Das Asylbewerberleistungsgesetz und seine Novellen auf dem Prüfstand

Irakische Familie in einem Auffanglager in Al-Qalaat.
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Irakische Familie in einem Auffanglager in Al-Qalaat.

 

von Georg Classen

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Das am 01.11.1993 in Kraft getretene Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) war Teil des zwischen CDU/CSU/FDP-Koalition und SPD-Opposition am 06.12.1992 vereinbarten "Asylkompromisses". Anlass waren die nicht zuletzt infolge der Kriege im zerfallenden Jugoslawien stark gestiegene Zahl Asylsuchender - 438.000 Asylanträge in 1992 - und die rassistischen Pogrome gegen Asylsuchende in Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Die SPD-Opposition verhalf der Regierungskoalition zur nötigen Zweidrittelmehrheit, um das Asylgrundrecht aus Art. 16 GG zu streichen. Der neue Art. 16a GG ermöglicht es dem Gesetzgeber festzulegen, dass Deutschland von "sicheren Drittstaaten" umgeben sei, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention sichergestellt ist. Wer auf dem Landweg nach Deutschland kommt, kann seither ohne Prüfung seines Asylantrags in den "sicheren Drittstaat" zurückgeschoben werden.

Zur Begründung des AsylbLG führt der Gesetzgeber an, dass die Leistungen gegenüber der Sozialhilfe

vereinfacht und auf die Bedürfnisse eines in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthaltes abgestellt werden. ... Die drängenden Probleme, die mit der großen Zahl der Asylbewerber verbunden sind, erfordern aufeinander abgestimmte und an den gleichen Zielen ausgerichtete Lösungen. ... Von Bedeutung ist dabei, dass in etwa 95 % aller Asylanträge keine Asylberechtigung anerkannt wird. Es ist daher leistungsrechtlich der typische Regelfall, dass dieser Personenkreis keinen ausländerrechtlichen Grund für einen Aufenthalt in Deutschland besitzt. (BT-Drs. 12/4451, 5 ff )

Zur Einbeziehung Geduldeter wird angeführt: "Es wäre nicht schlüssig, für abgelehnte Asylbewerber leistungsrechtliche Anreize für ein weiteres Bleiben in Deutschland zu schaffen." (BT-Drs. 12/4451, 5 )

Nicht zuletzt um den verfassungsrechtlichen Bedenken der SPD Rechnung zu tragen, wurde 1993 im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens § 2 AsylbLG in das Gesetz eingefügt. Die Leistungseinschränkungen der §§ 3 - 7 AsylbLG galten demnach nur für Asylsuchende im ersten Jahr des Aufenthaltes. Asylsuchende erhielten nach 12 Monaten - abweichend vom abgesenkten Niveau der §§ 3-7 AsylbLG - Leistungen in entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).

Zur Begründung wurde angeführt:

Die weitgehende Angleichung des Leistungsrechts an das Sozialhilferecht folgt der Überlegung, daß bei einem längeren Zeitraum des Aufenthalts und - mangels Entscheidung - noch nicht absehbarer weiterer Dauer nicht mehr auf einen geringeren Bedarf abgestellt werden kann, der bei einem in der Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland entsteht. Insbesondere sind nunmehr Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine stärkere Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und auf bessere soziale Integration gerichtet sind." (BT-Drs. 12/5008, 15).

Zum 01.06.1997 wurde § 2 AsylbLG neu gefasst. Einbezogen in das abgesenkte Niveau der §§ 3-7 AsylbLG wurden nunmehr auch AusländerInnen mit Duldung. Die Dauer der Absenkung der Leistungen wurde auf 36 Monate erhöht.

Mit dem Zuwanderungsgesetz (ZuwG) wurde das AsylbLG ab 01.01.2005 auf AusländerInnen mit Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 und § 25 Abs. 5 AufenthG ausgeweitet. Darunter waren AusländerInnen, die zuvor eine Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen nach § 30 AuslG besaßen und bis dahin ungekürzte Sozialleistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) erhielten. Hinzu kamen bisher geduldete AusländerInnen, deren Rückkehr aus tatsächlichen oder (verfassungs-)rechtlichen Gründen unmöglich ist, und die anstelle der Kettenduldung durch das Zuwanderungsgesetz eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erhalten. Beide besitzen - wie nicht zuletzt die Aufenthaltsdauer belegt– eine längerfristige bzw. dauerhafte Aufenthaltsperspektive.

Zum 28.08.2007 wurde die Wartefrist des § 2 AsylbLG auf 48 Monate verlängert. Die Begründung hält das für gerechtfertigt, da bei den unter das AsylbLG fallenden Personen "angesichts der ungewissen Aufenthaltsperspektive grundsätzlich kein sozialer Integrationsbedarf vorhanden" sei (BT-Drs. 16/5065, 155, 232).

Die These, dass eine kurze Aufenthaltsdauer zu einem geringeren Bedarf führt, überzeugt jedoch bereits denklogisch nicht. Maßgeblich ist allein die Höhe des aktuell zu befriedigenden täglichen Bedarfs, nicht dessen Gesamtdauer. Die Einschränkungen des AsylbLG gelten auch nicht mehr nur vorübergehend, sondern für 48 Monate. 58,6 % der ihrem Status nach unter das AsylbLG fallenden Menschen leben bereits länger als 6 Jahre in Deutschland. Die Annahme des Gesetzgebers, unter das AsylbLG fallende AusländerInnen hielten sich nur kurze Zeit hier auf, ist demnach falsch.

Die Kumulation des AsylbLG mit weiteren rechtlichen Restriktionen

Die Auswirkungen des AsylbLG sind im Zusammenwirken mit weiteren aufenthalts- und asylrechtlichen Restriktionen zu betrachten. Die Kumulation der gesetzlichen Regelungen führt zu einer umfassenden Einschränkung von Menschenwürde, Persönlichkeitsrechten, körperlicher Unversehrtheit und Sozialstaatsgebot, und degradiert die Betroffenen weitgehend zu Objekten staatlichen Handelns.

Die materielle Bedürftigkeit der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG beruht in der Regel auf einer durch das faktische Arbeitsverbot erzeugten künstlichen Notlage. Den Betroffenen wird verboten für sich selbst zu sorgen, obwohl sie dies in der Regel nicht nur könnten, sondern auch wollen. Sie empfinden das Arbeitsverbot und den Verweis auf staatliche Fürsorgeleistungen als Verletzung ihrer Würde. Sie wollen nicht auf Kosten des Staates leben, der ihnen zumindest vorläufig eine Zuflucht gewährt hat. Die Selbstverwirklichung und Reproduktion durch Erwerbsarbeit ist ein existenzielles menschliches Grundbedürfnis. Dauerhafte Arbeitsverbote unter Verweis auf staatliche Fürsorgeleistungen verstoßen gegen menschenrechtliche Grundsätze.

Soziale Beziehungen, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Hilfe durch familiäre Netzwerke werden durch die Beschränkungen von Freizügigkeit und Mobilität be- und verhindert. Die Umverteilung nach AsylVfG und AufenthG, Wohnsitzauflagen und Residenzpflicht, sowie der Entzug der für Reisen und zur Kommunikation nötigen Geldmittel durch das AsylbLG bewirken eine dauerhafte örtliche und soziale Trennung von bereits in Deutschland lebenden Angehörigen. Vielfach wird erst durch die erzwungene Trennung von den Angehörigen die Inanspruchnahme von Sozialleistungen erforderlich.

Durch die Einweisung in Sammellager und das Verbot, eine Mietwohnung zu beziehen, werden Privatsphäre und Intimbereich eingeschränkt. So ist das Innenministerium Thüringen der Auffassung, in einer Gemeinschaftsunterkunft wäre es "nicht sachgerecht, die Besichtigung der Zimmer von der Zustimmung der Bewohner abhängig zu machen." Sogar Hausstrafen sollen nach Auffassung des Innenministeriums zulässig sein. Die freie Entscheidung über die Alltagsgestaltung wird zusätzlich beschränkt durch die mit der Sachleistungsversorgung verbundenen behördlichen Vorgaben darüber, was die Menschen essen sollen und welche Kleidung sie anziehen dürfen.

Der weitgehende Entzug von Bargeld durch Arbeitsverbot und AsylbLG bewirkt mangels Geld für Mobilität, Kommunikation und Anwaltsgebühren eine umfassende Beschränkung des Zugangs zu Rechtschutz. Die ausreichende Deckung von "persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens" und notwendiger Anwaltskosten ist wegen des zu geringen Barbetrags in der Praxis nur durch Bargeld aus dem Umtausch von Lebensmittelgutscheinen, aus illegalen Erwerbstätigkeiten, oder aus dem Sozialamt verschwiegenen Zuwendungen Dritter usw. möglich.

AsylbLG, Arbeitsverbot und Residenzpflicht führen dazu, dass auch der Zugang zu Bildung beschränkt wird. Durch fehlende Barmittel für Schulbedarf und den faktischen Ausschluss vom "Bildungspaket" wird die Teilhabe an Kita und Schulbildung negativ beeinflusst. Selbst Eingliederungshilfen für behinderte Kindergarten- und Schulkinder werden teilweise verweigert.

Weiterführende schulische und berufliche Ausbildungen oder ein Studium sind vielfach nur „illegal" unter Verstoß gegen ausländerrechtliche Auflagen möglich. Die Aufnahme einer Ausbildung führt zudem häufig dazu, dass die Existenzmittel ganz entzogen werden, weil in manchen Fällen weder Sozialleistungen (aufgrund der Ausbildung) noch BAföG (aufgrund des Aufenthaltsstatus) beansprucht werden können.

Den Zugang zu Deutschkursen nach § 43 ff. AufenthG verweigert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylsuchenden und Geduldeten selbst dann, wenn dort noch freie Plätze verfügbar sind. Sprachkurse können oft nur mit erheblichem Kostenaufwand (Kursgebühr und Fahrtkosten) und unter Verstoß gegen die Residenzpflicht wahrgenommen werden.

Der Zugang zu Familienleistungen (Elterngeld, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss) ist im Regelfall ausgeschlossen. Beihilfen nach AsylbLG für Schwangere und Kinder liegen erheblich unter dem Niveau des SGB II/XII, ebenso vielerorts die Hilfen der Bundesstiftung Mutter und Kind.

Die Auswirkungen des AsylbLG und der weiteren Restriktionen führen in der Praxis zur Kriminalisierung für diejenigen, die aus der Situation auszubrechen versuchen, und zu tiefer Resignation und dauerhafter psychischer und physischer Krankheit bis zur Erwerbsunfähigkeit für diejenigen, die sich den gesetzlichen Vorgaben beugen. In beiden Fällen ergeben sich hohe Folgekosten für die Gesellschaft.

Kürzung um bis zu 65 Prozent gegenüber Sozialhilfe und ALG II

Der Regelsatz für Sozialhilfe bzw. Alg 2 beträgt seit 01.01.2011 364,- €/Monat. Der Wert der Gutscheine/Geldlei¬stungen nach § 3 AsylbLG für Alleinstehende liegt seit 01.11.1993 unverändert bei 360 DM (184,07 €) zzgl. Taschengeld 80 DM (40,90 €) = 440 DM = 224,97 €/Monat. Bei Geldleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG sind die Leistungen nach AsylbLG im Vergleich zur Sozialhilfe nach SGB II/SGB XII demnach um ca. 38 % gekürzt.

Bei Gutscheinen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG ist der Einkauf auf wenige, teure Geschäfte (teils Sonderläden) beschränkt, Fahrtkosten zum Aufsuchen der Geschäfte müssen bezahlt werden, Stückelung der Gutscheine und Probleme mit der Restgeldrückgabe erschweren das Einkaufen. Dies führt de fakto zu weiteren Kürzungen.

Bei Sach¬leistun¬gen liegt der reale Wert in Folge unzureichender Menge, mangelhafter Qualität und nicht bedarfsdeckender Zusammensetzung der Essenspakete etc. in der Praxis regelmäßig noch um ca. 30 bis 50 % unter dem - bereits ca. 38 % unter der Sozialhilfe liegenden - Sollwert nach § 3 Abs. 2 AsylbLG.

Zu den genannten Grundleistungen bzw. Regelsätzen hinzu kommen nach AsylbLG, SGB II und SGB XII jeweils noch die Leistungen für Unterkunft, Heizung und Krankenversorgung. Entgegen der Maßgabe des § 3 Abs. 3 AsylbLG wurden die Leistungen nach AsylbLG seit 1993 nie an die Preisentwicklung angepasst. Dabei ist das Preisniveau von November 1993 bis Dezember 2010 um 32 % gestiegen.

Sachleistungen

Nach § 3 Abs. 1 AsylbLG werden Sachleistungen für den Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege, Hausrat und Energie erbracht. Das bedeutet Vollverpflegung oder Lebensmittelpakete, Pakete mit Hygieneartikeln, "Kleiderbasare" mit regulär nicht mehr verkaufbarer Kleidung oder den Verweis auf Kleiderkammern. Sachleistungen für die Unterkunft bedeuten Sammellager, Gemeinschaftsunterkünfte und Obdachlosenheime und die Verweigerung der Kosten für eine Mietwohnung.

Sachleistungen sind nicht per se bedarfsdeckend. Die Sachleistungen führen in der Praxis zu weitaus gravierenderen Einschränkungen bei der Bedarfsdeckung als "nur" die betragsmäßige Leistungskürzung der Geldleistungen nach § 3 AsylbLG: Der Wert der tatsächlich erbrachten Sachleistungen liegt in der Praxis regelmäßig noch unter den Geldwerten des § 3 AsylbLG, bei Lebensmittelpaketen oft nur bei etwa 60 % der Beträge nach § 3 AsylbLG. Sachleistungen haben schwerwiegende qualitative und quantitative Mängel, z.B. nahezu oder ganz abgelaufene Haltbarkeit, keine frische Ware, eintönige Versorgung, "es gibt immer dasselbe".

Desweiteren haben Sachleistungen eine den individuellen Bedarf nicht treffgenau deckende unproportionale Zusammensetzung der Ware - zuviel vom einem, zuwenig oder nichts vom anderen Produkt. Sachleistungen können individuelle Sonderbedarfe (Diät bei Krankheit usw.) nicht hinreichend decken. Sie verderben mangels Möglichkeit zur adäquaten Vorratshaltung in Gemeinschaftsunterkünften (zu wenig Kühlschränke, keine verschließbaren Schränke), die Lagerung der Nahrungsmittel fördert den Ungezieferbefall. Ebenso schränken sie Alltagsgestaltung, Handlungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte ein, weil die Leistungsberechtigten nicht mehr selbst einkaufen und darüber entscheiden können, was sie essen wollen und womit sie sich kleiden möchten.

Der neben den Sachleistungen verbleibende geringe Barbetrag führt zu massiven Einschränkungen der sozialen Teilhabe (Mobilität, Kommunikation, Kultur, Schul- und Bildungsbedarf). Obwohl § 3 vom "notwendigen Bedarf" spricht, was dem Leistungsniveau des SGB II/XII entspräche, gewähren Behörden und Gerichte unter Hinweis auf die migrationspolitische Zielsetzung des AsylbLG und die demnach gebotene "restriktive Auslegung" nur den "nötigsten Bedarf". Die Sachleistungsversorgung wird von den Betroffenen als durch die zuständigen Behörden bewusst organisierte Diskriminierung wahrgenommen. Dies führt regelmäßig zu massiven Flüchtlingsprotesten und Hungerstreiks.

Sachleistungen können das menschenwürdige Existenzminimum in Sinne des Urteils des BVerfG vom 09.02.2011 schon deshalb nicht sichern, weil die Konkretisierung von Art und Umfang der Leistungen in der Praxis weitestgehend dem freien Ermessen der zuständigen Verwaltungen und der von dort beauftragten Firmen überlassen bleibt. Die vom BVerfG gesetzten Maßstäbe für ein transparentes Verfahren zur Ermittlung der Bedarfe und die gesetzliche Kontrolle über den Umfang der Bedarfe fehlt.

Eine effektive gerichtliche Kontrolle der Sachleistungsversorgung hat sich in der Praxis als unmöglich erwiesen. Gegebenenfalls wäre im Detail zu überprüfen, ob Zusammenstellung, Menge und Qualität der Sachleistungen den notwendigen Bedarf im konkreten Einzelfall decken. Dies setzt seitens der Betroffenen eine detaillierte schriftliche Dokumentation von Inhalt, Menge, Qualität und Wert aller tatsächlich erhalten sowie der für den individuellen Bedarf jeweils noch fehlenden Leistungen voraus. Die Betroffenen sind hiervon nicht nur überfordert, die Darlegung ist ihnen auch unzumutbar.

Auch seitens der Gerichte fehlt ein Maßstab für den „notwendigen Bedarf“, sie umgehen diese anspruchsvolle Aufgabe und beschränken sich auf die Feststellung, dass die Betroffenen mögliche Mängel nicht hinreichend dargelegt hätten und diese Mängel jederzeit abstellbar seien.

Gutscheine und Geldleistungen

Der in § 3 AsylbLG geregelte Vorrang für Sachleistungen wurde zum 01.06.1997 gelockert. Damit wird es dem politischen Ermessen der zu¬ständigen Behörde überlassen, ob sie Sachleistungen oder Geld-leistungen gewäh¬rt, ohne jedoch den Leistungsberechtigten einen Rechtsanspruch auf Barleistungen zu geben. Gesetzlich zwingend sind die Sachleistungen nur für Asylbewerber während der 3-monatigen Erstaufnahme.

Sinngemäß dasselbe gilt für die Unterkunft in Gemeinschaftsunterkünften und die Mietkostenübernahme für eine Wohnung. Nach der Rechtsprechung zum AsylbLG gilt die Unterkunft in einer Wohnung als "Geldleistung", in einer Gemeinschaftsunterkunft hingegen als "Sachleistung".

Wegen des hohen Verwaltungsaufwandes der Sachleistungsversorgung gewährt inzwischen die Mehrzahl der Leistungsträger entgegen der Soll-Vorgabe des § 3 Abs. 1 AsylbLG Geldleistungen: Geldleistungen werden flächendeckend in Hamburg, Berlin, Bremen, Hessen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz erbracht, mit wenigen Ausnahmen auch in NRW und Schleswig-Holstein. Brandenburg (12 von 18 Kreisen) und Sachsen (12 von 13 Kreisen) stellen zunehmend auf Geldleistungen um.

Gutscheine werden in Niedersachsen (flächendeckend) und Thüringen (in 20 Kreisen, in 4 Kreisen Geldleistungen) erbracht. „Echte“ Sachleistungen (Essenspakete) gibt es flächendeckend in Bayern, teilweise im Saarland und in Ba-Wü, bundesweit in der bis zu 3-monatigen Erstaufnahme für Asylbewerber, sowie teilweise nach § 1a AsylbLG. Mietkosten für eine Wohnung in Berlin in der Regel übernommen, in den übrigen Ländern unterschiedliche Praxis.

Krankenbehandlung: schikanös, teuer, menschenunwürdig

Die medizinische Versorgung wird nach §§ 4 und 6 AsylbLG vom Sozialamt erbracht. Krankenscheine werden von SachbearbeiterInnen in der Praxis erst ausgestellt, wenn ein akut kranker Flüchtling einen konkreten Behandlungsbedarf für eine akute oder schmerzhafte Erkrankung geltend macht und hierzu beim Sozialamt vorspricht. Viele Ämter sind der Auffassung, dass nur so geprüft werden kann, ob ein Fall des § 4 AsylbLG vorliegt. Dabei bleibt offen, aufgrund welcher fachlichen Kompetenz VerwaltungssachbearbeiterInnen die Behandlungsnotwendigkeit prüfen. Auch der Arzt kann diese Frage erst beantworten, wenn er eine Diagnostik durchgeführt hat.

Die Ämterpraxis führt zu erheblichen Verzögerungen der Krankenbehandlung und zum Unterlassen nötiger Arztbesuche. Dementsprechend steigt die Zahl der Notarzteinsätze, Rettungsfahrten und stationären Notaufnahmen. Dies treibt die Kosten in die Höhe und es kommt zu Doppelbehandlungen. Die Behandlung wird verschleppt und teils auch verweigert, Krankheiten verschlimmern sich. Die Flüchtlinge müssen vermeidbare Schmerzen, Verschlimmerungen bestehender Erkrankungen, vermeidbare dauerhafte Gesundheitsschäden und ggf. sogar den Tod in Kauf nehmen.

Nach § 6 AsylbLG müssen auch chronische Erkrankungen behandelt werden, wenn dies zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist. Das Problem ist, dass § 6 AsylbLG nur als Ermessensregel ausgestaltet ist. Zwar sollte das Ermessen zugunsten der Behandlung meist auf Null reduziert sein. Die Behandlung chronischer Erkrankungen auf Grundlage des § 6 AsylbLG wird in der Praxis der Sozial- und Gesundheitsämter dennoch häufig abgelehnt oder zeitlich erheblich verzögert. Selbst Gerichtsentscheidungen zu §§ 4 und 6 AsylbLG verstoßen gegen die Menschenwürde und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit:

In Berlin versagte das Sozialamt Charlottenburg zwei schwerst spastisch behinderten geduldeten Flüchtlingskindern die Rollstühle. Der Sozialstadtrat unterstellte, sie hätten diese "nur aus Bequemlichkeit" beantragt. Im Juni 1995 starb in Bremen der kurdische Asylbewerber Celal Akan, nachdem er mehr als 15 Monate darauf gewartet hatte, dass die Sozialbehörde die lebensrettende Lebertransplantation bewilligt.

Der Rettungswagen kommt in Thüringen und Bayern ins Flüchtlingsheim nur, wenn der Wachschutz die medizinische Notwendigkeit bestätigt. Auf Notrufe von Flüchtlingen wird nicht reagiert. Am 1. Juli 1998 starb in Altenburg/Thüringen der kurdische Flüchtling Haydar Findik. Ab 29. Juni hatte er die Ärztin der Landessammelunterkunft konsultiert. Seine Erkrankung verschlechterte sich am Abend des 30. Juni so sehr, dass MitbewohnerInnen den Wachschutz baten, einen Ambulanzwagen zu rufen. Mit dem Hinweis, dass dies 150 DM Kosten verursachen würde, geschah dies nicht.

Das Verwaltungsgericht (VG) Gera ist der Auffassung, dass eine schwere Hüftgelenksnekrose mit Opiaten statt mit der dringend notwendigen Operation zu behandeln sei. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Mecklenburg-Vorpommern hält eine Dialysebehandlung auf Dauer an Stelle einer Nierentransplantation für angemessen, wobei laut OVG die Frage der Kosten keine Rolle spielt. Das OVG Münster verweigerte die Hörgeräte für ein Kind trotz durch die Hörschädigung bereits eingetretener massiver Schädigung seiner Sprachentwicklung (Dyslalie). Das VG Frankfurt/Main und der VGH Hessen verschleppten und verweigerten eine dringend nötige Lebertransplantation - in der Folge verstarb der betroffene Flüchtling.

Die AsylbLG-Statistik weist für die Krankenbehandlung nach §§ 4/6 AsylbLG Mehrkosten pro Person und Jahr in einer Größenordnung von 30 bis 40 % gegenüber der Krankenbehandlung nach § 2 AsylbLG per Chipkarte auf Niveau der Gesetzlichen Krankenversicherung aus.

Verfassungswidrigkeit des AsylbLG

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Urteil vom 09. Februar 2010 die Regelleistungen des Arbeitslosengeldes II (Alg II) für verfassungswidrig erklärt. Das BVerfG bestätigt, dass sich aus Art. 1 I (Menschenwürde) und 20 I (Sozialstaatsprinzip) Grundgesetz ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt. Dieses Grundrecht umfasst neben der physischen Existenz auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Der Gesetzgeber hat das Existenzminimum realitätsgerecht und nachvollziehbar zu bemessen, zu aktualisieren, zu gewährleisten und einzulösen. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.

Gemessen an den Maßstäben des BVerfG-Urteils erweisen sich die Leistungen des am 01.11.1993 in Kraft getretenen Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG erst recht als verfassungswidrig. Dem AsylbLG fehlt das vom BVerfG beim Alg II nur als unzulänglich kritisierte Bedarfsbemessungssystem ganz. Die in § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG genannten Geldbeträge für die Grundleistungen und den persönlichen Bedarf von Erwachsenen und Kindern beruhen auf freihändig geschätzten Zahlen, ohne jede empirische oder methodische Grundlage. In den Gesetzesmaterialien werden für die Bemessung des Existenzbedarfs allein haushalts- und migrationspolitische Motive angeführt. Zudem wurden die Leistungen seit 1993 nicht an die Preisentwicklung angepasst.

Das Landessozialgericht NRW legte daher im Juli und im November 2010 Verfahren zur Höhe der AsylbLG-Leistungen für einen Alleinstehenden und für ein 6- bzw. 7-jähriges Kind dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 3 AsylbLG vor. Die Leistungen nach AsylbLG seien „ins Blaue hinein geschätzt“ und zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums von Erwachsenen und von Kindern offensichtlich unzureichend. Mit einer Entscheidung des BVerfG wird noch in 2011 gerechnet.

Das AsylbLG ist nach unserer Auffassung allerdings nicht nur wegen seiner unzureichenden Leistungssätze, sondern in allen Kernbereichen und somit insgesamt nicht verfassungskonform. Das gilt insbesondere für das Sachleistungsprinzip, die Anwendungsdauer, die Festlegung des Personenkreises, die Einkommens- und Vermögensanrechnung, die Regelungen zur Krankenbehandlung sowie die Kombination mit weiteren Restriktionen wie Arbeits- und Ausbildungsverbot, der Residenzpflicht und der Einweisung in Sammellager.

Juni 2011


Literatur

 

 

Georg Classen ist Webredakteur beim Flüchtlingsrat Berlin e.V. und aktiv in der Fortbildung von Sozial- und MigrationsberaterInnen. Er ist Autor eines Handbuchs zu den Sozialleistungen für MigrantInnen und Flüchtlinge.