Flüchtlingspolitik als Lagerpolitik

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Die unhaltbaren Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern geraten zunehmend in die menschenrechtliche Kritik

 

von Tobias Pieper

Immer noch werden geduldete MigrantInnen und Flüchtlinge in lagerähnlichen Unterkünften auf Jahre verwahrt. Seit 1980 ist die Verschlechterung der Lebensverhältnisse von MigrantInnen im Asylverfahren durch einen Einschluss im Lager (west-)deutsche Realität. Derzeit wird vermehrt über die Internierungslager für MigrantInnen an den südlichen Grenzen Europas diskutiert; die unhaltbaren Lebensbedingungen dort und die tödlichen Folgen der militärischen Grenzsicherung geraten in die menschenrechtliche Kritik. Über die Lebensbedingungen in den hiesigen Lagern redet die breite Öffentlichkeit jedoch nur ungerne, es ist einfacher, die Menschenrechtsverletzungen bei den anderen zu suchen und anzuprangern.

In der Bundesrepublik werden nun seit mehr als 25 Jahren Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen, in dezentral gelegenen, über das Bundesgebiet verteilten Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Dies betrifft auch diejenigen Menschen, die nur ein Aufenthaltsrecht in Form einer Duldung bekommen und deren Aufenthaltsperspektive eher drei Monate als maximal ein Jahr beträgt, die jedoch kettenhaft auf Jahrzehnte verlängert wird (sog. Kettenduldungen). Diese Menschen werden über das Asylbewerberleistungsgesetz (AslybLG) versorgt. Dies bedeutet jahrelange Unterbringung in isolierten, lagerähnlichen Gemeinschaftsunterkünften, ein restriktiv regulierter Arbeitsmarktzugang, die Auszahlung der deshalb notwendig werdenden und sowieso gekürzten ‚Hilfe zum Lebensunterhalt’ in Sachleistungsform (ca. 65 % des normalen ALG II Satzes), ein Ausbildungsverbot und eine verminderte gesundheitliche Versorgung. Zurzeit bekommen in der Bundesrepublik laut Statistik der Bundesregierung knapp 154.000 Menschen (Stand 31.12.2007) Leistungen nach dem AsylbLG. Nach eigener Forschung waren Ende 2006 mindestens 115.000 Menschen in den deutschen Flüchtlingslagern untergebracht (siehe Pieper 2008).

Es findet derzeit eine Reduzierung der Lagerplätze statt. Dies hat unterschiedliche Gründe. Lagerinsassen werden abgeschoben (zwischen 2006 und 2008 über 30.000 Menschen), bekommen einen regulären Aufenthalt oder fallen unter die sog. Bleiberechtsregelung („Altfallregelung“ von 2006 und 2007). Gleichzeitig funktioniert die Abschottung der europäischen Grenzen immer perfekter, so dass weniger neue Flüchtlinge und MigrantInnen in die Lager eingewiesen werden. Der derzeitige Stand kann nur geschätzt werden, da die vorhandenen staatlichen Statistiken unscharf sind. Ursprünglich war dieses Unterbringungssystem für die Verwaltung und Unterbringung von über einer Million MigrantInnen angelegt.

Die Unterbringung der hier Unerwünschten lässt sich mit dem Begriff des dezentralen halboffenen Lagersystems fassen. Es ist ein System von unterschiedlichen Lagertypen, die dezentral in den Kommunen angeordnet sind und deren Funktion nur durch den Systemcharakter der angeordneten Einzellager verständlich wird. Das dezentrale Lagersystem setzt sich zusammen aus den Landesaufnahmeeinrichtungen, großen Auffanglagern, den zur langfristigen Unterbringung konzipierten Gemeinschaftsunterkünften als dezentrale halboffene Sammellager; dem neuen Zwischenglied Ausreiseeinrichtung als Abschiebelager und den Abschiebehaftanstalten, wozu auch die exterritoriale Unterbringung auf dem Flughafen in Frankfurt am Main als Internierungslager für MigrantInnen zählt.

Die Dezentralität des Lagersystems wird durch das weltweit einmalige Gesetz der Residenzpflicht gewährleistet, welches das Verlassen der einzelnen Landkreise, auf die asylsuchende Menschen bundesweit verteilt werden, unter Geld- bzw., bei fehlender Liquidität, unter Haftstrafe stellt. Wie durch ein virtuelles Netz wird der Raum parzelliert, die MigrantInnen gleichmäßig über diesen verteilt, verwaltet und festgehalten. Der Begriff der Halboffenheit betont, dass die BewohnerInnen aus den Lagern verschwinden können und gleichzeitig in diesen festgesetzt werden. Dieses Festsetzen wird durch institutionelle Schranken und symbolische Barrieren und nicht durch Stacheldraht organisiert. Die BewohnerInnen können prinzipiell aus den Lagern verschwinden und in die Welt der ‚Illegalität’ abtauchen. Hierdurch unterscheidet sich das bundesdeutsche dezentrale halboffene Lagersystem für MigrantInnen mit einem ungesicherten Aufenthalt von den Internierungslagern für MigrantInnen, wie sie in vielen EU-Ländern vorfindbar sind. Die politische Absicht der Lagerunterbringung liegt in der Festsetzung, Kontrolle und Verwaltung von nach Deutschland geflohenen Menschen und deren institutionelles Fernhalten und Ausschluss aus der Gesellschaft.

Um die heutigen Lager verstehen zu können, müssen wir in die Westdeutsche Vergangenheit blicken und ihre historische Genese analysieren. Als 1981 parteiübergreifend (SPD/CDU/FDP) die Lagerunterbringung flächendeckend eingeführt wurde, war die politische Zielsetzung klar und wurde in aller Deutlichkeit formuliert: Neue Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik sollten durch Lager verhindert werden, und die Vertreibung der bereits hier Angekommenen sollte durch die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen forciert werden. In den politischen Begründungen wurde dabei offen auf rassistische Argumentationsmuster zurückgegriffen und allen Flüchtlingen ein absichtlicher Missbrauch des Asylrechts unterstellt. Im folgenden Jahrzehnt wurde durch die konservative Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) diese rechts-populistische Debatte aus innenpolitischen Gründen zugespitzt und erreichte 1993, als zentraler Diskurs der ‚Wende’ und der de facto Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, ihren Höhepunkt.

Das Sammellager entwickelte sich in dieser Zeit zur physisch angreifbaren Manifestation im entfachten rassistischen Diskurs, so dass zwischen 1986 und 1995 immer wieder Unterkünfte angezündet wurden. Parallel wurde 1993 das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verabschiedet, das auch heute noch die zentrale rechtliche Grundlage der staatlichen Entrechtungspraxis ist. Im AsylbLG wurden die auf dem administrativen Verwaltungsweg bereits angewandten Instrumente in einem eigenen Gesetz gebündelt. Die Kapazität des bundesdeutschen Lagersystems erreichte in dieser Zeit mit mehr als 1,5 Millionen LagerbewohnerInnen ihren historischen Höhepunkt. In den nächsten Jahren folgten weitere Verschärfungen des AsylbLG. Trotz der offensichtlichen Verfehlung der politischen Zielsetzung – der Verminderung der Flüchtlingszahlen durch Abschreckungslager im Ankunftsland – wird erstaunlicherweise bis heute an dieser Politik festgehalten, obwohl die damaligen rassistisch aufgeladenen Begründungen fast gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden sind.

Dies hängt auch mit der immer effektiveren Grenzsicherung und der durch die EU-Osterweiterung durchgesetzten Grenzverlagerung zusammen, denn die meisten MigrantInnen in der Bundesrepublik kommen und kamen immer schon aus den östlichen Staaten. Mit dem Rückgang der Flüchtlingszahlen ist eine Zuspitzung des Lagersystems verbunden. Diejenigen, die noch kommen, werden vermehrt unter Druck gesetzt, wieder zu verschwinden. So wurde im Rahmen des sog. ‚Zuwanderungsgesetzes’ unter der ersten rot-grünen Bundesregierung mit den Ausreiseeinrichtungen ein neuer Lagertyp kodifiziert: das ‚humanitäre’ Abschiebelager zur Forcierung der ‚freiwilligen’ Ausreise. Folge dieser zugespitzten ‚Flüchtlingspolitik’ ist die massenhafte Vertreibung der untergebrachten MigrantInnen in die ‚Illegalität’.

Administrative Zielsetzung der Ausländerpolitik ist die Kontrolle hier lebender MigrantInnen und die Regulation und Verhinderung von Einwanderung, für deren Legitimierung auf einen nationalen Sicherheitsdiskurs zurückgegriffen wird. Die Lagerunterbringung bildet die materielle Struktur dieser Ausländerpolitik. MigrantInnen mit ungesichertem Aufenthalt werden räumlich festgesetzt, kontrolliert und materiell ausgegrenzt, mit der Zielsetzung, einen direkten Behördenzugriff auf die LagerbewohnerInnen zur Abschiebung jederzeit zu ermöglichen. Diese Funktion ist aufgrund der Anzahl der untergebrachten MigrantInnen nur durch die Dezentralität der Einzellager, die lokal organisierte Verwaltung und dort abgestimmte polizeilich-exekutive Kontrolle reibungslos möglich. Die dezentralen Verwaltungsstrukturen führen gleichzeitig zur Unsichtbarkeit der staatlichen Aberkennung von Rechten, denn die jahrelange oder jahrzehntelange Unterbringung von mehreren hunderttausend Menschen vollzieht sich hinter dem Rücken der Öffentlichkeit. Lokal sichtbar werden nur die Einzellager, das Gesamtsystem und das Ausmaß der Unterbringung ist nicht unmittelbar erkennbar.

Als sozialer Raum wird der Innenraum der Unterkünfte strukturiert durch das zwangsweise Miteinander der BewohnerInnen, die durch völlig unterschiedliche Lebensweisen und Biografien geprägt sind. Die Lagerunterbringung bedeutet den Einschluss der BewohnerInnen im Lager als materiell-räumlichem Ort der gesellschaftlichen Exklusion. Dieser Prozess des Einschlusses im Lager produziert symbolische wie materielle Barrieren, die ein einfaches Eintreten für BesucherInnen und Nichtflüchtlinge verhindern. Für MigrantInnen, deren Lebensmittelpunkt über Jahre das Lager bildet, ist eine Prägung ihrer Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten durch die Lagerbedingungen feststellbar. Das Verschwinden in die ‚Illegalität’ und das Einleben in den irregulären Strukturen der Gesellschaft ist die einzige Möglichkeit des Ausbruchs aus dem Lager. Denn die Lebensbedingungen entfalten eine psychische Zerstörungskraft, der sich nur durch die ‚Illegalität’ entzogen werden kann. Mittelpunkt der Unterbringung sind die Mehrbettzimmer, die eine Erosion der Privatsphäre und ein Leben in Zwangsgemeinschaften bedeutet. Das Arbeitsverbot und die Versorgung mit Sachleistungen, in Kombination mit dem räumlich isolierten Leben, strukturieren den Tagesablauf der Einzelnen als behördlich verordnetes Nichts-Tun und Langweilen. Die kapitalistisch organisierte Außenwelt erscheint zwar in ihrer glitzernden Warenästhetik, aufgrund des materiellen Ausschlusses ist sie jedoch nur begehrbar, der Konsum soll durch die Aberkennung des Zugangs zum Arbeitsmarkt verhindert werden. Die Außenwelt erscheint aus Perspektive der BewohnerInnen wie hinter durchsichtigem Panzerglas, zum Anfassen nah und gleichzeitig unerreichbar fern.

Die BewohnerInnen selbst beschreiben den Einschluss im bundesdeutschen Lager als Leben im offenen Gefängnis. Der gesellschaftliche Rassismus strukturiert hierbei die Umgebungsgesellschaft als feindliches Land, die symbolische Ordnung verweist die LagerbewohnerInnen auf einen der unteren Plätze. Folge dieser gesellschaftlichen Isolation und Ausgrenzung sind fast zwangsläufig psychisch zerstörerische Mechanismen, die zu depressiven Zuständen oder auch unkontrollierter diffuser Aggression führen können.  Nach Jahren oder gar Jahrzehnten der Unterbringung stirbt die Hoffnung auf einen gesicherten Aufenthalt, das Handeln der Behörden erscheint undurchschaubar und willkürlich und verhindert jegliche Lebensplanung. Wie andere Untersuchungen aufzeigen konnten, führt die dauerhafte Lagerunterbringung auch zu einer erhöhten Anfälligkeit für physische Krankheiten.

Konturen einer zukünftigen Flüchtlingspolitik als reine Verwaltung derjenigen, die hier nicht gewollt sind und als nicht ‚verwertbar‘ eingestuft werden, zeichnen sich zurzeit am deutlichsten in Niedersachsen ab. Als kostengünstigste und effizienteste Strategie setzt sich zunehmend das Konzept der ‚freiwilligen’ Ausreisen durch. Die jahrelange Unterbringung in überteuerten dezentralen Gemeinschaftsunterkünften soll langfristig komplett vermieden werden. Administratives Zentrum ist die ZAAB (Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörde) Niedersachsen mit ihren drei jeweils 550 Plätze umfassenden Lagern. Dieser Lagerkomplex besteht aus den beiden multifunktionellen Sammellagern in Blankenburg/Oldenburg und Braunschweig als integriertem Lagerkonzept mit Erstaufnahmeeinrichtung (§ 44 AsylVfG), Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylVfG) und Ausreiseeinrichtung (§ 61 AufenthG) in einem Gebäude. Hinzu kommt das Lager Bramsche, wo neue Strategien und Instrumente zur ‚freiwilligen’ Ausreise entwickelt und praxiserprobt werden.

Durch diesen Lagerkomplex mit insgesamt 1.650 Plätzen wird bereits derzeit eine Verteilung neu ankommender Asylsuchender auf die Kommunen fast komplett vermieden. Die Betroffenen wechseln nur noch als Akte die Etage, von einem Lager in das nächste. Sobald Platz geschaffen wird, durch ‚freiwilliges’ Abtauchen, ‚freiwillige’ Ausreise oder gewaltsame Abschiebung, stehen die geduldeten MigrantInnen als neue potentielle LagerbewohnerInnen bereit. Diese Entwicklungslinien lassen sich auch in den anderen Bundesländern ablesen, häufig noch in einem früheren Stadium ihrer Durchsetzung. Als zukünftiger Rahmen zeichnet sich jedoch ein enger Lagerkreislauf mit zentralen multifunktionalen Großlagern ab, die durch das Land betrieben werden. Dies wird zu einer Schließung der dezentralen halboffenen Lager führen. Neu ankommende und ‚alte‘ geduldete MigrantInnen sollen diesen engen Lagerkreislauf überhaupt nicht mehr verlassen, die Perspektivlosigkeit soll so durch verschiedene Psychotechniken frühzeitig in das Bewusstsein der Betroffenen eingeschrieben und eine baldige ‚freiwillige’ Ausreise durch finanzielle Anreize unterstützt werden.

Um dieser inhumanen Flüchtlingspolitik Einhalt zu gebieten, sind gemeinsame Kämpfe und Bündnisse nötig. Ein aktuelles Beispiel sind die Kämpfe von LagerbewohnerInnen, die in der bundesweitern Abolish-Kampagne mündeten. Die zentrale Forderung dieses breiten Bündnisses aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften ist die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, welches die Grundlage für den hier beschriebenen institutionellen Rassismus bildet.

 

 

 

Dr. Tobias Pieper, Politikwissenschaftler und Psychologe, arbeitet bei der Opferperspektive Brandenburg und als Lehrbeauftrager an der FU Berlin. Er engagiert sich in der Antirassismusarbeit und ist Autor des Buches „Die Gegenwart der Lager" (2008).