von Sabine Oldag
Globalisierung, demografischer Wandel und der zunehmend wachsende Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland führen im Gesundheits- und Sozialwesen in Bereichen der sprachlichen und kulturellen Verständigung zu neuen Herausforderungen. In einer Weltstadt wie Berlin kommen über 180 Nationalitäten und damit viele verschiedene Kulturen an einem Ort zusammen. Was im alltäglichen Miteinander manchmal zur Erheiterung aller Beteiligten führt, kann in gesundheitlichen und sozialen Beratungs- und Behandlungssituationen schwerwiegende Probleme schaffen: Missverständnisse und kulturelle Unterschiede.
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die gesundheitliche Lage von MigrantInnen deutlich von jener der übrigen Bevölkerung unterscheidet, ernst zu nehmen. Die gesundheitliche Situation von ZuwandererInnen „stellt sich im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung in einigen Bereichen (z.B. bei der Säuglingssterblichkeit, Unfällen im Straßenverkehr, bei der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen) deutlich ungünstiger dar“, so fasst der jüngste Gesundheits-Basisbericht der Berliner Senatsverwaltung die Ergebnisse zusammen.
Darüber hinaus haben viele MigrantInnen aufgrund sprachlicher und soziokultureller Barrieren Schwierigkeiten, sich im deutschen Versorgungssystem zurechtzufinden. Fehlendes Wissen um präventive Gesundheitsförderungsangebote sowie mangelnde Informationen über die eigenen Verbraucher- und Patientenrechte führen dazu, dass deren Nutzung und Inanspruchnahme nur unzureichend ist. MigrantInnen lassen sich seltener impfen, nehmen weniger Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch und haben bei der Versorgung chronischer Erkrankungen einen Nachholbedarf.
Für den öffentlichen Gesundheitsdienst heißt das: Sowohl bei Angeboten der Information, der Prävention als auch der Versorgung sind Schritte nötig, um mehr gesundheitliche Chancengleichheit zu erreichen. Gelingende Kommunikation ist eine entscheidende Voraussetzung dafür und muss einen entsprechenden hohen Stellenwert in Strategien, Konzepten und der täglichen Praxis bekommen.
Verringerte Möglichkeiten der Aufklärung und Information für MigrantInnen
Im Bereich des Gesundheitswesens beispielsweise wurden bisher bei Verständigungsschwierigkeiten überwiegend „Laiendolmetscher“ – Kinder, Angehörige, Bekannte, Reinigungspersonal oder Pflegekräfte – herangezogen. Dies führte regelmäßig zu qualitativen Verlusten in der Behandlung, da Verwandte und Bekannte selten in der Lage sind, die jeweiligen Inhalte fachgerecht und unparteiisch zu vermitteln. Auch bilinguales Pflegepersonal ist mit der zusätzlichen Rolle des/der Dolmetschers/In in der Regel überfordert. Ihnen sind die Fachbegriffe zwar im Deutschen geläufig, eine genaue Übersetzung scheitert jedoch überwiegend am fehlenden Wissen um die Fachterminologie in der anderen Sprache.
Ein Einsatz professioneller DolmetscherInnen findet zumeist aus Kostengründen nicht statt. Außerdem erfüllen nur Wenige die besonderen Anforderungen im psychosozialen, medizinischen und sozialen Bereich. Diese für alle Beteiligten unbefriedigende Situation kann zu erheblichem Mehraufwand führen, da auf Grund des Nicht- oder Falschverstehens häufiger der/die Arzt/Ärztin gewechselt wird, Beratungen oder Behandlungen wiederholt werden müssen oder gar Fehldiagnosen mit weitreichenden Folgen entstehen können.
Im Ergebnis wird das Gesundheits- und Sozialwesen durch kosten- und zeitintensiven Mehraufwand zusätzlich belastet, ohne dabei eine Verbesserung der Versorgung zu erzielen. Ähnliches gilt auch für die Kommunikation mit Behörden, Schulen, Kindertagesstätten und den verschiedensten sozialen Einrichtungen.
Viele europäische Länder haben bereits sehr erfolgreich Lösungsansätze zur Bewältigung dieses Problems konzipiert und umgesetzt – zu nennen ist hier beispielsweise die Schweiz. In Deutschland diskutierte die Fachöffentlichkeit seit vielen Jahren unterschiedliche Ansätze zur Verbesserung der gesundheitlichen und sozialen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund. Neben den Forderungen nach fremdsprachigem Personal und einer Stärkung von interkulturellen Kompetenzen wurden in einigen Städten Sprach- und Kulturmittler, gelegentlich auch als IntegrationsmittlerInnen bezeichnet, durch Gemeindedolmetschdienste ausgebildet und vermittelt. Dies wird als bedeutender Beitrag zur qualitätsgerechten Verbesserung der gesundheitlichen und sozialen Versorgung von MigrantInnen angesehen.
Der Bedarf an Sprach- und Kulturmittlung in Berlin
Zur Ermittlung des Bedarfs an Sprach- und Kulturmittlung im medizinischen und sozialen Bereich wurden in Berlin zwei Studien durchgeführt, um zu ermitteln, in welchen Bereichen und in welchem Umfang in Berlin GemeindedolmetscherInnen benötigt werden.
Die erste, von Dr. Susanne Deininger und Stefanie Brandt, Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz, im Jahr 2004 durchgeführte Studie stützte sich auf eine Umfrage an Berliner Krankenhäusern, bei der es zum Beispiel darum ging, Angaben zur Verständigung mit nicht deutschsprachigen PatientInnen zu erfassen und zu analysieren. Es zeigte sich, dass mit etwa 5 Prozent dieser PatientInnen eine Verständigung nur schlecht oder gar nicht möglich war. Dies entspricht etwa 34.000 Fällen pro Jahr.
Die zweite Studie von Johanna Uebelacker, Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, betrifft die soziale Kommunikation in sozialen Einrichtungen und erbrachte ähnliche Ergebnisse wie die erste Studie. Die Befragung von MitarbeiterInnen aus dem Jugend-, Gesundheits-, Sozial- und Bürgeramt des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin ergab, dass 95 Prozent der befragten MitarbeiterInnen KlientInnen betreuen, die Schwierigkeiten haben, sich auf Deutsch zu verständigen.
Der Anteil, bei dem ein Dolmetscheinsatz notwendig wäre, wird in Kreuzberg auf 32 Prozent geschätzt. Versuche, Kommunikation in „vereinfachtem Deutsch“ zu führen, sind aber mit Problemen verbunden: Missverständnisse, mangelhafte Vermittlung komplizierter Sachverhalte, Unsicherheiten darüber, wie viel die Klienten wirklich verstehen und erhöhter Zeitaufwand für Gespräche. Häufig wird dann die sprachmittlerische Hilfe durch Begleitpersonen genutzt, insbesondere durch Kinder, Ehepartner, Verwandte oder Freunde. Doch auch hier sind die Gespräche nur selten unproblematisch: Begleitpersonen übersetzen unvollständig, geben unklare Antworten und verfügen oft über zu geringe Sachkenntnisse und Kenntnisse von Fachbegriffen.
Mehr als zwei Drittel gaben zudem an, dass Begleitpersonen gestellte Fragen selbst beantworten, anstatt den KlientInnen die Möglichkeit zu geben, für sich selbst zu sprechen. Kinder als LaiendolmetscherInnen sind dabei ein besonderes Problem, „weil diese unweigerlich in die Rolle von Erwachsenen gedrängt werden, mit Themen und Fragestellungen konfrontiert werden, die nicht altersgemäß sind und sich ihren Eltern gegenüber in einer ungewohnten Machtposition befinden, welche das familiäre Gleichgewicht gefährden kann“ – so Johanna Uebelacker in ihrem Resümee der Befragung im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg.
Kommunikationsbarrieren führen nach Meinung fast aller befragten MitarbeiterInnen aus den Kreuzberger Ämtern dazu, dass Möglichkeiten der Aufklärung und Information beschränkt sind, ein erhöhter Zeitaufwand entsteht und Hinweise und Empfehlungen nicht ausreichend eingehalten werden. Zur Überbrückung dieser Barrieren plädieren sie für den Einsatz professioneller Sprach- und KulturmittlerInnen, eine der jeweiligen Muttersprache entsprechenden Betreuung oder das Hinzuziehen externer Sprach- und KulturmittlerInnen nach Bedarf.
Leider werden diese Wege in Deutschland viel zu selten beschritten, weil die Rechtslage, Kostenfaktoren und mangelnde Infrastruktur entscheidende Hemmnisse bilden. Auch heute noch wird das Feld der Sprach- und Kulturmittlung in Hannover, München und Berlin in der Hauptsache von Nichtregierungsorganisationen getragen.
In Berlin konnte die Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung – Gesundheit Berlin e.V. – zusammen mit der Plan- und Leitstelle Gesundheit des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg ab dem Jahr 2002 einen Gemeindedolmetschdienst durch eine eigens entwickelte Qualifizierung für MigrantInnen aufbauen. Als Modell hierfür diente das Konzept der Dolmetschzentralen in den Niederlanden. Finanzielle Unterstützung ermöglichte eine EQUAL-Partnerschaft beim Integrationsbeauftragten von Berlin.
Da die Bedeutung der Unterschiedlichkeit der Kulturen hinsichtlich Gesundheitsbewusstsein und Krankheitsverständnis immer deutlicher erkannt wurde, begann man in Berlin seit 1996 mit der Planung eines interkulturellen Gesundheitsnetzwerks, wofür das Ethno-Medizinische Zentrum in Hannover Pate stand. Hier sollten im Wesentlichen Forderungen nach einer verbesserten Beratung und Versorgung von MigrantInnen (Gesundheitsberatung, Multiplikatorenschulung, Vernetzung) umgesetzt werden. Dazu gehörte auch die Einrichtung eines Gemeindedolmetschdienstes in Berlin.
Im Jahre 2002 gelang es dem Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, insbesondere der Plan- und Leitstelle Gesundheit, die Finanzierung eines wesentlichen Bestandteils eines solchen Zentrums, nämlich die Qualifizierung von GemeindedolmetscherInnen, durch finanzielle Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft zu erreichen. Diese „Anschubfinanzierung“ sollte die Institutionalisierung eines Gemeindedolmetschdienstes ermöglichen, wobei die Trägerschaft (Kommune, Land Berlin, private Träger) seitens der EU-Förderer offen blieb.
Angesiedelt wurde die Qualifizierungsmaßnahme bei der Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung „Gesundheit Berlin e.V.“, die bis heute die Trägerschaft des Gemeindedolmetschdienstes inne hat.
Seit 2003 wurde der Gemeindedolmetschdienst Modellprojekt im Rahmen einer Entwicklungspartnerschaft von der EU durch das Programm EQUAL gefördert. Diese Förderung umfasste als erste Phase die Ausbildung und Qualifizierung von 81 muttersprachlichen TeilnehmerInnen und als zweite Phase die feste Etablierung des Gemeindedolmetschdienstes als wichtiges Werkzeug zur Integrationsförderung von MigrantInnen.
Qualifizierung von GemeindedolmetscherInnen
Im Lehrplan der Kurse fanden sich unter anderem Unterrichtseinheiten zu den Themen:
- Dolmetsch-, Übersetzungs- und Kommunikationstechniken
- medizinische und psychologische Fachterminologien
- gesundheitswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen
- Aufbau und Struktur des Gesundheits- und Sozialwesens in Deutschland
- Migrationssoziologie
- Interkulturelle Kompetenz
- Recht und Ethik
Die Ausbildung schloss dazu mehrere Praxisphasen ein, in denen sich die Auszubildenden in ihrer zukünftigen Tätigkeit praktisch erproben konnten. Gleichzeitig lernten die Institutionen, in denen diese Praktika stattfanden, die Arbeitsweise der GemeindedolmetscherInnen kennen.
GemeindedolmetscherInnen sind in der Lage, interkulturelle Kommunikation und Verständigung zwischen GesprächspartnerInnen unterschiedlicher Herkunft in vertrauensvoller Atmosphäre. Sie stellen eine fachliche Kommunikation sicher durch die in der Ausbildung erworbenen Kenntnisse und sind im Gegensatz zu Familienangehörigen neutral und an die Schweigepflicht gebunden.
Etablierung und Ausbau des Gemeindedolmetschdienstes
Zur Qualitätssicherung wurde zeitgleich mit der Etablierung der Vermittlungstätigkeit auch die organisatorische Seite der Tätigkeit des GDD entwickelt, indem ein System der statistischen Erfassung aller Einsätze geschaffen und erprobt wurde. Darüber hinaus wurden interne Auffrischungs- und Weiterbildungsveranstaltungen sowie Erfahrungsaustausche und Supervisionen organisiert und angeboten.
Trotz des zunehmenden Bekanntheitsgrades des Gemeindedolmetschdienstes ist die Lobbyarbeit und Akquise neuer KundInnen eine ständige Aufgabe des GDD. Viele in Berlin stattfindende Fachtagungen, aber auch Printmedien sowie Rundfunk und Fernsehen wurden und werden genutzt, um den Gemeindedolmetschdienst und die von ihm angebotenen Leistungen vorzustellen. Daneben bestehen auch Kontakte zu ähnlichen Einrichtungen in anderen Bundesländern. Sie werden mit dem Ziel gepflegt, Erfahrungen auszutauschen, eine Verstetigung und Nachhaltigkeit der Sprach- und Kulturmittlung zu erreichen und schließlich ein einheitliches, anerkanntes Berufsbild "Sprach- und Integrationsmittler" bundesweit zu etablieren.
Nur wenn man von der Notwendigkeit überzeugt ist, dass im Bedarfsfall qualifizierte Sprach- und KulturmittlerInnen einbezogen werden, kann ein gleichberechtigter und adäquater Zugang zum Versorgungsangebot ermöglicht werden.
Sprachangebot und Einsatzfelder
Der Gemeindedolmetschdienst bietet aktuell muttersprachliche Kommunikation in mehr als 34 Sprachen für den Großraum Berlin an. Das Angebot beinhaltet neben den stark nachgefragten Sprachen Türkisch, Arabisch, Russisch, Vietnamesisch und Albanisch auch seltene Sprachen wie Bengalisch, Urdu oder Punjabi an.
In den vergangenen beiden Jahren konnte die Zahl der Einsätze gegenüber dem Vorjahr jeweils um 40 Prozent gesteigert werden. So werden GemeindedolmetscherInnen zur Zeit für Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) und für die Jugendämter der Bezirke (etwa 40 Prozent der Einsätze), sowie für den Krankenhausbereich (ebenfalls etwa 40 Prozent) vermittelt. Hinzu kommen Einsätze bei freien Trägern aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich (etwa 20 Prozent). Mehr als zwei Drittel aller Krankenhauseinsätze finden derzeit im Bereich der Psychiatrie statt, wo der Sprach- und Kulturmittlung – mit steigender Tendenz – eine unverzichtbare Bedeutung im Zugang zur medizinisch-psychiatrischen Versorgung zukommt.
Bislang gibt es hier in Deutschland noch kein „Recht auf Verständigung“, wie es in den USA, Großbritannien oder auch Schweden der Fall ist – die Erfahrungen jedoch zeigen, dass die gesetzten Ziele, nämlich die Schaffung eines Vermittlungsdienstes für den Großraum Berlin und eine größere Sensibilisierung für Verständigungsschwierigkeiten im Gesundheits- und Sozialbereich erreicht sind. Die größte Herausforderung ist und bleibt jedoch, den Vermittlungsbedarf so gut wie möglich zu decken, um eine bessere Gesundheit für alle zu gewährleisten und Menschen mit Migrationshintergrund eine umfangreichere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Seit dem 1. Juli 2008 ist "Gesundheit Berlin" zusätzlich Fachstelle für Prävention und Gesundheitsförderung und wird in dieser Eigenschaft von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz gefördert. In diesem Rahmen erhält auch der Gemeindedolmetschdienst eine Teilfinanzierung.
April 2009
Sabine Oldag ist Diplom-Sozialpädagogin und Gesundheitswissenschaftlerin (MPH). Sie arbeitet als Koordinatorin des Gemeindedolmetschdienstes bei Gesundheit Berlin e.V., der Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung.