mit der Erkenntnis einhergehen, dass die Gleichbehandlung ungleicher Gruppen eine Form der Diskriminierung ist, die u.a. durch Affirmative Action (Fördermaßnahmen) aufgebrochen werden kann.
Dieses neue Bewusstsein in alle Gliederungen der Partei zu tragen wird nur gelingen, wenn dies top-down so vorgelebt wird. Eine tragende Rolle wird dabei der*/dem vielfaltspolitischen Sprecher:in im Bundesvorstand zukommen. Die Erwartungen von Bunt-Grün an diesen Posten sind klar: Wir erwarten, dass diese Funktion mit Kompetenzen ausgefüllt wird, die rassismuskritisches Denken und Handeln ermöglicht – und zwar in allen Politikfeldern; dass sie Ausschlüsse erkennen, verstehen, kommunizieren – und auch parteiöffentlich besprechbar machen kann; und dass sie das Dilemma zwischen vermeintlichem Verbündet-Sein (Allyship) und Unsichtbarmachung der eigentlichen Akteur:innen zu navigieren weiß. Letzteres beginnt schon damit, die gegenwärtige Errungenschaft des Vielfaltsstatuts nicht verzerrt darzustellen und den jahrelangen Kampf marginalisierter Gruppen nicht aus dem Blick zu verlieren – oder gar unsichtbar zu machen.
Die fehlende Verbindlichkeit in Form einer Quote im Vielfaltsstatut zeigt auch noch mal deutlich, dass BPoCs ihr Recht auf Repräsentation einfordern müssen. Das wird nur durch bundesweite Vernetzung von grünen BPoCs, Empowerment und Erfahrungsaustausch gelingen. Unsere Erfahrungen mit den strukturellen Veränderungen, die der Beschluss “Plural nach vorne” ermöglicht haben, haben uns gezeigt, dass gerechte Repräsentation – also jenseits von Tokenism – weiterhin starke bottom-up Bewegungen brauchen. Denn wir Grüne sind eine Partei der Bewegungen, ob Öko- und Anti-Atom-Bewegung, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung, ob Lesben-, Schwulen-, Eine-Welt- und Friedensbewegung oder Freiheitsbewegung der friedlichen Revolution – progressive Veränderungen brauchen progressive Kräfte wie Bunt-Grün, um die neue Diversitätsbewegung in die Partei und von der Partei in die Gesellschaft zu tragen.