von ABqueer e.V.
Das Aufklärungsprojekt von ABqueer e.V. bietet seit mehr als zwanzig Jahren Bildungsveranstaltungen für Jugendliche in Schulen und Jugendclubs an, in denen junge Lesben, Schwule, Bisexuelle und transgeschlechtliche Personen zum Thema vielfältige Lebensweisen mit Jugendlichen ins Gespräch kommen und dabei viel über deren Motive, Einstellungen und Fragen rund um das Thema Sexualität erfahren.
Ziel unserer Veranstaltungen und Begegnungen mit den Jugendlichen ist es, anhand des Aufzeigens und Sichtbarmachens von lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgeschlechtlichen Lebensweisen tradierte Geschlechterrollen zu hinterfragen, verschiedene Normen und Werte zu diskutieren und eine differenzierte Sicht auf Sexualität für die Jugendlichen aufzuzeigen und zu erproben. Darüber hinaus setzen sich die TeilnehmerInnen mit dem Leben in Vielfalt und den sich daraus ergebenden Herausforderungen auseinander. Da wir in allen Berliner Bezirken und allen Schultypen arbeiten, von der Grundschule bis zum Gymnasium, begegnen wir sehr vielen unterschiedlichen Jugendlichen, darunter auch Jugendlichen der sogenannten dritten Generation.
Die Erfahrungen, die wir im Dialog mit diesen Jugendlichen gemacht haben, beziehen sich in erster Linie auf solche Erfahrungen, die eine Einschätzung unsererseits über ihr Vorwissen und vordergründigen Fragen zu lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgeschlechtlichen Lebensweisen zulassen. Eine aus der Begegnung mit den Jugendlichen gewonnene Erkenntnis ist: Viele dieser Jugendlichen leben in der dritten Generation in Berlin und schöpfen aus den unterschiedlichsten Traditionen und Kulturen. Ihre Großeltern sind aus verschiedenen Teilen der Welt nach Berlin migriert, und viele Familien beziehen sich auf diese Migrationsgeschichte und die Herkunftskultur.
In der öffentlichen Diskussion um Migration und die Dritte Generation wird der Fokus allerdings fast ausschließlich auf Jugendliche mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund gelegt. Häufig wird pauschalisiert und polarisiert, nicht selten wird das vermeintliche Gegensatzpaar muslimisch-nichtmuslimisch gebraucht. Diese verkürzte Diskussion ist wenig zielführend und für unsere Arbeit nicht hilfreich, da sie bestimmte Bevölkerungsgruppen stigmatisiert und systematisch ausgrenzt.
In unseren Veranstaltungen thematisieren wir vielmehr die Vielfältigkeit von Lebenserfahrungen. Unterschiedliche Migrationserfahrungen sind Teil dieser Vielfalt an Lebensweisen und -welten und bieten wichtige Diskussions- und Anknüpfungspunkte für unseren Austausch mit den Jugendlichen. Einschränkend sollte erwähnt werden, dass unser Team in seiner Vielfalt selbst begrenzt ist. Es besteht bedauerlicherweise fast ausschließlich aus Personen, die weiß sind und keinen Migrationshintergrund haben. Unser Blickwinkel auf das Thema Dritte Generation und unsere Einschätzungen aus den Begegnungen mit den Jugendlichen sind daher eingeschränkt. Es ist der Blick von außen, den wir auf die Jugendlichen richten und der auch diesem Text zugrunde liegt. Am Beispiel einer typischen Veranstaltung des Aufklärungsprojekts möchten wir dennoch im Folgenden Einblick in unsere Arbeitspraxis gewähren und unsere Erfahrungen in der Arbeit mit Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund beitragen.
Vor dem Sturm: Vorbereitung einer Bildungsveranstaltung
Unsere Veranstaltungen beginnen nicht mit dem Stundenklingeln, sondern mit der Kontaktaufnahme von Lehrenden zu unserem Projekt. Fragen und Rahmenbedingungen, die im Vorfeld abgeklärt werden, sind dabei: Wer bucht uns? In welches Unterrichtsfach wird die Veranstaltung integriert? Wie groß ist die Klasse und welche weiteren Besonderheiten sollen berücksichtigt werden? Häufig wird von Seiten der Lehrerin bzw. des Lehrers angemerkt, dass es sich um Jugendliche mit Migratonshintergrund handelt. Ähnlich wie im medialen Diskurs, wird auch in diesem Zusammenhang die Angabe „mit Migrationshintergrund“ oft mit „muslimisch“ gleichgesetzt. Durch diese Verkürzung bleibt meist unbeachtet, dass die Menschen seit Generationen in Deutschland leben, folgende Frage wird zudem ausblendet: Welchen Bezug haben die Jugendlichen wirklich zu der Religion, die ihnen von außen - in diesem Fall von den Lehrenden - zugeschrieben wird? Folgende Äußerung einer Lehrerin soll hier als Beispiel für oft verkürzte Pauschalurteile dienen: "Das ist unsere Fundamentalisten-Klasse. Mit denen wird es bestimmt nicht einfach, aber sie kennen das ja. Hier in Berlin hat man das ja öfter."
Die Informationen, die wir über die Klasse erhalten, sind oft von derartigen individuellen Eindrücken sowie offenen als auch unterschwelligen Bewertungen und Vorurteilen derjenigen gefärbt, die uns buchen. Da es meist die einzigen Informationen sind, die wir zur Vorbereitung auf die Gruppe erhalten, zeigt die Praxis umso mehr, wie wichtig es ist, vorsichtig mit diesen oft einseitig gefärbten Informationen umzugehen, um einen offenen und unvoreingenommenen Zugang zu den Jugendlichen zu entwickeln.
In der weiteren Vorbereitung überlegen wir, welche Themen für die Jugendlichen interessant sein könnten, welche Methoden sinnvoll sind und welche Schwierigkeiten, mit der Gruppe auftreten könnten. Wir versuchen stets, mit unseren Methoden unterschiedlichste Lebensrealitäten zu zeigen und wertzuschätzen. So wird in den verwendeten Materialien und Fotos darauf geachtet, dass Menschen unterschiedlicher Geschlechter, verschiedenen Alters, unterschiedlicher Hautfarben, etc. zu sehen sind. Die Herausforderung besteht hierbei darin, Vielfalt als Selbstverständlichkeit und nicht als Präsentation von Exotischem darzustellen.
Da eines der zentralen Elemente unserer Veranstaltungen die Arbeit mit unseren eigenen Biographien ist, ist es unabdingbar, stets einen reflektierten Blick auf uns selbst und die Arbeit mit den Jugendlichen zu haben. Es gilt, sich der eigenen Normen und Werte bewusst zu werden und unsere persönliche Sicht auf die Welt als einen möglichen, aber nicht zwingenden Blickwinkel für die Jugendlichen zu vermitteln.
Im Auge des Sturms: Die Arbeit mit den Jugendlichen
Am Tag der Veranstaltung werden im Vorfeld teamintern die letzten offenen Fragen geklärt. Vor Beginn treffen wir mit der jeweiligen Kontaktperson der Schule oder des Jugendclubs zusammen, begleiten diese zum Klassen- oder Freizeitraum und erhalten auf dem Weg weitere Hinweise über das Vorwissen der Jugendlichen zum Thema Homo- und Transsexualität und über die aktuelle Stimmung in der Klasse. Darüber hinaus erfahren wir natürlich viel über die Lehrerin bzw. den Lehrer selbst, über ihre bzw. seine Einschätzungen, Bedenken und Wünsche im Bezug auf die bevorstehende Veranstaltung. So berichtete uns beispielsweise ein Lehrer über seine Bedenken, die Eltern könnten ihre Kinder zu Hause behalten, weil sie nicht wollten, dass „so etwas“ in der Schule thematisiert wird. Eine Lehrerin sprach ihre Angst an, die Abwehrhaltung der Jugendlichen könnte sich durch die aktive Auseinandersetzung verstärken. Eine andere Lehrerin freute sich dagegen, dass die Jugendlichen nun endlich all ihre Fragen stellen könnten.
Wir erleben es des Öfteren, dass schon auf dem Weg zum Klassenraum auf „besonders schwierige“ Jugendliche hingewiesen wird. Diese werden dann häufig vor Beginn unserer Veranstaltung namentlich vor uns und der Klasse ermahnt und zurecht gewiesen. Ein denkbar schlechter Start für unsere Veranstaltungen, die auf einen guten und entspannten ersten Kontakt mit den Jugendlichen abzielen. In den meisten Fällen zeigt sich in unserer eigenen und tiefer gehenden Arbeit mit den Jugendlichen das Gegenteil von dem, was die Lehrenden zu Beginn als Befürchtungen an uns herantragen. Unser Eindruck ist eher: Die Jugendlichen arbeiten mit, diskutieren heftig und vertreten aktiv ihre Meinung, wenn ihnen der Raum dafür gegeben wird.
Die erste Begegnung mit den Jugendlichen ist häufig für beide Seiten aufregend. Alle, egal ob Jugendliche oder TeamerInnen, sind nervös und neugierig. Ab und an kursieren dabei Sätze unter den Jugendlichen wie: „Klar ist der schwul! Das seh‘ ich doch!“ oder „Oh geil. Echte Lesben!“ und „Ist das ein Mann oder eine Frau?“ Wir wissen dann: Das wird sicher keine langweilige Veranstaltung. Es ist alles möglich: Wir können mit den Jugendlichen reden, einfach nur Spaß haben, einen spielerischen Zugang zu ihnen entwickeln, aber auch genauso auf massive Abwehr stoßen und im schlimmsten Fall in Konflikt geraten. Sprüche solcher Art deuten wir jedenfalls erstmal als ein allgemeines Interesse an uns und dem Thema an sich.
Nach diesem gegenseitigen ersten „Beschnuppern“ erfolgt eine Begrüßung und die Einteilung in Mädchen- und Jungengruppen. Unsere Erfahrung bisher hat gezeigt, dass es für unsere Bildungsveranstaltungen, die in der Regel 90 oder 135 Minuten dauern, einfacher und effektiver ist, mit den Klassen in geschlechtergetrennten Gruppen zu arbeiten. So bereiten die Teamer die Arbeit mit der Jungengruppe und die Teamerinnen die Arbeit mit der Mädchengruppe vor. Sprachlich haben wir an dieser Stelle natürlich stark vereinfacht, was in der Realität nicht so einfach ist: die Zuordnung zu einem, manchmal auch mehreren Geschlechtern. Einerseits verkürzt es die Selbstdefinition einiger unserer transgeschlechtlichen TeamerInnen, die sich als sowohl weiblich als auch männlich definieren. Andererseits nehmen wir indirekt durch die Trennung in Jungen- und Mädchengruppen eine Einordnung der Jugendlichen vorweg, ohne deren Selbstdefinition zu kennen oder zu erfragen.
Als nächstes beginnen wir in unseren Kleingruppen mit einer kurzen Vorstellung unseres Vereins. Es folgt eine Vorstellungsrunde, in der sich alle Jugendlichen und TeamerInnen mit ihrem Vornamen vorstellen. Um einander etwas näher kennen zu lernen, stellen wir eine „persönliche“ Frage, beispielsweise was die Jugendlichen gut können oder besonders mögen. Etwas mehr in die Tiefe geht die Frage: Kennt ihr bereits lesbische, schwule, bisexuelle oder transgeschlechtliche Personen? Anschließend werden Gesprächsvereinbarungen für die gemeinsame Zeit geschlossen. Die wichtigste Regel dabei ist: Alle Fragen dürfen gestellt werden, doch niemand ist gezwungen, diese zu beantworten. Freiwilligkeit ist auch hier ein wichtiges Prinzip. Die Jugendlichen können zusätzlich Regeln für die Gruppe aufstellen, um den gegenseitigen Respekt zu sichern.
Das folgende Aufwärmspiel dient dann dem Zweck, das Eis zu brechen und eine entspannte Grundstimmung für den weiteren Verlauf zu schaffen. Die Plätze werden bunt gewechselt, frei nach dem Prinzip:
Alle, die…
…Turnschuhe tragen
…Ferien lieben
…Haustiere haben
…sich gerne schminken
…schon mal jemanden geküsst haben
…mal für einen Tag das Geschlecht wechseln würden
…gerne verreisen
…mehr als eine Sprache sprechen
…wechseln die Plätze
Dem Aufwärmspiel schließt sich eine Fragerunde an, in der die Jugendlichen ermutigt werden, ihre Fragen zu Homo- und Transsexualität zu formulieren. Dabei lassen wir sie entscheiden, ob sie ihre Fragen direkt stellen oder lieber anonym auf Fragekarten schreiben wollen. In allen Gruppen, ganz unabhängig von Alter, Schulform und Herkunft, treten sehr ähnliche Fragen auf, wie besipielsweise:
- „Wie wird man schwul oder lesbisch?“
- „Seid wann seid ihr es?“
- „Wie haben eure Familie und Freunde reagiert?“
- „Werdet ihr oft diskriminiert?“
- „Wie habt ihr Sex miteinander?“
- „Was ist transgender und transsexuell?“
- „Wollt ihr Kinder?“
- „Wollt ihr heiraten?“
Zumeist werden in der Fragerunde zuerst die Begriffe ge- und erklärt, so findet eine Annäherung an das Thema statt. Die Antworten auf die Fragen werden jedoch nicht ausschließlich von den TeamerInnen gegeben, sondern wir ermutigen ebenso die Jugendlichen, selbst Antworten darauf zu finden. Häufig greifen wir bei der Beantwortung der Fragen auf Erlebnisse aus unserem Leben zurück. Das macht unsere Veranstaltungen lebendig und unterscheidet sie deutlich vom sonstigen Unterricht. Dabei zeigt sich, dass gerade unsere „Geschichten“, die Einblicke in unser alltägliches Leben, uns den Jugendlichen näher bringen und ein Gespräch eröffnen. Es bietet sich die Gelegenheit, an die Lebenswelt der Jugendlichen anzuknüpfen und nach ihren Wünschen und Lebensträumen, aber auch Diskriminierungserfahrungen zu fragen. Dadurch werden neben den Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Lebensweisen sichtbar.
Während der Fragerunde tritt in Mädchengruppen häufig das Thema „Erwartungen“ auf: Welche Erwartungen haben Eltern an ihre Kinder, die Schule an Leistung oder die Gesellschaft an Mädchen? Im Gespräch tauschen sich die Mädchen beispielsweise über folgend Fragen aus: Wie willst du später leben? Willst du eine Partnerschaft? Wie soll diese sein? Willst du Kinder? Erwarten deine Eltern, dass du einen speziellen Beruf ergreifst? Erwarten sie, dass du heiratest? Viele dieser Fragen führen zu einer Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen, Familienbildern oder Vorstellungen von „einem guten und erfolgreichen“ Leben.
Auch in den Jungengruppen wird das Thema Erwartungen aufgegriffen. Der Schwerpunkt liegt in diesen Gruppen oft auf der Auseinandersetzung mit Frauen- und Männerbildern. Insbesondere die Beschäftigung mit Männerbildern und -stereotypen ist dabei zentral. Deutlich wird, wie wichtig es fast allen Jungen ist, ein „richtiger Kerl“ zu sein und als solcher von den anderen Jungen wahrgenommen zu werden.
Let´s talk about Sex
In unseren Veranstaltungen wird von den Jugendlichen immer wieder das Thema Sexualität angesprochen. Für viele von ihnen ist das ein aufregendes Thema, zu dem sie gerne mehr erfahren möchten. In unseren Diskussionen zu verschiedenen Aspekten von Sexualität stellen wir fest, dass wir nicht selten die Ersten sind, die mit den Jugendlichen darüber offen sprechen. Viele ihrer Fragen blieben bisher unbeantwortet, ja häufig sogar ungestellt aus Mangel an Ansprechpersonen oder aus Furcht vor Missbilligung oder Spott.
Oberstes Gebot für die Thematisierung von Sexualität in unseren Veranstaltungen ist, dass die Jugendlichen das Thema aus eigenem Antrieb zur Diskussion stellen. Sie geben dabei den Rahmen und das Tempo vor. Uns verblüfft es dabei immer wieder, wenn wir in der Arbeit - auch mit Jugendlichen der 9. oder 10. Klasse - feststellen, dass die Unwissenheit besonders bei den Mädchen sehr groß ist. So ist es schon vorgekommen, dass eine Klitoris aufgemalt werden musste, um sicher zu stellen, dass alle wissen, wovon gerade gesprochen wird. Die Fragen rund um das Thema Sexualität, die diskutiert werden, sind vielfältig und bewegen sich oft zwischen Neugier und Scham: Einige Beispiele:
- „Wer sagt denn, dass das Spaß macht?“
- „Ja, natürlich befriedigen die Jungs sich selbst. Aber Mädchen? Wie soll das denn gehen?“
- „Wer bestimmt Sex?“
- „Sex geht auch ohne reinstecken?“
- „Wie machen´s denn die Homos?“
- „Ist das nicht ekelig?“
Viele Jugendliche, insbesondere in den Mädchengruppen, berichten uns, dass in ihren Familien wenig über Sexualität gesprochen oder sogar das Thema gänzlich tabuisiert wird. Dies scheint besonders in traditionell-religiösen Familien der Fall zu sein, egal ob christliche oder muslimische. Häufiger geäußert wird dies uns gegenüber jedoch von den Jugendlichen aus traditionell-muslimischen Familien. Die Jugendlichen erleben dies als Zwiespalt: Sie leben in einer Welt, in der Sexualität offen bis aufdringlich thematisiert und offeriert wird, ohne hilfreiche Angebote nutzen zu können, über das Gesehene, Erlebte, ihre Wünsche, Ängste und Widersprüche offen sprechen zu können.
Einige Jugendliche möchten daher in unseren Veranstaltungen nicht über Sexualität sprechen, aus anderen sprudeln die Fragen, Erfahrungen und Eindrücke nur so hervor. Die Erwartungen, die Familien und oft auch Gleichaltrige an die Jugendlichen stellen, sind wichtiger Bestandteil unserer Diskussionen. Jungfräulichkeit und Hingabe spielen dabei für viele Mädchen, Männlichkeit und Ehre für die Jungen eine bedeutende Rolle. Auffallend ist, dass viele Jugendliche traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit vertreten und Partnerschaften dementsprechend gestalten wollen. Da weibliche Sexualität oft vernachlässigt oder sogar negiert wird, ist es für manche Mädchen verblüffend neu, dass Sexualität auch für sie selbstbestimmt und lustvoll sein kann.
Im Rahmen unserer sexualpädagogischen Arbeit ist es uns wichtig, mit den Jugendlichen diese unterschiedlichen Normen und Werte zu diskutieren und darauf aufbauend, alternative Sichtweisen zu testen. Die zentralen Botschaften, die wir zum Thema Sexualität vermitteln, sind: die unbedingte Freiwilligkeit aller Beteiligten, wenn es um Sex geht, und die Notwendigkeit zur offenen Kommunikation darüber.
„Ihr deutschen Kartoffelnasen könnt gar nicht verstehen, wie es bei uns so ist!“
Wie eingangs erwähnt, ist unser Team insgesamt recht homogen: alle sind weiß, mehr oder weniger christlich sozialisiert, besitzen einen deutschen Pass, haben eine hohe formale Bildung und stammen zu großen Teilen aus Mittelschichtsfamilien. Diese Zugehörigkeiten können uns mit den Jugendlichen verbinden, wenn diese einen ähnlichen Hintergrund haben. Sie können aber auch trennend wirken, wenn die Zugehörigkeiten gänzlich andere sind. In diesem Fall versuchen wir, mit Methoden und Materialien eine Brücke zu den Jugendlichen zu schlagen. Um Mehrfachzugehörigkeit darzulegen, greifen wir auf Biographien und Erlebnisse befreundeter Lesben, Schwuler, Bisexueller und transgeschlechtlicher Personen zurück, die einen Migrationshintergrund haben. Dies verdeutlicht, dass es viele Menschen gibt, die verschiedenen, einander scheinbar ausschließende soziale Gruppen angehören können, aber gleichzeitig eine oder mehrere Gemeinsamkeiten - in diesem Fall die Homo- oder Transsexualität - haben.
Hier zeigt sich Vielfalt in einer neuen Gestalt für viele Jugendliche: Homosexualität, eben noch ein „deutsches Problem“, ist nun ein universelles Thema und rückt näher an ihre eigene Lebenswelt. Sie setzen sich auf einmal damit auseinander, dass es auch schwule Türken oder bosnische Lesben gibt. In diesem Zusammenhang verweisen wir häufig auf die verschiedenen Vereine, Projekte und Gruppen, wie GLADT oder LesMigraS, in denen sich Lesben, Schwule, Bisexuelle und transgeschlechtliche Personen mit Migrationserfahrung organisieren. Diese Informationen werden nicht nur von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern auch von den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund mit Interesse und manchmal auch Verwunderung aufgenommen. Unsere Erfahrung verdeutlicht, wie wichtig die Thematisierung von Mehrfachzugehörigkeit und das Ansprechen von Mehrfachdiskriminierung ist. Viele Jugendliche sind es gewohnt, Identität und Zugehörigkeit in Entweder-Oder-Schemata zu denken. Ihnen eine Perspektive des sowohl-als-auch anzubieten, kann für ihre eigene Identitätsentwicklung und ihren Umgang mit anderen Menschen hilfreich sein.
Am Ende unserer Veranstaltung bitten wir die Jugendlichen um ein Feedback. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass viele nicht damit vertraut sind, ihre Meinung offen zu formulieren. Unsicherheit und der Wunsch nach Konformität zeigen sich deutlich in vermeintlich sozial erwünschten Antworten. Sind die Jugendlichen jedoch mutig genug, so erhalten wir eine ehrliche Rückmeldung. Als positiv werden immer unsere Offenheit, die vermittelten Informationen und verwendeten Methoden bewertet. Darüber hinaus gefällt den Jugendlichen, dass sie ihre Meinungen offen vertreten dürfen. Seltener wird negative Kritik ausgesprochen. Manchmal werden Aufwärmspiele als zu kindisch, Inhalte als bereits bekannt oder die Gruppe als zu laut oder chaotisch bemängelt.
Die TeamerInnen nehmen ebenso an der Feedbackrunde teil und geben ihren Eindruck von der Veranstaltung wieder. Dabei achten wir darauf, dass wir eine konstruktive und wertschätzende Rückmeldung geben und vor allem das hervorheben, was „gut gelaufen“ ist. Nach der Arbeit mit den Gruppen führen wir ein Nachgespräch mit den Lehrenden. Wir berichten über die besprochenen Inhalte und zeigen mögliche Anknüpfungspunkte sowie Aspekte auf, die im Unterricht vertiefend behandelt werden sollten, wie beispielsweise die Wissenslücken der Jugendlichen im Bereich der Sexualität.
„Und was ist nun mit den homophoben muslimischen Jugendlichen?“
Was lässt sich abschließend aus unserer Sicht dazu feststellen? In aller Kürze: Jugendliche mit Migrationshintergrund (egal welchem) sind homophob. Ebenso sind es Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Sie alle wachsen in einer Gesellschaft auf, die lesbische, schwule, bisexuelle und transgeschlechtliche Lebensweisen noch immer nicht als gleichwertig zu heterosexuellen, nicht-transgeschlechtlichen Lebensweisen bewertet. Homophobie ist also ein gesamtgesellschaftliches Problem.
In unseren Veranstaltungen agieren Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht wesendlich anders als Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Unterschiede zeigen sich gelegentlich in der Argumentation, warum Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit nicht zu akzeptieren seien. Insbesondere muslimische Jugendliche verweisen dabei auf die Familie und deren gesellschaftliche wie individuelle Bedeutung. Sie ist ihnen ein wichtiger Referenzwert auch im Hinblick auf ihre individuelle Lebensgestaltung.
Ebenso unterscheiden sich die Jugendlichen darin, ob und in welcher Weise sie auf ihre Religion verweisen. Uns begegnet es immer wieder, dass vor allem muslimische Jugendliche eher auf das Argument zurückgreifen, ihre Religion verbiete Homosexualität. Auch konservativ-traditionelle christliche Jugendliche bedienen sich dieses Arguments, doch ihre Zahl ist geringer. Die Argumente und Bezugspunkte eher säkularer Jugendlicher sind Natur und Wissenschaft, die aus ihrer Sicht Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit als Irrwege enttarnen.
Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Erfahrungen lässt sich festhalten, dass sich Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund kaum voneinander unterscheiden. Diese Erkenntnis führt uns dazu, keine spezifischen Veranstaltungen für Jugendliche mit Migrationshintergrund oder gar speziell für muslimische Jugendliche anzubieten. Wir setzen hier bewusst auf einen inklusiven Ansatz. Dennoch bemühen wir uns in unseren Veranstaltungen, auch als Beispiel für das Leben in Vielfalt, den Themen Migration, Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierung Raum zu geben. Unsere Materialien sind deshalb so gestaltet, dass sich möglichst viele Jugendliche darin wiederfinden bzw. Identifikationsfiguren darin entdecken können.
Wir denken, dass, trotz der vielen unbeantworteten Fragen über die Lebenswelten migrantischer Jugendlicher, unsere Arbeit auch für pauschalisierende und stigmatisierende Be- und Verurteilungen von Menschen aufgrund ihrer Herkunft sensibilisiert. Die Arbeit mit und nah an den Jugendlichen bereichert uns und verändert unsere Sicht auf die Welt. Sie lehrt auch uns, Vielfalt in all ihren Facetten zu erkennen, zu respektieren und als Herausforderung für eine zukünftige tolerantere Gesellschaft zu fördern.
Oktober 2010
Das Team von ABqueer e.V.. Der Verein führt Bildungsveranstaltungen zum Thema vielfältige Lebensweisen mit Schwerpunkt lesbische, schwule, bisexuelle und transgeschlechtliche Lebensweisen in Berliner Schulen und Jugendclubs durch.