von Judith Kopp
Mit den revolutionären Umbrüchen in Nordafrika zu Beginn des Jahres 2011 verlor die Europäische Union verlässliche Partner ihrer Politik der Migrations- und Fluchtverhinderung. Seit die autoritären Regime Tunesiens und Ägyptens durch die Demokratiebewegungen gestürzt wurden, werden die Repräsentanten der Übergangsregierungen unter Druck gesetzt, um die Blockadepolitik fortzusetzen.
Rund 17.000 Menschen verloren nach Schätzungen von Fortress Europe in den letzten zwanzig Jahren entlang der europäischen Außengrenzen ihr Leben, etwa 12.200 davon im Mittelmeer und im Atlantischen Ozean. Mitverantwortlich für diese Tragödien ist eine Politik von Seiten der Europäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedstaaten, die insbesondere auf die Verhinderung von Flucht und Migration in Richtung Europa abzielt. Doch die revolutionären Umbrüche in den afrikanischen Mittelmeeranrainerstaaten führten zu neuen Flucht- und Migrationsbewegungen über das zentrale Mittelmeer: Knapp 30.000 Flüchtlinge erreichten in den ersten vier Monaten dieses Jahres in maroden Holzbooten die Küsten Italiens und rund 1.500 die Insel Malta. Italien rief bereits nach den ersten Anlandungen den „Notstand“ aus und verlangte die Unterstützung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. So schnell wie möglich sollte das Mittelmeer wieder zum „Mare Nostrum“ werden, indem die Fluchtwege blockiert werden.
Jahrelang hatte man die Machthaber entlang des Mittelmeers hofiert – auch Zine el-Abidine Ben Ali, Husni Mubarak und Muamar-Al Gaddafi galten als geeignete Torwächter des europäischen Territoriums. Zwar beteuert Europa, dass es den demokratischen Wandel im Norden Afrikas begrüße. Ignoriert wird dabei jedoch, dass die Forderung der Revolutionäre nach demokratischen Freiheitsrechten vor dem Anspruch auf Reisefreiheit nicht Halt macht. Brüssel und einzelne Mitgliedstaaten verschließen vor diesen demokratischen Ansprüchen die Augen – bislang zeichnet sich kein grundlegender Wandel der Migrations- und Fluchtverhinderungspolitik Europas ab.
Vorverlagerung der Grenzen
Diese Politik war bis zu den revolutionären Umbrüchen in Nordafrika aus Sicht der EU eine Erfolgsgeschichte. Insbesondere zwei Strategien ergänzen sich dabei: Zum einen rüstet die Europäische Union ihre Außengrenzen auf. Zäune und Mauern gehören mittlerweile zu ihrem festen Repertoire. Gleichzeitig ist Frontex an den verschiedensten Grenzabschnitten präsent, um ‚Eindringlinge’ vor der Wohlstandsinsel Europa abzuwehren. Zum anderen werden die europäischen Grenzen bis an den Rand der Sahara vorverlagert. Die Grenzkontrollen der EU finden längst nicht mehr an den tatsächlichen Außengrenzen des Schengen-Territoriums statt, sondern vornehmlich auf außereuropäischem Terrain. Die Bemühungen der EU, im Bereich der Migrationsregulierung verstärkt mit Herkunfts- und Transitländern zusammenzuarbeiten, sind mit dem Haager Programm 2004 zu einem zentralen Bestandteil der Politik an den EU-Außengrenzen geworden. (1) Drittstaaten werden als Grenzwächter in die europäische Migrationsverhinderungspolitik eingespannt – oftmals als Gegenleistung für Entwicklungshilfsgelder. Der Einfluss der Europäischen Union reicht sogar so weit, dass in mehreren nordafrikanischen Transitstaaten ein neuer Strafbestand geschaffen wurde: Zahlreiche junge Menschen sitzen seither mit Verdacht auf „illegale Ausreise“ oder Beihilfe dazu im Gefängnis. Entsprechende Gesetze wurden in Marokko (2003), Algerien (2008), Tunesien (2004) und Libyen (2010) erlassen.
Was die Einbindung der Drittstaaten in die europäische Migrationskontrollpolitik angeht, so wird im EU-Jargon gerne von „Mobilitätspartnerschaften“ gesprochen. Dabei werden vermeintliche „win-win-Situationen“ prognostiziert, von denen Zielstaaten wie auch Herkunftsländer profitieren sollen. Das „win“ der Herkunftsländer liegt in Programmen „legaler Migration“, Visaerleichterungen und Hilfsgeldern, die ihnen von europäischer Seite gewährt werden. Als Gegenleistung müssen die Partnerstaaten an der Bekämpfung „irregulärer Migration“ mitwirken. (2) Die Grenzen der EU verlieren mit den Mechanismen der Externalisierung ihre konventionelle – lineare – Bedeutung in Anbetracht der unterschiedlichen Abwehrmechanismen, die den Zugang von Nicht-EU-BürgerInnen zum europäischen Territorium regulieren, kontrollieren und insbesondere verhindern.
Ein zentrales Element dieser Politik sind Abkommen, die die Rückschiebung von Flüchtlingen und MigrantInnen ermöglichen. Die Europäische Kommission nahm bereits im September 2000 mit Marokko Verhandlungen über ein Rückübernahmeabkommen auf, 2002 folgten Annäherungen an Algerien, und weitere Abkommen mit Ägypten und Tunesien wurden auf die Agenda gesetzt. Im selben Jahr identifizierte der Europäische Rat neun Staaten, mit denen die EU die Kooperation im Politikfeld Migration und Grenzsicherung stärken sollte. Darunter waren wiederum Marokko, Tunesien und Libyen. Dass es sich bei diesen Ländern um diktatorische Regime handelte, in denen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung waren, wurde von Europa billigend in Kauf genommen.
Neben dem Ziel, die autoritären Regime in die Migrationsabwehr einzuspannen, spielten auch wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen eine bedeutende Rolle. Insbesondere libysches Öl und Gas waren im Streben nach Energiesicherheit von Bedeutung: Nach Angaben der Internationalen Energieagentur gingen rund 85% aller libyschen Öl-Exporte in europäische Staaten – insbesondere nach Italien, Deutschland, Frankreich und Spanien. Auch im Kampf gegen Islamisierungstendenzen waren die autoritären Regime zuverlässige Partner.
Italienisch-libyische Kooperation: „Mehr Gas, mehr Benzin, weniger illegale Einwanderung“
Wenn die geplante Kooperation mit Drittstaaten auf europäischer Ebene noch nicht umgesetzt werden kann, werden stattdessen über bilaterale Abkommen einzelner Mitgliedstaaten ganze Grenzabschnitte unpassierbar gemacht. So kooperierte Italien bereits seit Mitte der 1990er Jahre mit der Diktatur Libyen. Seit 1998 wurden weitere Rückübernahmeabkommen mit den Machthabern in Tunesien, Marokko und Ägypten abgeschlossen.
Neben der Unterzeichnung von Rückübernahmeabkommen trugen polizeiliche Kooperationen und die Entsendung italienischer VerbindungsbeamtInnen aus dem Innenministerium in die Mittelmeeranrainerstaaten zu einer immer effektiveren Zusammenarbeit im Kampf gegen „irreguläre Migration“ bei. (3) Anreize wurden von italienischer Seite durch erweiterte Möglichkeiten legaler Einwanderung aus den Kooperationsstaaten, Entwicklungsgelder, technische Unterstützung, Trainingsprogramme für Behörden sowie internationale politische Unterstützung und Handelspartnerschaften geschaffen. Im Rahmen des italienisch-tunesischen Rückübernahmeabkommens von 1998 wurden gar tunesische Haftzentren von Italien finanziert.
Am ‚effektivsten’ war die Kooperation Italiens mit Libyens Diktator al-Gaddafi. Sie erreichte einen ersten Höhepunkt 2004 und 2005, als Tausende Flüchtlinge direkt von der Insel Lampedusa nach Libyen abgeschoben wurden. Im Frühjahr 2009 bekam die Kooperation eine neue Qualität: Anfang Mai begann Italien, Bootsflüchtlinge auf hoher See aufzugreifen und nach Libyen abzudrängen. Nur eine Woche später kündigten die beiden Staaten gemeinsame Patrouillenfahrten in libyschen und internationalen Gewässern an. Kurz nachdem die neue Zusammenarbeit angelaufen war, wurden 500 Bootsflüchtlinge gewaltsam nach Libyen zurück verfrachtet. Die Anzahl der Boote, welche die Reise von Libyen nach Italien wagten, nahm daraufhin rasant ab und die Haftzentren auf Lampedusa leerten sich im Laufe des Sommers.
Die enge Kooperation zwischen Libyen und Italien war im August 2008 durch den „Vertrag über Freundschaft, Partnerschaft und Kooperation“ weiter vertieft worden. Die darin vereinbarte italienische Geldzahlung an Libyen in Höhe von 5 Milliarden Dollar wurde als Kompensation für die Verbrechen durch Italien während der Kolonialzeit (1911-1943) ausgewiesen. Im Vertrag wurde auch die Absicht einer „intensivierten“ Kooperation bei der „Bekämpfung von Terrorismus, organisiertem Verbrechen, Drogenhandel und illegaler Migration“ festgehalten. (4) „Wir werden mehr Gas und Benzin aus Libyen bekommen und weniger illegale Einwanderung“, war Berlusconis zuversichtliche Prognose kurz nach Beginn der gemeinsamen Aktionen im Mittelmeer. Innenminister Roberto Maroni forderte die übrigen EU-Staaten auf, sich der erfolgreichen italienischen Strategie anzuschließen und rühmte sie ein „Modell für Europa“.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), der Menschenrechtskommissar des Europarates sowie der Vatikan zeigten sich tief besorgt über diese Abschiebepraxis. Auch im Jahresbericht von Amnesty International von 2010 wurde Italiens Kooperation mit Libyen aufs schärfste kritisiert. Der italienische Außenminister Franco Frattini nannte den Bericht „schändlich“ und wandte ein, Italien sei das Land, das die meisten Bootsflüchtlinge auf See gerettet habe. Aber die Realität auf hoher See straft diese humanitäre Rhetorik Lügen: In vollem Bewusstsein und mit Billigung der EU wird mit dem Abdrängen von Bootsflüchtlingen auf See der wichtigste Grundsatz der Genfer Flüchtlingskonvention verletzt, das Non-Refoulement-Prinzip. Denn Schutzsuchende werden daran gehindert, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Zurück in Libyen, wo ein funktionierendes Asylsystem nicht existiert, wird ihnen jeglicher Schutz verwehrt.
Kooperation mit Diktaturen – Ein Modell für Europa?
Mit dem „Schurkenstaat“ Libyen zu kooperieren, wurde von der EU lange Zeit für nicht vertretbar erachtet. Diese Haltung spiegelte sich in wirtschaftlichen Sanktionen und einem Waffenembargo von 1992 bis Oktober 2004 wider. Noch am gleichen Tag, an dem das Embargo aufgehoben wurde, kündigte der Rat an, mit Libyen im Bereich der Migrationsbekämpfung zusammenarbeiten zu wollen. Den Wandel vom sanktionierten ‚Schurkenstaat’ hin zu einem salonfähigen Kooperationspartner schien Libyen binnen Stunden vollzogen zu haben.
Die Kooperationsbemühungen mit Libyen wurden 2004 mit einer „technical mission“ der EU- Kommission konkretisiert. Obwohl der Bericht der Delegation die Haftbedingungen von Flüchtlingen und MigrantInnen in Libyen kritisierte, sollte eine Zusammenarbeit weiterhin angestrebt werden. Handfest wurde diese Kooperation schließlich in Form von technischen Hilfslieferungen an Libyen; darunter in zynischer Voraussicht auch tausend Leichensäcke. Eine weitere Delegationsreise nach Libyen unter der Leitung der Grenzagentur Frontex fand im Frühjahr 2007 statt. Der entsprechende Bericht dokumentiert, dass zum Zeitpunkt des Aufenthaltes der Delegation etwa 60.000 Flüchtlinge und MigrantInnen in Libyen inhaftiert waren. Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge hatte Libyen Flüchtlinge und MigrantInnen misshandelt und eritreische Schutzsuchende in ihren Verfolgerstaat abgeschoben. Dessen ungeachtet forderte die europäische Delegation von Libyen eine ‚Wunschliste’ fehlender Materialien an. Geliefert wurden Kommandostände, Überwachungsradars, Nachtsichtgeräte, Fingerabdruck- und Bilderkennungssysteme, satellitengestützte Kommunikation, Navigationsgeräte, Lastwagen („für die Entfernung von Wüsteneindringlingen“) sowie Patrouillenboote. Die von der EU vorangetriebenen Kooperationsverhandlungen mit Libyen führten seit 2004 auch zu mehreren finanziellen Investitionen in Libyen. Im Bereich der Migrationskontrolle finanzierte die EU mehrere Projekte mit, welche vom italienischen Innenministerium, von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UNHCR durchgeführt wurden. (siehe Box).
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Finanzielle Kooperation EU-Libyen 2004-2009
Was allerdings noch fehlte, war ein Rahmenabkommen zur rechtlichen Fundierung der Zusammenarbeit zwischen der EU und Libyen. Nach acht Verhandlungsrunden konnte am 5. Oktober 2010 zumindest ein Teilabkommen über Migrationszusammenarbeit mit Libyen unterzeichnet werden. Die EU verpflichtete sich darin, Libyen für den Zeitraum 2011 bis 2013 rund 60 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Der Zeitpunkt war brisant: Kurz zuvor hatte Libyen das UNHCR des Landes verwiesen, was das EU-Parlament zu einer unmissverständlichen Stellungnahme veranlasste: In den libyschen Auffanglagern komme es „zu Misshandlungen, Folter und Ermordungen“ und Flüchtlinge würden „im menschenleeren Grenzgebiet zwischen Libyen und anderen afrikanischen Staaten ausgesetzt“ (5), so die ParlamentarierInnen. Dennoch blieb das Rahmenabkommen mit Gaddafi auf der europäischen Agenda.
Im Januar 2011, nur wenige Wochen bevor die demokratischen Proteste Libyen erreichten, bezog das Europäische Parlament erneut Stellung zu den fortgeführten Verhandlungen mit Libyen: Es forderte den Rat nachdrücklich auf, „Libyen dringend zu empfehlen, die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und deren Protokoll von 1967 zu ratifizieren, einschließlich uneingeschränkter Zusammenarbeit mit dem UNHCR, um Migranten einen angemessenen Schutz und angemessene Rechte zu garantieren, und ein Asylgesetz zu verabschieden, durch das der Status von Flüchtlingen und ihre Rechte entsprechend anerkannt werden, insbesondere das Verbot von Kollektivausweisungen und der Grundsatz der Nichtzurückweisung“ (6). Noch in dem Entwurf zu der Empfehlung war folgende Forderung an den Rat formuliert worden: „das angestrebte Rückübernahmeabkommen mit Libyen aufzugeben, da die Abschiebung von Personen in Länder, in denen die Menschenrechte nachweislich dauerhaft verletzt werden und die Todesstrafe vollstreckt wird, gegen die gesetzlichen Verpflichtungen der EU zum Schutz der Menschenrechte verstoßen würde“ (7). Es waren jedoch nicht die Mahnungen des EU-Parlaments, die im Februar 2011 zum Abbruch der Verhandlungen zwischen der EU und Libyen führten. Zum Einlenken der EU-Kommission führten erst die brutalen Gewaltexzesse, die Gaddafi gegen seine eigene Bevölkerung verübte und die diese zu Tausenden auf die Straßen von Tripolis und Bengasi trieben. Ende Februar, als Gaddafi bereits international völlig isoliert war, kündigte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton an, die Verhandlungen mit Libyen auszusetzen.
FRONTEX-Seeoperationen: Arbeitsteiliger Völkerrechtsbruch
Die Grenzschutzagentur Frontex spielt seit ihrer Gründung im Jahr 2004 eine immer wichtigere Rolle an den südlichen Außengrenzen der EU und insbesondere im Mittelmeer. Die Operation „Nautilus“, die auf die Fluchtroute zwischen Nordafrika und Italien/Malta ausgerichtet war, zeitigte bis 2008 noch keinen Erfolg: Keine einzige Person konnte nach Nordafrika zurück¬geschoben werden. Ein zentraler Grund war, dass es Frontex nicht gelungen war, ein Arbeitsabkommen mit dem wichtigsten Transitland Libyen zu schließen.
Richtig ins Laufen kamen die Operationen Mitte Juni 2009, als 74 Bootsflüchtlinge – darunter Frauen und Kinder – 110 Meilen südlich von Malta im zentralen Mittelmehr von der italienischen Küstenwache aufgehalten und nach Libyen zurückgewiesen wurden. Um eine rein bilaterale Operation handelte es sich hierbei nicht. Das Szenario des „arbeitsteiligen Völkerrechtsbruchs“ (8) spielte sich folgendermaßen ab: Eine deutsche Hubschraubereinheit hatte die Informationen über die Ortung eines Flüchtlingsboots "zuständigkeitshalber" an die maltesische Küstenwache weitergegeben. Diese wiederum informierte die italienischen Kollegen, die nach Abfangen des Bootes die Flüchtlinge einem libyschen Patrouillenboot übergaben, das sie nach Tripolis brachte und dort einer Militäreinheit überstellte. Die deutsche Regierung beteuerte nach den Geschehnissen jedoch, die Aktion sei keine Maßnahme im Rahmen der Frontex-Operation Nautilus gewesen: Keiner will die Verantwortung für die Einsätze auf hoher See übernehmen.
Die intensive Zusammenarbeit zwischen Frontex, Italien, Malta und Libyen wurde in höchsten Tönen gelobt. Der Vize-Direktor von Frontex, Gil Arias-Fernandez, führte die erfolgreiche Entwicklung der anfänglich zähen Nautilus-Operation hauptsächlich auf die neue Intensität der Kooperation zwischen Italien und Libyen zurück. (9) [].
Neue Demokratiebewegungen – alte Blockadepolitik
Seit Mitte Februar 2011 wurde das zentrale Mittelmeer auf einen Schlag erneut zur wichtigsten Fluchtroute aus Nordafrika: Der Ausfall der Grenzkontrollen im Zuge der demokratischen Umbrüche im Maghreb hatte den Seeweg unerwartet geöffnet. Bis Ende April landeten rund 30.000 Bootsflüchtlinge auf Lampedusa. Italiens Innenminister, Roberto Maroni, sprach bereits nach den ersten Ankünften von Flüchtlingsbooten von einem „Exodus biblischen Ausmaßes“, gegen den Frontex in Stellung gebracht werden sollte. Bereits Jahre zuvor hatte Italien es verstanden, mit militärischen Begriffen wie „Invasion“ oder „Angriff auf die italienischen Küsten“ und entsprechender medialer Aufbereitung Notstandsszenarien zu inszenieren und politisch nutzbar zu machen. Noch im Februar 2011 lief die Frontex-Operation „Hermes“ unter Leitung Italiens an. Indessen verschlechterten sich die Bedingungen auf Lampedusa für die bereits angekommenen Flüchtlinge dramatisch. Viel zu spät fanden erste Transfers auf italienisches Festland statt.
Der demokratische Umbruch in Nordafrika hat keinen Politikwechsel Europas bewirkt. Stattdessen wird bereits an der Wiederaufnahme alter Abkommen gearbeitet, und neue Kooperationsvorhaben sind in Planung. Italien bemühte sich sogleich mit Nachdruck um die Wiederaufnahme der Grenzkontrollen vor der tunesischen Küste, die mit Ben Alis Flucht nach Saudi-Arabien zusammengebrochen waren. Die „irregulären Migranten“ sollten so schnell wie möglich zurückgeschoben werden, kündigte Innenminister Maroni an. Bereits am 5. April 2011 wurde ein Abkommen unterzeichnet, das es Italien erlaubt, die neu ankommenden Flüchtlinge aus Tunesien umgehend zurückzuschieben. Drei Tage später fanden erste Abschiebungen statt. Auch Frankreichs Premierminister Francois Fillon reiste Mitte Mai nach Tunesien, um eine intensivere Zusammenarbeit im Kampf gegen irreguläre Migration zu fordern.
Bereits Mitte März kündigte auch der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments an, die Verhandlungen der EU über ein Rahmenabkommen mit Libyen fortzusetzen, sobald eine neue Regierung im Amt sei. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström hatte bei ihren Reisen nach Tunesien und Ägypten nach den revolutionären Umbrüchen bereits über den Abschluss sogenannter Mobilitätspartnerschaften verhandelt. Kommissionspräsident José Manuel Barroso bot Tunesien indessen finanzielle Unterstützung an, falls das Land bei der „Bekämpfung des Flüchtlingsstroms“ und der Rückführung von Flüchtlingen mit Europa kooperieren würde. Konkret stellte er bis 2013 jährlich rund 140 Millionen Euro zusätzliche Finanzhilfe in Aussicht. Tunesien sei das erste Land gewesen, in dem der Umbruch stattgefunden habe und er hoffe, es werde auch das erste Beispiel für eine neue Generation der Partnerschaft sein, so Barroso. Der EU-Kommissar für die europäische Nachbarschaftspolitik, Stefan Füle, reiste Mitte Mai nach Algerien, um dort die nun vierte Verhandlungsrunde über ein Rückübernahmeabkommen anzustoßen.
Frontex kündigte indessen an, „so schnell wie möglich“ ein neues Rückführungsabkommen mit Tunesien zu unterzeichnen. Frontex-Chef Ilkka Laitinien erklärte Anfang April, dass auch eine einfache „informelle Vereinbarung“ mit Tunis die Abschiebungen bereits vereinfachen würde. Die neue tunesische Regierung sei bisher jedoch ziemlich kritisch gegenüber den Rückführungen gewesen, bedauerte Laitinien. Letztendlich erklärte sich der Chef der Grenzagentur bereit, die laufende Operation Hermes in und um Lampedusa herum zu verstärken. Unter anderem sollten neue Patouillenschiffe und mehr ExpertInnen eingesetzt werden.
Ausblick
Die Vorverlagerung des Grenzregimes bis weit vor die Tore Europas unter Einbeziehung von Transitstaaten ist nach wie vor eine zentrale Strategie europäischer Flüchtlingspolitik. Ob der demokratische Umbruch in Nordafrika diese Strategie nachhaltig verändern wird, ist stark zu bezweifeln. Mehr denn je ist zivilgesellschaftlicher Widerstand in den betroffenen Staaten Nordafrikas und hier in Europa notwendig, damit die neuen Regierungen des arabischen Frühlings nicht zu den neuen Wachhunden der Europäischen Union werden. Hoffnungsvoll stimmen Aussagen aus den Kreisen der tunesischen Übergangsregierung. So erklärte der Oppositionspolitiker Abdeljelil Bedoui: „Die Verträge, die es mit den Diktatoren gab, interessieren uns nicht mehr, das waren auch Verträge, die uns davon abhielten, frei zu leben.“ (9) Bleibt zu hoffen, dass sich auch in den anderen Ländern Nordafrikas solche Rufe nach Selbstbestimmung durchsetzen können. Europa hingegen steht in der Verantwortung, die Flüchtlinge – insbesondere diejenigen, die aus dem Kriegsgebiet Libyen flüchten – aufzunehmen. Die Fluchtwege über das Mittelmeer dürfen keinesfalls erneut blockiert werden.
In die Jubelrufe der Befreiungsbewegungen stimmte man auch in Europa gerne ein. Aber nur unter dem Vorbehalt, dass demokratische Freiheit keine Reisefreiheit bedeutet. Wenn Europa den demokratischen Wandel in Nordafrika tatsächlich unterstützen und die Tragödien im Mittelmeer beenden will, muss die Flüchtlings- und Migrationspolitik von Grund auf geändert werden. Die Fortsetzung der Abschottungspolitik ist nicht nur ein Affront gegen die Demokratiebewegungen – sie zerstört den Flüchtlingsschutz, produziert mehr Menschenrechtsverletzungen und führt zu noch mehr Toten.
Endnoten
(1) Rat: Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union (2005/C 53/01).
(2) KOM(2011) 200: Gemeinsame Mitteilung an den Europäischen Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen eine Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und Gemeinsamen Wohlstand: S. 7.
(3) Vgl: Cuttitta, Paolo 2008: The Case of the Italian Southern Sea Borders: Cooperation across the Mediterranean? In: Documentos CIDOB No. 17.
(4)Human Rights Watch: Pushed Back, Pushed Around. Italy´s Forced Return of Boat Migrants and Asylum Seekers, Libya´s Mistreatment of Migrants and Asylum Seekers. September 2009: S. 25.
(5) Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Hinrichtungen in Libyen. 17. Juni 2010.
(6) Europäisches Parlament: Empfehlung des Europäischen Parlaments vom 20. Januar 2011 an den Rat zu den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zwischen der EU und Libyen.
(7) Europäisches Parlament: Entwurf einer Empfehlung an den Rat eingereicht gemäß Artikel 121 Absatz 1 der Geschäftsordnung zu den laufenden Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zwischen der EU und Libyen.
(8) Siehe den Artikel in graswurzelrevolution 345 (Januar 2010).
(9) Siehe den Artikel in Jungle World Nr. 16 (21.04.2011).
Judith Kopp studiert in Frankfurt am Main Soziologie und arbeitet bei PRO ASYL in der Abteilung Europa und Internationales.