"Wenn ich auf das Ende sehe!"

von Sascha Verlan

"Das Seltsame an Eltern ist, dass sie nicht den Anfang sehen, sondern das Ende", schreibt der US-Rapper Snoop Dogg in seinem autobiographischen Roman 'Love don't live here no more'. Das ist der Blick der Erwachsenen, wir schauen nach vorn, indem wir unsere Erfahrungen in die Zukunft projizieren. Damit machen wir unseren Erfahrungsschatz, unser derzeitiges Weltbild zum Maß der Dinge. Wir wissen schon, wie es ausgehen wird. Die dringende Frage dabei ist: können die Dinge überhaupt anders laufen? Wo wir das Ende doch bereits kennen?

Wenn mir meine Kinder in ein paar Jahren im Brustton der Überzeugung verkünden werden, dass sie alles erreichen können, wenn sie sich nur anstrengen, wenn sie hartnäckig bleiben und von ihren Zielen überzeugt sind, wer wäre ich, ihnen darin zu widersprechen? Ja, ihr werdet es schaffen, mit vielen Ausrufezeichen. Gut, es sind meine eigenen Kinder, und da spielt Hoffnung mit und Stolz, aber kann es überhaupt anders funktionieren? Woher sonst sollten sie das Selbstbewusstsein, die Kraft und das Durchhaltevermögen bekommen, wenn ich sie nicht in dieser Haltung unterstütze?

Ziele

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Soweit so klar. Aber warum fällt es mir dann so schwer, diese Haltung einem jungen Mann zuzugestehen, den ich bei einem Rap-Workshop kennen lerne? Bloß weil er gerade auf der Hauptschule ist? Bloß weil seine Eltern nicht in Deutschland geboren sind? Immerhin lebe ich schon lange in dieser Gesellschaft, lese Zeitung und informiere mich auch sonst. Und die Erfahrung lehrt eben, dass junge Männer mit Migrationshintergrund, dass Hauptschüler schlechte Aussichten haben.

Aber was ist diese Erfahrung eigentlich wert? Eine Erfahrung, die nicht auf eigenem Erleben beruht, sondern durch Medien aller Art vermittelt ist, durch Zeitung und Fernsehen, aber auch durch Spielfilme, Rap-Texte und Kriminalromane. Was ist diese Erfahrung wert, die den betroffenen Jugendlichen immer wieder sagt, dass sie es nicht schaffen werden?

"Hauptschüler rappen über ihr Leben"

Im Sommer 2007 betrete ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Hauptschule. Ich darf dort über ein Schulhalbjahr lang einen Rap-Workshop geben. Und wie es das Klischee eines Rap-Workshops an einer Hauptschule will, sitzen vor mir nur Jugendliche mit Migrationshintergrund: Helin, Salma und Sheyma, immerhin drei Mädchen. Dann Öczan, Ali, Anil, Seif, Sarbast, Mustafa und Oliver. Oliver? Auch er mit Migrationshintergrund, er ist Russlanddeutscher:

Der Name Oliver

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Ich muss zugeben, nach all den Debatten um Jugendkriminalität, PISA und Rütli-Schule, nach all den (HipHop-)Battles im Internet, wo denn nun in Deutschland das härteste Ghetto sei, wo die härtesten Jungs leben, nach all diesen Eindrücken ist mir nicht ganz wohl bei der Sache. Ähnlich wie bei einer Reise betrete ich eine mir vollkommen fremde Welt. Was kommt da auf mich zu? Auf den ersten Blick entsprechen die Jugendlichen dem Klischee. Und ihre ersten Textversuche spiegeln all die schlechten Vorbilder der aktuellen Rap-Szene wider, alles kleine Gangsta-Rapper. Da ist Sarbast, der vor sich hin rappt:

 

"ich bin keiner, der mit Mädchen ausgeht, sondern sie schlägt
weil das ist meine Pflicht"

Deine Pflicht?! Ja, erklärt er mir, genau das ist es doch, was wir, die Deutschen von ihm erwarten, dass er Frauen schlägt, dass er asozial ist, kriminell und all das … und Adel verpflichtet.

Rap Ghettoleben

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Nach einiger Zeit verändern sich die Texte. Ich freue mich über diese positive Entwicklung oder wollen sie mir einfach nur gefallen? Um am Ende eine gute Note zu bekommen?

Die Texte der Rap-Songs

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Ich habe ja gleich zu Beginn des Workshops erklärt, was HipHop für mich bedeutet, habe deutlich gemacht, was mir wichtig ist, weit über HipHop hinaus. Ich habe Ehrlichkeit gegen falsch verstandene Authentizität gestellt, echte Gefühle gegen die Klischees eines Genres. Die Jugendlichen wissen also genau, was bei mir ankommt. Machen sie mir womöglich etwas vor? Und hängen an anderer Stelle den krassen Typen raus, immer genau so, wie es das Gegenüber erwartet? Was an diesen Texten ist echt? Wo erfüllen sie bloß bereitwillig meine Vorstellungen? Und ist diese Frage überhaupt wichtig?

"du kannst es schaffen, bis ganz nach oben"

Mit der Zeit lerne ich die sozialen Hintergründe, ihre familiäre Situation besser kennen. Und da fänden sich genügend Gründe und Ausreden, warum sie sich unterkriegen lassen, warum sie abrutschen ins soziale Abseits. Wenn sie asozial und kriminell geworden wären, es gäbe genügend Erklärungen dafür: sie sind so geworden, weil … der Vater früh gestorben ist … weil sie geschlagen worden sind … weil schon der Bruder kriminell ist, weil und weil  und weil die Medien sind voll von solchen Weil-Biographien. Und was will man schon sagen gegen das echte Leben?

Sie sind aber nicht abgerutscht, trotz alledem. Im Gegenteil, sie konzentrieren sich auf die Schule und haben ganz realistische, bodenständige Ziele, erreichbare Ziele: Tischler, Automechatroniker, Mediengestalterin usw. und sie sind überzeugt, dass sie es schaffen können, wenn sie sich nur anstrengen, wenn sie hartnäckig bleiben und von ihren Zielen überzeugt sind. Und wer bin ich, ihnen darin zu widersprechen?

Die Jugendlichen in meinem Workshop waren 13, 14 Jahre alt. Mag sein, dass sie in einer Traumwelt lebten, dass sie die harte Realität noch nicht ertragen mussten. Und wenn ja, wäre das so schlimm? Müsste man sie nicht beglückwünschen für jeden neuen Tag, den sie in dieser Illusion leben können? Wäre es nicht im Gegenteil an uns, dafür zu sorgen, dass diese Illusion Wirklichkeit wird?

"visualize wealth an put yourself in the picture", rappte die New Yorker HipHop-Legende KRS ONE (der es selbst vom obdachlosen Jugendlichen zum Dozenten an der Uni geschafft hat). Die Jugendlichen aus meinem Workshop leben in einer gesunden Welt, einer Welt, in der sich Leistungsbereitschaft, Ausdauer und Zielstrebigkeit auszahlen, und zwar für jeden. Greifen wir diese gesunde Weltsicht auf und setzen uns selbst ins Bild: dann sind wir vielleicht wieder in der Lage, den Anfang zu sehen, und nicht das Ende.

Dezember 2008

Vom Autor zuletzt erschienen:
'Keine Angst, wir machen keine schlimme Tat - Hauptschüler rappen über ihr Leben' Deutschlandfunk 2008 (MP3-Datei, online).

Bild entfernt.

Sascha Verlan arbeitet als Journalist und Autor in der Wort & Klang Küche. Sein Themenschwerpunkt ist die HipHop-Kultur, ihre kulturellen Wurzeln und ihre gesellschaftliche Relevanz.