(Kurz-)Geschichte eines Wiedersehens

leere Kinderstühle in einem Kindergartenraum

von Shida Bazyar

Die Ganztagsschule hat einen Betreuungsraum, in dem etwa zwanzig Kinder frei spielen können. Felix spielt am liebsten hier, die Betreuerin ist so freundlich, sagt er. Ich hätte ihren Namen erkennen können, als mein Sohn mir von ihr erzählt hat, ich habe ihn aber nicht erkannt. In 20 Arbeitsjahren trifft man auf so viele Namen, viele davon kann ich kaum aussprechen. Ich erkenne Ranas Mutter erst, als ich vor ihr stehe. Die Haare sind kürzer und ihre Denkfalten zwischen den Brauen sind tiefer. Sie ist etwas dicker, aber die Augen sind dieselben. Sie lacht und wenn sie lacht, sieht sie jünger aus, als sie wohl je war. Sie wirkt nicht mehr müde, denke ich. Sie erkennt mich sofort. „20 Jahre“, sagt sie und in mir kommen die Erinnerungen an ihren Akzent wieder auf.

„Wir haben in diesem Teil der Stadt einen hohen Migrantenanteil“, hatten sie damals zu mir gesagt. Wir haben in jedem Teil dieser Stadt einen hohen Migrantenanteil, dachte ich damals und habe mich regelmäßig auf die fremden Naschereien an den Kindergeburtstagen gefreut. Wir hatten vier Gruppen mit je ca. 20 Kindern, acht Erzieherinnen, eine davon ich. Die Kindergartenfeste waren auf die türkischen Feiertage gelegt und die Wurst unseres Frühstücksbuffets kennzeichneten wir jeweils mit Puten- und Schweinebildern. Die neuen Dreijährigen waren kaum einzugewöhnen, wir konnten sie nicht in ihren Muttersprachen davon überzeugen, dass ihre Mütter bald kommen würden, um sie abzuholen.

Dann der Elternabend. Die Kinder sollten nicht mitkommen, die meisten Kinder kamen mit, zum Übersetzen. Die Väter blieben stumm und guckten grimmig, die Mütter ließen nichts auf ihre Söhne kommen. Ranas Mutter kam damals alleine, der Vater passte zuhause auf die drei Mädchen auf. „Tut mir leid“, sagte die Mutter, „jeden Morgen so früh, so schnell, jeden Morgen, tut mir leid.“ Sie sah müde aus. Sie sah immer müde aus.

Die anderen Mütter kamen morgens um neun mit ihren Schützlingen, Ranas Mutter war immer gegen halb acht 8 da. Manchmal stand sie vor der Tür und wartete auf die Putzfrau. Dann schrie Rana, wo sie doch eigentlich ein fröhliches Kind war, schrie in die leeren, schwach beleuchteten Kindergartenräume und hörte nicht auf zu schreien. Ranas Mutter in ihrem hellen Mantel und in ihrer freundlichen Art, bückte sich zur Dreijährigen hinab, küsste jeden Morgen ein verweintes Gesicht und redete auf die Kleine ein, die fremdartigen, persischen Worte verhallten in den leeren Räumen. Dann verschwand sie wieder in der winterlichen Dunkelheit und versteckte ihr eigenes, tränenreiches Gesicht. „Morgens Uni“, hatte sie mir einmal gesagt, als ich ihr gerade entgegen kam, „Morgens Uni, in andere Stadt“. Und ich nickte und sagte nicht, dass ich Ranas schmalen Körper allmorgendlich im Arm hielt und ihr Zittern und Schluchzen auch mit den Worten „Mama hat Uni“ nicht abmindern konnte.

Vorgeschichten

Am Elternabend saß mir Ranas Mutter gegenüber und versuchte, sich zu entschuldigen, während ich versuchte, ihre Entschuldigungen abzuwehren. Dass sie studieren könne, sei ein großes Glück, sagte sie, was einleuchtend klang. „Natürlich problematisch“, sie sprach etwas leiser, denn die stets nur befristet erteilte Aufenthaltsgenehmigung hatte ihr keinen Anlass gegeben, davon auszugehen, dass ihr Studium letztlich auch gewürdigt würde. Aber was sollte sie sonst tun? Nicht lange und sie könnten in den Iran zurückkehren, sagte sie. Die Menschen wollten das neue, islamische Regime nicht. Die Menschen wollten Freiheit und wenn sie erst wieder frei wären, dann würde alles anders werden. Dann würden sie bald schon gute Wirtschaftsexperten brauchen. Worte, die bedeutsam klangen und mir nicht viel sagten, so begann sie mir ihre Geschichte zu erzählen.

Ranas Mutter und Vater waren im Iran der 70er Jahre politische Oppositionelle, erst gegen den Schah, dann gegen das Islamische Regime, Unterdrückung und fehlende Meinungsfreiheit-; für Menschenrechte. Demonstrationen, Versammlungen, verbotene Schriften, sagte sie mir. So mussten sie Ende der 80er Jahre flüchten, schlagartig flüchten, um das eigene Leben und das der beiden älteren Kinder zu retten, denn Rana war noch nicht auf der Welt. Dass sie in Deutschland landeten, zwei junge Menschen mit Kindern ohne die geringsten Sprachkenntnisse, entsprach keinerlei Planung.

Ranas Mutter erzählte langsam und ein wenig verschämt. In dem schwach beleuchteten Kindergartenraum wirkte sie seltsam klein und verloren, wie ein zu groß geratenes Kind, dachte ich mir. Nun waren sie in Deutschland, seit drei Jahren, erzählte sie damals, Rana ist hier geboren und das sei ein Glück. Erst dachten sie oh nein, noch ein Kind, wo doch die Aufenthaltsgenehmigung noch nicht geklärt sei, der Vater arbeitslos, die Sprache so fremd. Ranas Mutter lachte. Ranas Geburt war das Schönste, was ihnen in dieser fremden Welt passieren konnte, sie hatten neuen Mut geschöpft. Und kam dieses Kind nicht unter viel besseren Voraussetzungen zur Welt, als ihre älteren Kinder? Kein Krieg, gute Ärzte, Freiheit.

Wenn Ranas Mutter lachte, fiel mir erst wieder ein, wie jung sie war. Sie hatte damals erst vor einiger Zeit mit dem Wirtschaftsstudium angefangen. Die Kinder waren vormittags in der Schule und im Kindergarten, nachmittags wechselten sie und ihr Mann sich ab, abends musste sie lernen. Die eigenen Notizen anhand des Wörterbuches zu verstehen suchen. Alles nicht so einfach, sagte sie. Aber immer noch besser, als jeden Tag zuhause zu sitzen und auf den Postboten zu warten, der Briefe aus der Heimat bringt. Etwas für den Kopf tun, so sagte sie mir, ist wichtiger.

Am nächsten Morgen hielt ich die weinende Rana im Arm und hielt sie fest. Ihre Tränen hinterließen dunkle Flecken auf meiner Schulter und ich musste mir ihre Mutter vorstellen, wie sie in der Vorlesung saß und die Schrift des Professors an der Tafel zu entziffern versuchte.
Man sollte sich mehr Zeit lassen, an Elternabenden.

20 Jahre später

Meine Wohnung ist inzwischen ein Sammelplatz fremder Naschereien aus unterschiedlichen Ländern, jedes Jahr zwei Elternabende - man gewinnt neue Freunde. In den Nachrichten die Meldungen aus dem Iran, ich habe sie seit fast zwanzig Jahren verfolgt. Die Menschen wollen immer noch die Freiheit, sagen sie, das islamische Regime ist noch immer an der Macht. Ich musste stets an Ranas Mutter denken, die morgens in der Dunkelheit verschwindet.

Ich erkenne sie erst, als ich vor ihr stehe. Die Haare sind kürzer und ihre Denkfalten zwischen den Brauen sind tiefer. Sie ist etwas dicker, aber die Augen sind dieselben. Sie lacht und wenn sie lacht, sieht sie jünger aus, als sie wohl je war. Sie wirkt nicht mehr müde, denke ich, sie erkennt mich sofort. 20 Jahre, lacht sie, und in mir kommen die Erinnerungen an ihren Akzent wieder auf. Rana ist 23, studiert, lebt in einer anderen Stadt. Sie ist stolz und streicht Felix über den Kopf, er muss die Bauecke noch aufräumen, sagt sie. Sie sind nicht zurückgekehrt, sage ich und fühle mich dabei nicht wohl. All die Zeit hatte ich gedacht, das war doch ihr Ziel. Zurückkehren, weil das Land doch Wirtschaftsexperten sucht. Nein, lächelt sie mich an, als wäre das selbstverständlich. Die Lage, die politische Lage, ihr Mann darf nicht zurückkehren, sie möchte nicht zurückkehren. Drei Kinder sind hier groß geworden, haben geheiratet, Kinder, Berufe, Studienplätze. Sie sagt das so, als hätte sie schon lange nicht mehr daran gedacht, zurückzukehren. „Seit wann arbeiten Sie in der Grundschule?“, frage ich und versuche es mit dem Studium in Verbindung zu bringen.

Drei, vier Jahre. Sie hatte ihr Diplom in Volkswirtschaft absolviert, sie hatte immer noch auf die Kinder aufgepasst, sie zur Schule gefahren, den Haushalt geführt. Die Diplomarbeit hat ihre älteste Tochter Korrektur gelesen, sie später auf die offizielle Unifeier begleitet. Ihre Abschlussnote stand im guten Durchschnitt und wurde doch nie verlangt. Man braucht keine Wirtschaftsexperten, in unserer kleinen Stadt. Aber in anderen Städten, frage ich. Sie lächelt kurz und sagt dann zögernd: „Aber die Kinder!“ Nein, sie noch einmal aus ihrer Umgebung herauszureißen, kam nicht in Frage. Und jetzt? Jetzt sind die Kinder zwar erwachsen, aber wer würde sie schon einstellen? Eine Frau, die beinahe 50 ist, ohne Berufserfahrung, immer noch in der kleinen Stadt? Zuhause steht der Wein, den ihr die Universität zum Diplom geschenkt hat, ihr Mann und sie haben sich bis heute nicht daran gewöhnt, Wein zu trinken. Ich weiß nicht, was man dazu sagen soll, Felix hat seine Tasche gepackt und ich lächle noch einmal, sage, dass ich leider los muss, zuhause warten die anderen Kinder und das Essen. „Ich weiß“, sagt sie und lächelt, „ist immer so, wenn man Kinder hat.“

Dezember 2009

Bild entfernt.

Shida Bazyar, 21, studiert seit Oktober 2009 Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim.