von Marcus Kottmann und Bernd Kriegesmann
Die Fachhochschule Gelsenkirchen (FH GE) wurde 1992 mit einem regionalbezogenen Auftrag gegründet. Durch Lehre und anwendungsnahe Forschung soll die Hochschule einerseits zur beruflichen Befähigung junger Menschen beitragen, andererseits innovatorische Impulse für die im Umfeld liegenden Industrie- und Dienstleistungsbetriebe setzen. Diesem Selbstverständnis folgend wurde das Spektrum der Studiengänge an den drei Standorten in Gelsenkirchen, Bocholt (plus Studienort in Ahaus) und Recklinghausen jeweils eng an den Bedürfnissen der regionalen Wirtschaft orientiert.
Das entwickelte Fächerspektrum hat ein deutliches, technisch-ökonomisches Profil mit einem breit aufgestellten Fächerkanon (Wirtschaft, Wirtschaftsingenieurwesen, Maschinenbau, Mechatronik, Elektrotechnik, Informatik, Mikro- und Medizintechnik, Molekularbiologie, Chemie). Insgesamt adressiert das Studienangebot sowohl klassische Berufe als auch neu entstehende Qualifikationsfelder.
Die Ausgangssituation vieler Hochschulen in Metropolregionen
Dass diese Angebotspalette die Nachfrage junger Menschen trifft, zeigt die quantitative Entwicklung der StudienanfängerInnen- und Studierendenzahlen. Während im Studienjahr 2000 etwa 1.200 junge Menschen ihr Studium aufnahmen und noch deutlich unter 4.000 Studierende an den drei Standorten ihrem Studium nachgingen, erhöhten sich diese Zahlen bis zum Studienjahr 2010 auf über 2.000 StudienanfängerInnen und über 7.000 Studierende. Diese Entwicklung wurde möglich, weil es an allen drei Standorten gleichermaßen gut gelungen ist, studienberechtigte SchülerInnen für die Studienangebote zu begeistern. Annähernd 95 % der Studierenden stammen aus Nordrhein-Westfalen – davon der dominante Anteil aus den direkten Einzugsgebieten der Standorte.
Parallel zur Zunahme der Studienanfänger- und Studierendenzahlen wurden die Absolventenzahlen in den letzten Jahren kontinuierlich gesteigert. So hat sich die Zahl der AbsolventInnen an der FH GE in den letzten acht Jahren mehr als verdoppelt. Im Prüfungsjahr 2009 haben erstmals fast 1.000 Studierende ihr Studium erfolgreich abgeschlossen, in 2010 werden es schon deutlich über 1.000 sein. Die AbsolventInnen genießen dabei in den Unternehmen der Region einen guten Ruf, was sich auch in sehr stabilen – und gegen den Trend in NRW weiter ausgebauten – Kooperationen bei dualen Studiengängen ausdrückt. Heute senden Unternehmen der Region einen wachsenden Teil ihrer Auszubildenden an die FH GE, um hier in vier Jahren neben der Berufsausbildung gleichzeitig auch ein Studium zu absolvieren.
Zur qualitativen Bewältigung dieses Wachstums in Lehre und Studium wurden in den vergangenen Jahren vielfältige Entwicklungsmaßnahmen in allen Phasen des Bildungsprozesses angestoßen. Insgesamt haben diese Aktivitäten zu einem differenzierten Qualitätsmanagement-System geführt, welches sich grundsätzlich an den drei Phasen „Orientierung und Vorbereitung auf das Studium (EINSTEIGEN)“, „Lehre und Studium (DURCHSTEIGEN)“ sowie „Eintritt in den Arbeitsmarkt und Bindung an die Hochschule (AUFSTEIGEN)“ orientiert (vgl. die Prozessdarstellung in Abb. 1).
Abb. 1: Handlungsfelder in den Phasen des akademischen Bildungsprozesses
und Fokus des Programms FH-INTEGRATIV
Zentrale „Strategische Herausforderungen“ für die Fachhochschule Gelsenkirchen
Um diese gute Position der FH GE zu stärken und weiter auszubauen, sind in den kommenden Jahren allerdings erhebliche Herausforderungen zu meistern: Einerseits sind quantitative Anforderungen an den Hochschulen zu bewältigen, die den Beitrag zur Steigerung der Akademisierungsquote der Bevölkerung sowie die Bewältigung des anstehenden Doppelabiturjahrgangs betreffen. Andererseits sind weitere qualitative Verbesserungen in der Lehre sowohl zur Senkung der Abbrecher- und Wechslerquoten als auch zur Steigerung der Abschlüsse in Regelstudienzeit anzustreben. Perspektivisch geht es zusätzlich darum, bei rückläufigen Zahlen studienberechtigter junger Menschen ab 2015 neue Zielgruppen zu erschließen.
Neben diesen Entwicklungsdeterminanten stellen sich der FH GE aufgrund regionaler Besonderheiten jedoch auch spezifische Anforderungen, die gegenüber anderen Fachhochschulen deutlich differenzierte Profilierungsstrategien voraussetzen. Von herausragender Bedeutung ist es in diesem Kontext, Lösungsmuster zur besseren Aktivierung und Entfaltung der an Talente aus einkommensschwächeren und „hochschulfernen“ Familien gebundenen Potenziale zu entwickeln und umzusetzen. Überproportional viele Jugendliche im Einzugsgebiet der FH GE kommen aus sozial schwachen Familien (1), wobei darunter wiederum ausländische Jugendliche bzw. Jugendliche mit deutscher Staatsbürgerschaft und Migrationshintergrund einen sehr hohen Anteil einnehmen.
So stellte Gelsenkirchen als mit Abstand größter Standort der FH GE im Jahr 2009 mit einem Ausländeranteil unter den SchülerInnen (inkl. SchülerInnen aus Aussiedlerfamilien) von 23,6 Prozent den zweithöchsten Wert aller Städte und Gemeinden in NRW und den höchsten Wert aller Fachhochschulstandorte in NRW. Dieses Niveau liegt nicht nur deutlich über dem Landesdurchschnitt von 13,8 Prozent. Wesentlicher ist noch, dass diese Zahlen die Gruppe der eingebürgerten SchülerInnen mit Migrationshintergrund nicht erfassen. Berechnet man den Anteil „eingebürgerter MigrantInnen“ auf Basis von Daten der 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (2), ist am Standort Gelsenkirchen von einem Gesamtanteil ausländischer SchülerInnen und eingebürgerter SchülerInnen mit Migrationshintergrund von etwa 50 Prozent auszugehen. Belegt ist inzwischen ein Anteil von 50,1 Prozent aller SchülerInnen mit Migrationshintergrund an Gelsenkirchener Grundschulen (inklusive der konfessionellen).(3)
Da dieser Anteil gegen den Trend der Bevölkerungsentwicklung weiter wächst (4), ist für die Zukunft am Hauptstandort der FH GE eine zunehmende Bedeutung von Studierenden mit Migrationshintergrund klar prognostizierbar. Mit Blick auf diese zentrale Zielgruppe sind jedoch besondere (bildungs-)biographische Ausprägungen zu berücksichtigen, denen zum Teil gravierende Auswirkungen auf den Eintritt, den Verlauf und den Abschluss akademischer Ausbildungsgänge sowie anschließende Übergänge in den Arbeitsmarkt zuzuweisen sind.
- So gibt es Hinweise, dass die Hochschulzugangsberechtigung häufiger über Qualifizierungsangebote der Gesamtschulen und Berufskollegs erworben wird und auch häufiger auf dem Niveau der Fachhochschulreife verbleibt, was insgesamt zu einer stärkeren Spreizung der Eingangsvoraussetzungen führt.(5)
- Starke Einflüsse auf das Studierverhalten sind mit dem Aspekt zu verbinden, dass bundesweit jeweils deutlich mehr als 40 Prozent aller studierenden „BildungsinländerInnen“ und „eingebürgerten MigrantInnen“ aus niedrigen sozialen Herkunftsgruppen stammen (dreimal mehr als beim Durchschnitt aller Studierenden). Es ist nachgewiesen, dass mit der Zugehörigkeit zu sozial niedrigen Herkunftsgruppen ein erheblich verminderter Bildungserfolg in allen Phasen des Bildungsprozesses zu verbinden ist.(6) Ebenso wird davon ausgegangen, dass Studierende aus niedrigen sozialen Herkunftsgruppen im Studienverlauf einen deutlich höheren Beratungsbedarf haben und im Schnitt sehr viel länger studieren als Studierende aus höheren sozialen Herkunftsgruppen.(7)
- Verlängerte Studienzeiten von Studierenden aus sozial niedrigen Herkunftsgruppen lassen sich dabei keineswegs nur mit differierenden Leistungspotenzialen begründen. Es bestehen vielmehr Hinweise auf wesentliche Einflüsse durch Finanzierungsmuster, die zu Lasten eines kontinuierlichen Studiums gehen.(8) Dieser Wirkungszusammenhang erscheint insbesondere auch für Studierende mit Migrationshintergrund plausibel, weil diese im Studium wesentlich weniger auf finanzielle Unterstützung der Eltern bauen können bzw. wesentlich stärker auf Bafög und eigenen Verdienst angewiesen sind als der Durchschnitt der Studierenden.(9)
In Summe kommen damit vielfältige Einflussfaktoren zum Tragen, die bislang eine gegenüber dem Durchschnitt aller Studierenden deutlich seltenere Aufnahme eines Hochschulstudiums bedingen, tendenziell Studienzeit verlängernd wirken und zu häufigeren Studienunterbrechungen respektive -abbrüchen führen.(10) Diese auf den Input- und Throughput-Bereich akademischer Ausbildungsgänge zu beziehenden Herausforderungen finden auch im Outputbereich ihre Fortsetzung, weil HochschulabsolventInnen mit Migrationshintergrund in Deutschland, anders als in anderen europäischen Ländern, deutlich schlechtere Beschäftigungschancen haben als AbsolventInnen ohne ausländische Eltern.(11)
Eine verstärkte Auseinandersetzung mit dieser strategisch bedeutsamen Studierendenklientel ist folglich insbesondere am Standort Gelsenkirchen ohne Alternative und impliziert die Notwendigkeit integrativer Maßnahmenbündel, die intensivierte bzw. völlig neue zielgruppenspezifische Beratungs- und Betreuungsangebote im Vorfeld der Ausbildungsentscheidung, in der Studieneingangsphase, im Studienverlauf und zum Teil auch beim Berufseinstieg beinhalten müssen.
Abb. 2: FH-INTEGRATIV – Ausgewählte Herausforderungen im akademischen Bildungsprozess
Professionalisierung von Lehre und Studium durch die Strategische Initiative FH-INTEGRATIV
Führt man die skizzierten Befunde zusammen, lassen sich Konturen einer strategischen Initiative mit Ansatzpunkten für die Weiterentwicklung der Qualität von Lehre und Studium an der FH GE ableiten. Es wird klar, dass flankierende Maßnahmen für Zielgruppen aus hochschulfernen Familien – und darunter insbesondere auch aus Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte – über die gesamte Bildungsprozesskette heute intensiviert werden müssen, um auch über das Jahr 2015 hinaus durch qualitativ überzeugende Bildungsangebote eine gute Auslastung zu sichern und mit anspruchsvoll ausgebildeten AbsolventInnen bildungs- wie strukturpolitische Impulse in der Region geben zu können.
Strategische Zielsetzungen von FH-INTEGRATIV
Um diese komplexen Herausforderungen aufzugreifen, wurde an der FH GE Anfang 2009 das hochschulweite Aktionsprogramm „FH-INTEGRATIV“ aufgesetzt. Hierüber werden innerhalb der Prozesskette „Orientierung & Vorbereitung auf das Studium, Studienverlauf und -abschluss sowie Eintritt in den Arbeitsmarkt und Absolventenbindung“ zielgruppenspezifische Verbesserungspotenziale für die Qualität in Studium und Lehre adressiert. Dabei wird nicht eine sehr spezifische Einzelaktivität forciert, sondern ein strategischer Gesamtansatz verfolgt.(12) Die strategischen Zielsetzungen von FH-INTEGRATIV adressieren vordringlich
- die bessere Ansprache von leistungsfähigen Talenten, die eine akademische Bildungsbiographie bislang nicht in Erwägung ziehen,
- die Überwindung sozialisationsbedingter Einstiegsbarrieren bzw. die Verbesserung von Einstiegsvoraussetzungen insbesondere in sprachlichen und mathematischen Kompetenzbereichen,
- die Senkung von Studienunterbrechungen bzw. sogar -abbrüchen durch Berücksichtigung zielgruppenspezifischer Bedürfnislagen,
- die Verbesserung von Übergängen aus der Hochschule in den Beruf.
Projektierung und aktuelle inhaltliche Schwerpunkte von FH-INTEGRATIV
Durch die Einstellung der strategischen Ziele in den aktuellen Hochschulentwicklungsplan 2009-2015 der FH Gelsenkirchen wurden die formalen Voraussetzungen für die Umsetzung des Programms geschaffen. Jenseits dieser formalen Legitimation ist völlig klar, dass die „gelebte Umsetzung“ eines so umfangreichen und langfristig angelegten Programms mit einer Vielzahl von – durchaus auch sehr kontrovers diskutierten – Themen nur durch die Einbindung, Beteiligung und Unterstützung unterschiedlicher Akteure zum Erfolg geführt werden kann. Innerhalb der Hochschule sind sowohl die dezentralen Akteure in den Fachbereichen zu aktivieren als auch Serviceeinheiten zu formieren, die zentrale Aufgaben übernehmen. Außerhalb der Hochschule ist die Einbindung einer Vielzahl regionaler und überregionaler AkteurInnen notwendig, um Zugänge zu eröffnen, Kooperationen anzubahnen und zusätzliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Einige der bereits feststehenden Aktionsschwerpunkte konkretisieren sich in den folgenden „Teilprojekten“:
Identifizierung und Überwindung von Eintrittsbarrieren bei Studierenden aus hochschulfernen Familien in die FH GE: Angesichts der vorhandenen empirischen Befunde ist davon auszugehen, dass im regionalen Umfeld der FH GE zahlreiche Talente sozialisationsbedingt nicht den Weg in die Hochschule finden. Die FH GE verstärkt daher ihre Bemühungen, durch frühzeitige Kontakte mit den Schulen im Einzugsbereich auf ihre Studienangebote aufmerksam zu machen und spezifische Eintrittsbarrieren zu identifizieren. Da LehrerInnen als Multiplikatoren für akademische Entwicklungsperspektiven bzw. als Know-How-Träger gewonnen werden müssen, wurde aus Kooperationsgesprächen mit Schulen der Region das Konzept eines „Teachers days“ entwickelt. Dieses Konzept richtet sich an Lehrerkollegien ortsansässiger Schulen und ermöglicht es innerhalb eines Tages, die Infrastruktur, die Studiengänge und Studienanforderungen sowie relevante Ansprechpartner und Netzwerkkontakte der FH GE persönlich kennen zu lernen.
In eine ähnliche Richtung zielt das Konzept einer „Elternakademie“. Hierbei geht es um die gezielte „vor Ort-Beratung“ von Eltern in den Schulen, in der Hochschule oder in anderen der Aktivierung dieser Zielgruppe dienlichen Räumlichkeiten (z. B. Kulturvereinen). In Kooperation mit StuBo-LehrerInnen (StuBo steht für Studien- und Berufsorientierung) sollen Ausbildungsberufe und Studienmöglichkeiten sowie deren Verbindung in dualen Studiengängen gerade für solche Eltern aufbereitet werden, die aus der eigenen Biographie nicht über entsprechende Erfahrungen verfügen. Mit Unterstützung des kommunalen Bildungsbüros der Stadt Gelsenkirchen und der Schulverwaltung des Kreises Recklinghausen wird daran gearbeitet, Netzwerkkontakte in der Region zu bündeln und gemeinsam Ansatzpunkte für Interventionsmaßnahmen abzuleiten.
Die Beteiligung der FH GE am Gelsenkirchener Beratungsnetzwerk (GeBeNet) ist hier ein wichtiger Baustein, um die Sensibilisierung für Aufstiegskarrieren über die Hochschule, insbesondere auch unter Jugendlichen aus Zuwandererfamilien, zu verbreitern. Zu diesen gemeinsamen Interventionen gehören aber ebenso die Förderung des Stipendienwesens, die Öffnung von Zugängen in die deutschen Begabtenförderungswerke, die Verbreiterung des Angebotes dualer Studiengänge (da diese über die Ausbildungsvergütung finanziell bedingte Einstiegsbarrieren überwinden), die glaubhafte Darstellung von beruflichen Entwicklungsperspektiven über Absolventinnen und Absolventen der Hochschule („role models“) u.w.m.
Identifizierung und Überwindung von Eintrittsbarrieren bei Studierenden mit Migrationshintergrund in duale Studiengänge der FH GE: Als besondere Facette von Eintrittsbarrieren in die FH GE stellt sich die vollkommen unzureichende Frequentierung dualer Studienangebote durch Studierende mit Migrationshintergrund dar. Die FH GE hat erste Gespräche mit Vertretern von Kooperationsbetrieben in dualen Studiengängen, UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund und der IHK Nordwestfalen sowie der Handwerkskammer zu Münster aufgenommen, um Ursachen für diese Fehlentwicklungen zu isolieren und geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten. Die Deutsche BP AG als einer der größten Ausbildungsbetriebe in der Region hat die Mitarbeit an diesem Aktionsschwerpunkt ebenso wie der Internationale Unternehmerverband Ruhrstadt zugesagt. Die FH GE arbeitet intensiv daran, den begonnenen Dialog in der Region erheblich auszuweiten.
Mit derartigen Aktivitäten soll über die gezielte Anwerbung von Betrieben und die Beratung von Entscheidungsträgern kooperierender Betriebe der Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund in dualen Studiengängen bis 2015 in Richtung des entsprechenden Studierendenanteils entwickelt werden, auch, um in diesem zukunftsträchtigen Bereich „neue Bildungskarrieren“ zu erzeugen. Innerhalb der FH GE konnten durch die Auszeichnung des Programms „fh kooperativ“ im bundesweiten Hochschulwettbewerb „Nachhaltige Hochschulstrategien für mehr MINT-Absolventen“ zusätzliche Ressourcen für dieses Arbeitsfeld realisiert werden, um ein „Servicezentrum Duales Studium“ aufzubauen, welches Studieninteressierte und Ausbildungsbetriebe besser zusammen bringen und unterstützen wird.
Konzeption und Etablierung einer Einstiegs-Akademie: Als ein Kernelement der strategischen Initiative ist die Etablierung einer „Einstiegs-Akademie“ zu betrachten, die für eine Verbesserung von Übergängen von der Schule in die Hochschule sorgen, eine verbesserte Orientierung auf akademische Ausbildungsstrecken ermöglichen und gezielt bestehende Defizite in den Eingangsvoraussetzungen und Lernstrategien adressieren soll. Dazu hat die Hochschule einerseits Orientierungstests aufgebaut, die SchülerInnen bei der Einschätzung hilft, ob ein Studiengang den individuellen Stärken entspricht. Abgestimmt auf das Profil der FH GE geht es darüber hinaus insbesondere darum, talentierten Jugendlichen die Anhebung von Leistungsniveaus im Bereich sprachlicher und mathematisch-naturwissenschaftlicher Kompetenzen mit bedürfnisgerechten Angeboten zu ermöglichen.
Abb. 3: FH-INTEGRATIV – Ausgewählte Aspekte der FH GE-Einstiegsakademie
Durch die Ausdifferenzierung von Hochschulzugangswegen hat die Spreizung der Einstiegsvoraussetzungen gerade in diesen Kernkompetenzfeldern für den Studienerfolg erheblich zugenommen. Es ist aber kaum möglich, (z.B. über klassische Vorkurse) in einigen Wochen vor Studienbeginn die Differenz zwischen einer an einem Gymnasium erworbenen allgemeinen Hochschulreife mit Leistungskurs in Mathematik und einer z. B. auf der Basis eines Realschulabschlusses und daran angeschlossener fachschulischer Ausbildung mit Praxisphasen erlangten Fachhochschulzugangsberechtigung so auszugleichen, dass die Lehrveranstaltungen auf einem für die einen nicht unterfordernden und für die anderen nicht überfordernden Anspruchsniveau gehalten werden können. Da schlechtere Startvoraussetzungen aber nicht grundsätzlich mit fehlenden Leistungspotenzialen gleichzusetzen sind, hat sich die FH GE entschlossen, zusätzliche zielgruppenspezifische Förderangebote in Kernkompetenzbereichen sowohl vor Studienbeginn als auch im Studium zu entwickeln (insbesondere in den ersten beiden Fachsemestern).
Mit Schulen im Einzugsgebiet und der Stadt Gelsenkirchen sind diesbezüglich erste Gespräche über eine Verzahnung mit bereits laufenden Fördermaßnahmen geführt worden. Das Spektrum diskutierter Maßnahmen reicht darüber hinaus von durch Tutoren der FH GE geleiteten Kleingruppenübungen schon während der Schulzeit (insb. im Bereich Mathematik und Physik) über Angebote wie z.B. „Deutsch als Zweitsprache“ bis hin zu Schreibwerkstätten. Ebenfalls in der Einstiegs-Akademie einbezogen werden soll der Ausbau von, speziell für MINT-Fächer in den Fachbereichen angebotenen, Hospitationskursen (die auf wachsendes Interesse stoßen). In Absprache mit den Schulen werden hier Veranstaltungen während des Unterrichts angeboten, mit denen das Studium der FH GE an seinen Standorten veranschaulicht wird.
Abb.4: FH-INTEGRATIV – Derzeitige Handlungsfelder der Fachhochschule Gelsenkirchen
Maßnahmen im Studienbetrieb: Als weitere, auf die Erhöhung der Attraktivität im Studienverlauf zielende Maßnahmen wurde zum einen die Konzeption und Etablierung eines Bosporus-Zertifikates, in Anlehnung an das bereits existierende „Jean-Monnet-Europazertifikat", angedacht. Dabei würde die Fachhochschule ihren Studierenden die Möglichkeit bieten, besondere Zusatzqualifikationen zu erwerben.
Darüber hinaus sollen, zur Identifizierung und Überwindung von Eintrittsbarrieren bei Studierenden mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt, verstärkt Absolventen der Fachhochschule Gelsenkirchen als „Vorbilder“ gewonnen und über die Plattform toGEther sichtbar gemacht werden. Ein erster Überblick zu den geplanten bzw. angestoßenen Maßnahmen ist in Abbildung 4 zusammengefasst.
Zusammenarbeit mit anderen Partnern und Transferpotenzial von FH-INTEGRATIV
Die skizzierten Ansätze der FH Gelsenkirchen zur Aktivierung von Talenten, die bislang keinen Zugang zu akademischen Ausbildungsgängen haben, betreffen komplexe Veränderungsprozesse innerhalb und außerhalb der Hochschule. Die Ausweitung von kooperativen Engagements zwischen der Hochschule und vielfältigen gesellschaftlichen Akteuren in vor-, neben- und nachgelagerten Bereichen ist dabei zur Verbesserung von Bildungschancen unabdingbar, stellt in der Realität aber keineswegs einen Selbstläufer dar. Viele der regionalen Partner und der Akteure innerhalb der FH Gelsenkirchen müssen im Rahmen von FH-INTEGRATIV Neuland betreten, bspw. wenn
- regionale Förderansätze, die bislang weitgehend ohne die Einbeziehung von akademischen Bildungsgängen aufgelegt und betrieben werden, um akademische Perspektiven zu ergänzen sind.
- Übergangsprozesse an den Schnittstellen Schule – Hochschule – Beruf neu auszutarieren sind.
- bislang isoliert agierende Institutionen aus Wissenschaft, Wirtschaft(sverbänden) und öffentlicher Verwaltung gemeinschaftlich agieren (müssen), um nennenswerte Beiträge zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen in der Region generieren zu können.- Impulse aus anderen Bildungsinstitutionen Veränderungen in der eigenen Organisation induzieren, ohne dass hierbei „Abwehrmechanismen“ ausgelöst werden.
- Verantwortlichkeiten für die Entwicklung und Entfaltung von Talenten insgesamt erheblich erweitert werden.
Da diese Aktivitäten nicht nur die Neujustierung bestehender Aufgabenbereiche betreffen, sondern auch völlig neue Aufgabenfelder entstehen, sind zusätzliche Mittel zur Durchführung notwendiger Konzeptions- und Umsetzungsarbeiten von Maßnahmen im Rahmen von FH-INTEGRATIV zu realisieren. In Zeiten kollabierender öffentlicher Haushalte ist dies zwar kein leichtes Unterfangen, aber durch die zunehmende Aufmerksamkeit für notwendige Strukturveränderungen innerhalb der Hochschulfinanzierung auch nicht unrealistisch.
Fazit
Die FH Gelsenkirchen weist mit ihrem regionalen Umfeld gerade mit Blick auf die Rolle als „Hochschule des sozialen Aufstiegs“ Charakteristika auf, die für viele Standorte anderer Hochschulen ebenfalls in zunehmendem Maße relevant werden dürften. Insbesondere ist davon auszugehen, dass sich wesentliche Teile der an der FH Gelsenkirchen heute noch – zumindest in ihrer Intensität – weitgehend exklusiv auftretenden strategischen Herausforderungen, im Bereich von Studierenden aus akademiefernen Familien und darunter auch aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte, in naher Zukunft auch anderen Hochschulen in Metropolregionen stellen werden. Zumindest im Ruhrgebiet, mit vergleichbar hohen Anteilen an Jugendlichen aus hochschulfernen Familien sowie – mit heute noch etwas niedrigeren Werten – in Ballungsräumen wie Berlin, Frankfurt, den industriell geprägten Regionen der Rheinschiene etc. werden sich die beschriebenen Herausforderungen durch die demographische Entwicklung mittelfristig einstellen. Insofern können die Aktivitäten und Erfahrungen von FH-INTEGRATIV ein wichtiges Lernfeld für die Hochschullandschaft darstellen.
Endnoten
(1) Zu verstehen als Familien, in denen Jugendliche weder bei Eltern noch bei Großeltern bzw. Verwandten akademisch gebildete Vorbilder haben, die aktiv eine Hinführung zu akademischen Bildungsgängen unterstützen (könnten).
(2) Vgl. BMBF (Hrsg.): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der BRD 2009, Berlin, 2010.
(3) Der Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen (Hrsg.): Schülerjahresstatistik – Schuljahr 2008/2009, Gelsenkirchen, Januar 2009, S. 12.
(4) „Während im Jahr 1991 noch 830.000 Kinder geboren wurden, waren es 2008 nur noch 683.000. Dies entspricht einem Rückgang um 18%. Entgegen dieser Entwicklung wächst der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, besonders stark in Ballungsräumen.“ Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel, Bonn, Berlin, 2010, S. 5. Spezifisch für Gelsenkirchen siehe Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen (Hrsg.): Statistikatlas 2007, Gelsenkirchen.
(5) Zu den aufgeführten Befunden siehe Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (Hrsg.): Ausländische und ausgesiedelte Schülerinnen und Schüler, ausländische Lehrerinnen und Lehrer – Schuljahr 2006/07, Statistische Übersicht Nr. 361, Juli 2007 sowie Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI) (Hrsg.): Nordrhein-Westfalen: Land der neuen Integrationschancen. 1. Integrationsbericht der Landesregierung, Düsseldorf 2008, S. 133.
(6) Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I, Pressemitteilung, Berlin und Frankfurt am Main, 12. Juni 2008, S. 14ff.
(7) Vgl. Bargel, H; Bargel, T.: Ungleichheiten und Benachteiligungen im Hochschulstudium aufgrund der sozialen Herkunft der Studierenden, hrsg. durch die Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2010.
(8) Ebenda, S. 15. Diese Befunde werden auch in der aktuellen 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) bestätigt. „Studierende aus der niedrigen sozialen Herkunftsgruppe, also aus tendenziell hochschulfernen, einkommensschwächeren Familien, müssen mehr jobben als ihre Kommilitonen aus hochschulnahen, einkommensstärkeren Haushalten (…). Deutsches Studentenwerk: Pressemitteilung – Studiengebühren: Wenn die Eltern nicht zahlen können, jobben die Studierenden dafür, Berlin, 23. April 2010.
(9) Vgl. BMBF (Hrsg.): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der BRD 2009, Berlin, 2010.
(10) Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Berufliche und akademische Ausbildung von Migranten in Deutschland, in: Integrationsreport Teil 5, ohne Ortsangabe, 2009, S. 7.
(11) Vgl.Pressemitteilung des OECD Berlin Centre: Nachkommen von Migranten: schlechtere Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt auch bei gleichem Bildungsniveau, Paris und Berlin, 15. Oktober 2009 (Originalquelle Liebig, Th.; Widmaier, S.: Children of Immigrants in the Labour Markets of EU and OECD Countries: An Overview, OECD Social, Employment and Migration Working Papers no. 97, Brüssel 2009).
(12) Gerade weil auch talentierte Jugendliche aus Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte eine wesentliche Zielgruppe des Programms darstellen, folgt die Iniative im Kern einer Empfehlung der Migrationsforschung, „keine Extra-Angebote für Studierende mit Migrationshintergrund einzurichten, um einerseits keine (…) Ausgrenzung zu produzieren und zugleich auch (…) Studierende mit ähnlichen Problematiken zu erreichen“.Ergebnisprotokoll der Arbeitstagung: Studierende mit Migrationshintergrund vom 16.02.2008, Koordinierungsstelle der niedersächsischen Hochschulen.
Februar 2011
Bernd Kriegesmann, Prof. Dr., ist Präsident der Fachhochschule Gelsenkirchen. Marcus Kottmann, Dipl.-Chem. Dipl.-Arb.-Wiss., ist dort Initiator und Programmkoordinator von FH-INTEGRATIV und leitet die Abt. Strategische Projekte.