Prof. Dr. Petra Bendel, Mitglied der Fachkommission „Perspektiven für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik“ der Heinrich-Böll-Stiftung, stellte am 11. Dezember 2017 gemeinsam mit anderen Kommissionsmitgliedern die wichtigsten Ergebnisse der zweijährigen Arbeit in Berlin vor.
Die bewusst heterogene Zusammensetzung unserer Kommission hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen: Es war ein breites politisches und gesellschaftliches Spektrum abgebildet, das sich durchaus strittig über diese Themen auseinandersetzte. Es war nicht unser Anspruch, in allen Fragen Konsens zu erzielen, und so sind die einzelnen Beiträge in dem nun vorliegenden Kommissionsbericht auch als Autorenbeiträge namentlich gekennzeichnet.
Bei aller – wie gesagt, fruchtbaren - Auseinandersetzung war den Kommissionsmitgliedern eines gemein: der normative Kompass, eine rechtebasierte Flüchtlingspolitik und eine moderne und transparente Einwanderungspolitik zu entwerfen sowie eine Integrationspolitik, die gerechte Teilhabechancen eröffnet. Die Kommission erkannte das große Engagement der Zivilgesellschaft und staatlicher Institutionen an. Sie wandte sich klar gegen fremdenfeindliche und populistische Bestrebungen.
Bei dem heute vorgelegten Kommissionsbericht „Einwanderungsland Deutschland“ handelt es sich nicht nur um Analysen der politischen Reaktion auf die hohe Fluchtzuwanderung der vergangenen beiden Jahre. Wir legen auch pragmatische Empfehlungen zur künftigen Gestaltung der Einwanderungspolitik vor. Unsere Empfehlungen greifen fünf zentrale Politikfelder auf: Migrationsaußenpolitik, Flüchtlingsaufnahme, Einwanderungspolitik, Integration und Rückkehr.
Das Dach dieser Empfehlungen bildet ein neuer migrationspolitischer Ansatz, den wir „Whole of Government“ genannt haben. Dessen Kern liegt in der Forderung nach mehr Kohärenz.
Der Ansatz des "Whole of Government"
Was ist damit gemeint? Unserem Befund vielfältiger Akteure in der Migrationspolitik mit vielfach schlecht abgestimmten Politiken setzen wir diesen Ansatz entgegen. Es geht darum, politisches Handeln, Verwaltungshandeln und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft besser aufeinander abzustimmen, kohärenter auszugestalten.
Mehr Kohärenz meint, erstens, eine bessere vertikale oder senkrechte Abstimmung zwischen Europäischer Union, Bund, Ländern und Kommunen. Hierarchien werden bewusst durchbrochen, um Synergien zuzulassen und Platz für Neues zu schaffen.
Mehr Kohärenz meint, zweitens, eine bessere, dauerhafte horizontale oder waagerechte Koordination der unterschiedlichen Politikfelder und Ressorts. Erste Ansätze dazu gibt es in vielen Kommunen oder auch in der die Koordination der Flüchtlingspolitik im Kanzleramt.
Kohärenz meint, drittens und vor allem auch die bessere inhaltliche Abstimmung von teils widersprüchlichen Politiken.
Dieser Kohärenzbedarf wird im Folgenden anhand der fünf betroffenen Politikfelder konkretisiert: der Migrationsaußenpolitik, der Flüchtlingsaufnahme, der Einwanderungspolitik, der Integrations- und schließlich der Rückkehrpolitik.
Zunächst zur internationalen Ebene: Außen- und entwicklungspolitische Ziele müssen sicherlich stärker mit migrationspolitischen Zielen in Übereinklang gebracht werden. Entscheidend ist dabei aber, die Zielrichtung einer solchen Politik klar zu benennen. Das ist angesichts unserer völkerrechtlichen und europarechtlichen Verpflichtungen zuvorderst eine klare Ausrichtung dieser Politik an den Menschen- und Flüchtlingsrechten. Dafür kann sich Deutschland bei den UN-Gipfeln wie auch im Rat der Europäischen Union einsetzen. Es bedarf klarer Unterstützung der Herkunftsländer und der Aufnahmestaaten im globalen Süden.
Zweites Politikfeld - die Flüchtlingsaufnahme: Unser Bericht spricht sich dafür aus, Geflüchteten und insbesondere besonders verletzlichen Flüchtlingsgruppen effektiven Schutz zu gewähren. Wir müssen die Nutzung lebensgefährlicher Routen und die Abhängigkeit von Schleppern und Menschenhändlern verringern und die Erstaufnahmeländer auch innerhalb der EU entlasten. Nachhaltige Lösungen für Flüchtlinge wie für Migranten umfassen unter anderem: legale Zugangsmöglichkeiten durch Verteilungsprogramme, Kontingente und humanitäre Aufnahmeprogramme sowie das Recht auf Familiennachzug. Mit einer aktiv gestalteten Flüchtlingsaufnahme lassen sich sichere Korridore für Schutzsuchende schaffen. Mit langjähriger, verbindlicher und großzügiger Aufnahme erreicht man auch, Flüchtlingsaufnahme besser planbar und gesellschaftspolitisch akzeptierbar zu gestalten.
Hierzulande hilfreich können Systeme sein, die frühzeitig über Fluchtbewegungen informieren. Aufnahme- und Unterbringungskapazitäten müssen in einem bestimmten Umfang vorrätig oder zumindest schnell reaktivierbar sein. Zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter auch die Geflüchteten selbst, sollen an Entscheidungsprozessen mitwirken und angemessen unterstützt werden.
Zur Einwanderungspolitik, dem dritten Politikfeld: Wir empfehlen, Perspektiven für Menschen jenseits des Asylsystems über ein Einwanderungsgesetz zu öffnen. Dieses sollte die bestehenden Regelungen zum Arbeitskräftezuzug deutlich liberalisieren, zusammenführen und entbürokratisieren. Es soll dem demografischen Wandel Rechnung tragen. Es soll aber zugleich die Interessen sowohl der Herkunftsländer als auch des Aufnahmelandes sowie der Zuwanderer aufeinander abstimmen. Dazu sollte Deutschland die Möglichkeiten der Bildungsmigration und der Einwanderung zur beruflichen Qualifizierung und Weiterqualifizierung für Herkunfts- und Transitländer gezielt ausbauen. Ein Einwanderungsgesetz kann durch eine attraktive Integrationspolitik flankiert werden. Es kann Maßnahmen im Ausland verbessern, um potenzielle Arbeitsmigrantinnen und –migranten bestmöglich zu informieren und vorzubereiten.
Einige Kolleginnen und Kollegen aus der Kommission empfehlen dazu die Einrichtung eines eigenständigen Einwanderungs- und Integrationsministeriums. Sie fordern ebenfalls, die Bund-Länder-Zusammenarbeit zu verbessern und eine ständige Einwanderungskommission zu etablieren.
Viertes Politikfeld: die Integrationspolitik. Der Bericht spricht sich klar dafür aus, die soziale Teilhabe von geflüchteten Menschen möglichst rasch zu ermöglichen, Integrationsangebote möglichst frühzeitig zu öffnen und besser zu koordinieren. Die Kategorien der „guten“, „schlechten“ oder „unsicheren“ Bleibeperspektive werden als wenig hilfreich betrachtet. Zu prüfen ist auch, inwiefern „Integrations-Datenbanken“ zur Beratung genutzt werden können und dürfen. Jungen Geflüchteten soll so früh wie möglich der Einstieg in die duale Ausbildung erleichtert werden. Der Bericht unterstreicht, dass die 3+2-Regelung, die Geduldeten eine Ausbildung und anschließende Beschäftigung erlaubt, bundesweit und verlässlich umzusetzen ist.
Kehrseite der Integration – fünftes und letztes Politikfeld – ist die Aufenthaltsbeendigung und Rückkehr nicht anerkannter Asylbewerberinnen und –bewerber. Das Kommissionspapier sieht Reformpotenzial bei dem Gebot der Menschenwürde und Menschenrechtskonformität von Rückführungen. Es rät zu einem unbedingten Vorrang der freiwilligen, unterstützten Ausreise gegenüber der erzwungen durchgesetzten Abschiebung. Auch plädiert es dafür, Duldungen grundsätzlich nach einem dreijährigen Aufenthalt in einen regulären Aufenthaltsstatus zu überführen. Dies gilt vor allem dann, wenn bereits erste Integrationsleistungen erbracht wurden. Der Kommissionsbericht schlägt außerdem vor, ein Monitoring für Abschiebungen einzurichten, das behördliches Handeln beim Vollzug von Rückführungen transparent machen soll. Rückkehrberatung soll gesetzlich verankert und flächendeckend etabliert werden. Schließlich sollte sich Rückkehrpolitik nicht in der Auszahlung von Reisekosten und Startgeldern erschöpfen, sondern auch die künftigen Perspektiven von Rückwanderern berücksichtigen. Damit kann Folgemigration vorgebeugt, können Entwicklungsperspektiven im Herkunftsland entwickelt werden.
Zusammenfassend empfiehlt die Kommission in ihrem Bericht folgende fünf Punkte:
- eine an den Menschenrechten ausgerichtete Migrationsaußenpolitik auf Augenhöhe mit den Herkunfts- und Transitstaaten,
- eine aktiv gestaltete Flüchtlingsaufnahme, die Sicherheit für Schutzsuchende schafft, besser geplant und damit gesellschaftlich akzeptiert ist,
- ein Einwanderungsgesetz, das die bestehenden Regelungen zum Arbeitskräftezuzug liberalisiert und entbürokratisiert und das sowohl die Interessen der Herkunftsländer als auch jene des Ziellandes und der Migrantinnen und Migranten selbst berücksichtigt,
- eine Integrationspolitik, die soziale Teilhabe von geflüchteten Menschen möglichst rasch ermöglicht, Integrationsangebote frühzeitig öffnet und besser aufeinander abstimmt,
- eine Rückkehrpolitik, die sich an Menschenwürde und Menschenrechten orientiert und die der freiwilligen, unterstützten Ausreise gegenüber erzwungener Abschiebung den Vorrang einräumt.
Die Kommission fordert dazu mehr Kohärenz. Mittel- und langfristig schält sich so eine Migrations- und Integrationspolitik heraus, die nicht vorwiegend in Krisenzeiten auf Druck reagiert und sich von öffentlicher Aufregung treiben lässt, sondern Probleme vorausschauend angeht. Dazu bedarf es einer auf Dauer angelegten, personell und budgetär unterfütterten Koordination und Kooperation durch interministerielle Gremien und Schnittstellen.
Die Kompetenz der Kommunen und die innovativen und kreativen Ansätze der Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft zur Integration zu nutzen, ist weiterhin wichtig. Der Reformbedarf im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik bleibt bestehen. Es bleibt eine große Aufgabe, die aktuelle Debatte um Teilhabe mit Themen wie Diversität, Diskriminierung und Rassismus zu verknüpfen.
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