„Es tut weh, zu sehen, wie ignorant das eingewanderte Wissen behandelt wird“ – Ein Gespräch mit Ljudmila Belkin

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Ljudmila Belkin

Im April 2016 endete „Die andere Herkunft“, ein Wettbewerb autobiographischer Essays für jüdische Migrantinnen und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Aktuell bewertet eine Jury die Ergebnisse. Wie ist die Idee entstanden?

Der Essay-Wettbewerb richtete sich an Menschen, die seit 1991 mit dem Status des jüdischen Kontingentflüchtlings nach Deutschland eingewandert sind. Er ist Teil eines Forschungsprojekts mit dem globalen Ziel, ein Archiv der postsowjetischen jüdischen Migration nach Deutschland, in die Vereinigten Staaten und nach Israel aufzubauen und dadurch eine Grundlage für die Erforschung dieser Migration in den USA zu schaffen.

Initiatorin und Leiterin des Projektes ist Rebecca Kobrin, Professorin für amerikanische jüdische Geschichte an der Columbia University. 2008 hat sie die Form des Essay-Wettbewerbs bereits getestet, indem sie russischsprachige jüdische Migranten und Migrantinnen in den USA angesprochen hat.

Diese Idee eines Essay-Wettbewerbs als Alternative zur herkömmlichen soziologischen Feldforschung ist gerade en vogue. Doch zumindest im Rahmen der jüdischen Studien hat sie berühmte historische und, was wesentlich ist, nicht-akademische Vorbilder. Ich meine den YIVO Autobiography Contest für jüdische Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa aus dem Jahr 1942. "YIVO – Akronym für „Yidisher visnshaftlekher institut“ übersiedelte gerade zwei Jahre davor aus Vilna nach New York". Die Organisator/innen waren also selbst Migranten und Migrantinnen, die einerseits das Leben der Einwandernden dokumentieren, andererseits die Frage beantworten wollten: „Why I left Europe and what I have accomplished in America“.

Was unterscheidet das aktuelle Projekt von seinem Vorgänger?

Im Gegensatz zum selbstreflektierenden YIVO-Wettbewerb sollte das aktuelle Projekt allein wissenschaftlichen Zwecken dienen. Das Großartige dabei war die Freiheit, die Professor Kobrin mir als Entwicklerin und Koordinatorin gewährt hat. Als erstes lud ich den Künstler Misha Shenbrot ein, mit mir zu überlegen, ob es ein Bild der postsowjetischen jüdischen Migration geben könnte, in dem sich jeder ehemalige „Kontingentflüchtling“ erkennen würde. Das Ergebnis sieht man im Titelbild des Projekts – „Die andere Herkunft“ (DaH).

 

Titelbild des Projekts

Die Gespräche waren intensiv und bereichernd, obwohl ich manchmal seufzen musste, als zum Beispiel das Handy, das ich mir extra gekauft hatte, um mit allen Interessenten in direkten Kontakt zu kommen, am späten Abend des 31. Dezember klingelte. Schließlich gründete ich eine offene DaH-Gruppe auf Facebook, die ich als eine Art zweisprachiges Online-Magazin von Oktober 2015 bis Juni 2016 moderierte. Die Facebook-Seite wurde im Durchschnitt wöchentlich von 400 bis 800 Personen besucht. Bei allen diesen medialen Auftritten verkündete ich eine schlichte Botschaft: Schreibt nicht für die Fragebögen, sondern um euch selbst zu verstehen. Die ergebnisoffene Form des Essays passt ja gut dazu.

Wie geht es weiter mit den eingesendeten Werken?

Das Ergebnis sind 125 Texte auf etwa 6.000 Seiten, Fotos, geschenkte Bücher, … . Alle Texte befinden sich jetzt in einem virtuellen Archiv und Wissenschaftler/innen aus fünfzehn Universitäten in den USA, Deutschland und Israel sind gerade dabei, sie zu bewerten. Am 23. und 24. Januar 2017 findet am Herder Institut Marburg ein internationaler Workshop statt, in dem diverse Aspekte der postsowjetischen Migrationen, auch der jüdischen, diskutiert werden. Eine der Aufgaben dieses Workshops ist es, die Gewinner/innen des Essays-Wettbewerbs zu bestimmen.

Die Ergebnisse werden im Februar 2017 bekannt gegeben. Ein englisch-russischer Sammelband mit ausgewählten Texten ist geplant. Ich hoffe sehr, dass die Essays früher oder später in Deutschland publiziert werden. Leider fällt die Nachfrage nach einer Veröffentlichung außerhalb der Migrantenkreise ziemlich bescheiden aus. Offensichtlich ist die Distanz zu den Erinnerungen an die sowjetischen Zeiten zu groß, um das Interesse und den Finanzierungswillen zu wecken. Es sind ja andere Geschichten.

Auch der Titel spielt an auf eine solche Konstruktion der „Andersartigkeit“. Drückt sich darin die Programmatik des Wettbewerbs aus?

Soweit ich weiß, war seinerzeit der Wechsel vom Fremden zum Anderen revolutionär, da er lediglich die Unterschiede, jedoch nicht deren Bewertung konnotiert. Doch als alleinige Autorin des Titels „DaH“ übernehme ich gerne die Verantwortung dafür. Er ist sowohl pragmatisch als auch programmatisch zu verstehen. Das pragmatische Ziel bestand darin, mit dem abstrakten Bild der Andersheit unterschiedliche Gruppen sowie mehrere Generationen anzusprechen, die mit dem „jüdischen Visum“ nach Deutschland kamen. Der bis dahin übliche Fokus auf die Russischsprachigkeit und die „russisch-jüdische“ Zugehörigkeit beschreibt die Realität der Eingewanderten und ihrer Nachkommen nicht mehr.

Sondern?

Erstens ist Deutsch für viele – nicht nur für die hier geborenen – zur Alltagssprache geworden. Zweitens war die Sowjetunion ein multiethnisches Land, was die Herkunftsgeographie der Wettbewerbsteilnehmer/innen deutlich widerspiegelt. Spätestens nach dem Krieg in der Ukraine, der auch die Migrantinnen und Migranten betraf und spaltete, wird die verallgemeinernde Bezeichnung „Russen“ unter Umständen als diskriminierend wahrgenommen.

Drittens ist es nicht selbstverständlich, dass Menschen jüdischer Herkunft sich als „Jüdinnen und Juden“ begreifen; ich wollte andere Zugehörigkeitsvisionen am Projekt beteiligt sehen. Schließlich hoffte ich, die nicht-jüdischen Ehegattinnen und Ehegatten zu ermutigen, ihre Erfahrungen zu teilen. Gehören sie doch zu ihren jüdischen und halbjüdischen Männern und Frauen, zu ihren Kindern mit komplexer Herkunft, zu der Einwanderungsgesellschaft Deutschland.

Die programmatische Absicht des Titels bestand darin, den absoluten Charakter der migrantischen Andersheit zu neutralisieren: Es gibt unterschiedliche Geschlechter, soziale Gruppen, Geschmäcke und Wohnorte; eine andere Herkunft kann sich da einreihen, ohne besonders aufzufallen. Der Titel sprach also Menschen wegen ihrer anderen Herkunft an: nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Zum Teil war es eine Provokation, oder genauer: eine bewusste Herausforderung. Ich ging davon aus, dass Autoren mir widersprechen und über die herkunftsbedingte Andersheit hinaus auch die Gemeinsamkeiten mit oder die Nähe zu den anderen beschreiben würden.

Hat die Provokation funktioniert?

Ja. In sämtlichen Texten spielt zumindest die ethnische Herkunft keine oder eine marginale Rolle. Doch ein Essay fällt besonders heraus: Er verfolgt das Ziel, eine ungemütliche Geschichte zu erzählen. Dafür stellt der Autor den Wert der Herkunft von Beginn an infrage und lässt stattdessen in seine Biographie blicken, die von Konflikten mit anderen Migrantinnen und Migranten, „Biodeutschen“ und Behörden geprägt ist.

Spätestens als ich die Erinnerungen über die 1920er, 1930er und 1940er in die Hand nahm, kam mir meine verbale Provokation flach vor. In der überwältigenden Masse persönlicher Episoden finden sich knappe Darstellungen der Solidarität zwischen den gläubigen Juden und Christen zur Zeit der frühsowjetischen Säkularisierung.

Lehrreich sind aber auch Geschichten junger Menschen, die Gott verneinten und Atheismus propagieren, um die verschlossene Lebensweise des Shtetls abzulegen und sich der universellen Menschheit anzuschließen. Ein Buch, das ich mit Kloßgefühl im Hals las, ist nicht-jüdischen Menschen gewidmet, die das junge Leben des jüdischen Autors während des nationalsozialistischen Terrors in Odessa gerettet haben. Die Umfokussierung von der eigenen Andersheit auf die Nähe der Anderen zu einem selbst ist offensichtlich mit dem Wunsch verbunden, die womöglich existenzielle Notwendigkeit der gegenseitigen Annährung zu demonstrieren.

Sie sind in Rubezhnoe in der Ukraine geboren und heute als Migrationsforscherin und Historikerin mit einem starken Bezug zu Osteuropa in Berlin tätig. Inwiefern haben Ihre eigenen Erfahrungen eine Rolle gespielt?

Eine sehr gute Frage. Der amerikanische Historiker Tony Judt schrieb im Jahr 2009 einen bissigen Text mit dem Titel „Edge People“. Er verspottete Identität-Studiengänge, in denen Feministinnen die Frauen-Wissenschaften, Vertreter der Minderheiten – Minderheiten-Geschichten studieren. Judt argumentiert, Selbst-Studien negieren liberale Ziele der Bildung, untermauern eine sogenannte Ghetto-Mentalität. Verbissen sind Judts Zeilen vielleicht deswegen, weil sein naher Tod ihn zur Direktheit anstieß.

Es sind also Worte der puren Offenheit sozusagen, die mich damals wie ein Blitz trafen: Als Migrantin beschäftige auch ich mich mit Migration. Nun, was ist meine Forschung, direkt gesehen? Sicher spielt sie meine eigenen Erfahrungen nach. Meine Grundbegriffe, die sich durch meine Lebenserfahrungen zusammengeschmiedet haben, sind „Vielheit“ und „Verhältnisse“. Das Leben hat mir beigebracht, dass es neben dem weiß hunderte von anderen Tönen gibt, und diese zu begreifen geht nur, wenn man sie in Relationen setzt.

Doch die fundamentale Schlussfolgerung daraus war auch: Ich kann dem weiß nichts vorschreiben, ohne die Vielheit zu verletzten. Der Imperativ „will man sich selbst verstehen oder einfach selbst sein, braucht man dafür einen Anderen“ wäre fürchterlich einengend. Es sollte die Freiheit geben, ohne Seitenblicke in sich hineinzuschauen. Diese Möglichkeit ist zum Beispiel für das religiöse Selbstverständnis nicht wegzudenken.

Unterscheidet dieses „Ohne Seitenblicke in sich hineinschauen?“ den Wettbewerb von klassischem Storytelling?

In der Tat bekamen wir nicht sehr viele „Migrantengeschichten“, wie man sie so kennt. Die „Selbstbezogenheit“ ist sicherlich nicht die einzige Erklärung dafür. So wie sich das große Wort „Teilhabe“ durch zahlreiche Projekte zur Migration abgenutzt hat, wird auch der Satz „Nicht über, sondern mit Migranten reden“ inflationär verwendet.

Man glaubt, Migrantinnen und Migranten sollen erzählen, weil sie erzählen dürfen… Im Rahmen des DaH-Projekts habe ich mit vielen Menschen zu tun gehabt, die auf Massenbefragungen allergisch reagieren. Eine Autorin fragte mich, ob es tatsächlich um einen Essay-Wettbewerb gehe, oder ob das wieder ein Köder sei, mit dem soziologische Daten gesammelt werden. Einige Wissenschaftler/innen sandten ihre Aufsätze, um endlich „im Westen“ als Akademikerinnen und Akademiker und nicht nur als Kontingentflüchtlinge gehört zu werden. Die Tatsache, dass 13 Bücher am Wettbewerb teilgenommen haben, darunter ein Gedichtband, sprechen für sich.

Ich muss gestehen, ich habe das bewusst gefördert. Denn es tut weh, zu sehen, wie ignorant das eingewanderte Wissen behandelt wird. Schauen Sie mal in den Sammelband „Bewegliche Habe. Zur Ethnographie der Migration“ (Tübingen 2003) rein. Die Idee und der Einführungstext sind glänzend – die Migrantengeschichten sind eher wie erwartet. Einer unserer Autoren, der für die Wissenschaft lebte und selbst im Tübinger Übergangswohnheim weiterhin Aufsätze schrieb, wird dort wie ein Wundertier dargestellt, das viele Taschen mit Fachliteratur nach Deutschland brachte. Der Migrationsforschung fehlt die Geisteswissenschaft!

Es gibt populistische Kräfte, die sich hartnäckig an einer Spaltung der (europäischen) Gesellschaften versuchen – an einigen Stellen mit Erfolg. Können Seitenblicke auf Ein- und Auswanderungserfahrungen nicht vielleicht helfen, solchen Deutungsmustern etwas entgegenzusetzen?

Hier muss ich widersprechen. Der poröse europäische Körper ist kein Marketingprodukt von Populisten. Der Abgrenzungsprozess signalisiert lediglich, dass Europa eine politische Krise durchmacht, für die es noch keine Patentlösungen gibt. Außerdem hat sich das politische Bewusstsein stark gewandelt, dessen fester Bestandteil früher die Parteizugehörigkeit war. Heute wählt man eher nach dem Facebook-Prinzip: schnell gelesen, schnell gelikt oder eben gewählt.

Anfang November nahm ich am traditionsreichen Colloquium Opole teil. Normalerweise ist die Tagung der schlesischen Kultur in Polen, Deutschland und Tschechien gewidmet. Diesmal ging es um Migration: Meine Präsentation war im Rahmen des Integration-Panels geplant. Ich habe dort vorgeschlagen, statt über Integration über Verantwortung nachzudenken und stützte mich dabei auf die Theorie der Verantwortung des amerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin. Die postsowjetische jüdische Migration war nur deswegen möglich, weil Deutschland sich als eine Verantwortungsgemeinschaft verstand und versteht.

Damit aus dieser nationalen Verantwortungsgemeinschaft eine offene Einwanderungsgesellschaft erwächst, sollten und dürfen Migrantinnen und Migranten mehr Verantwortung übernehmen, aus der sich auch das Recht auf Selbstbestimmung ergibt. Nicht die bloße Vielfalt, sondern die gegenseitige Verantwortung garantiert den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn sie funktioniert, lässt vielleicht auch der Hype um die populistischen Versprechungen nach.

Vielen Dank für das Gespräch!

Ljudmila Belkin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung Erkner. Sie hat an den Universitäten Dnepropetrovsk und Tübingen studiert und promoviert zum Kunstdenken im Meinungsstreit an der Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsinteressen sind diverse Gesellschaft, Migration, Osteuropäische Geschichte und Kultur im 20. und 21. Jahrhundert.

Den Essay-Wettbewerb "Die andere Herkunft" koordinierte sie im Auftrag der Columbia University New York und führte ihn in Kooperation mit dem Center for Metropolitan Studies an der Technischen Universität Berlin durch. Seitdem sie aus dem Projekt ausgeschieden ist, begleitet sie es als Jury-Mitglied. Koby Oppenheim, Doktorand an der City University New York, hat die Koordination übernommen.

Folgende Institutionen sind außerdem an der Jury beteiligt: Center for Metropolitan Studies, Technische Universität Berlin; Herder Institut für Ostmitteleuropaforschung; Jüdisches Museum Berlin; Institut für Slawistik, Universität Greifswald; Frankfurt University of Applied Sciences; Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz ; Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück; Barnard College, Dept. of Slavic Literature; Graduate Center, City University of New York, Sociology; Columbia University, Dept. of History; Columbia University, Dept. of Slavic Literature; Hebrew University, Dept. of Contemporary Jewry; University of Colorado, Dept. of History; University of Massachusetts, Amherst, Dept of Judaic Studies; University of Michigan, Dept. of Political Science & Dept of Slavic Studies; University of Toronto, Dept. of Germanic Languages and Literatures

Das Gespräch führte Sarah Schwahn.