Haben Frauen mit und ohne Fluchterfahrung unterschiedliche Bedürfnisse? Ein Team bestehend aus Mitarbeiterinnen der Heinrich-Böll-Stiftung und den Kuratorinnen des Dossiers haben eine Gesprächsrunde mit dem Berliner Familienplanungszentrums BALANCE konzipiert, um über die Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft im Kontext von Flucht zu sprechen.
Das mediale Bild ist gezeichnet von Stereotypen und lässt die „geflüchtete Frau“ als Opfer von Krieg und Gewalt, als „Fremde“ erscheinen. Wir wollten aber auch über die in den Medien unterbeleuchteten Facetten sprechen und uns auf die Suche nach dem Verbindenden, dem Gemeinsamen machen.
Frauen mit Fluchterfahrung(en) sind Frauen mit vielfältigen Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten, mit Haltungen zu Liebe, Sexualität, Freundschaft und Partnerschaft. In einer Gesprächsrunde stellten vier Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle die Angebote vor und reflektieren, inwiefern diese Themen in der Beratung zur Sprache kommen und wie die Frauen langfristig gestärkt werden und sich stark machen.
Diana Crăciun ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des BALANCE-Familienplanungszentrums. Sie ist gleichzeitig die Diversity-Beauftragte der Beratungsstelle berät Kolleg*innen intern und extern, betreut Fachberatungen und führt Fort- sowie Weiterbildungen zu den Themen Gender- und Diversity durch. Unter anderem ist sie auch dafür zuständig, dass möglichst viel Partizipation in den Angeboten sowie der Netzwerk- und Gremienarbeit gelebt und umgesetzt wird.
Swantje Lüthge ist Hebamme und unter anderem tätig im Projekt „Schwangere und Mütter aus Berliner Unterkünften“ des Familienplanungszentrums BALANCE. Das Projekt bietet sowohl Einzel- als auch Gruppenberatung für Schwangere, Wöchnerinnen und Stillende sowie deren Familien sowie Partnerinnen und Partner mit Fluchterfahrung(en) an.
Sie sucht ihre Klient*innen in unterschiedlichen Unterkünften auf, bietet dort Hebammen- und Neugeborensprechstunden an und veranstaltet Info-Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen. Im Familienplanungszentrum bietet sie mit ihrer Kollegin, einer Sozialarbeiterin, ein Café für Schwangere, Wöchnerinnen und Stillende sowie deren Familien und Partnerinnen und Partner mit Fluchterfahrung(en) an. Wichtig für sie ist die langfristige Anbindung der Frauen, Kinder und Familien an das bestehende Gesundheitssystem.
Flora Graefe ist Frauenärztin am Familienplanungszentrum BALANCE.
Valantina Sbahi ist Frauenärztin am Familienplanungszentrum BALANCE.
Die beiden Gynäkologinnen arbeiten schwerpunktmäßig im Bereich der Versorgung von (nichtversicherten) Frauen rund um das Thema Schwangerschaft, Verhütung und Frauengesundheit, Hymen-Rekonstruktion und barrierefreie Gynäkologie.
Miteinander reden, nicht übereinander: Bedürfnisse geflüchteter Frauen abseits von Stereotypen und Vorurteilen
Mit dem Konzept der integrativen Beratung und Versorgung im Bereich von Familienplanung und Sexualität ist das Familienplanungszentrum BALANCE in Berlin derzeit einzigartig in den neuen Bundesländern. Ein interdisziplinäres Team aus Psycholog*innen, Therapeut*innen, Frauenärztinnen, Sozialarbeiter*innen, Sexualpädagog*innen, Krankenschwestern, Arzthelferinnen, Hebammen und Juristinnen arbeitet gemeinsam Tür an Tür.
Bereits im Eingangsbereich tritt der zentrale Stellenwert von Sprache im Beratungsangebot hervor: Es liegen Flyer in mehreren Sprachen und alternativen Sprachangeboten aus. Doch mit Übersetzungsangeboten ist es nicht getan, das wissen auch die vier Mitarbeiterinnen des FPZ, Diana Crăciun, Swantje Lüthge, Valantina Sbahi und Flora Graefe. Wir haben die vier Frauen gebeten, über Erfahrungen ihrer täglichen Arbeit zu reflektieren.
Viele Themen, zu denen das FPZ arbeitet, werden in der öffentlichen Debatte entweder ausgeklammert, dazu zählen etwa Schwangerschaftsabbrüche und die Schwangerenversorgung für nicht versicherte Klientinnen, oder aber politisch instrumentalisiert, wie etwa die Hymen-Rekonstruktion.
Beratungsangebote in den Unterkünften und vor Ort
Hinter dem Ziel, die Frauen* zu unterstützen, steht für die Diversity-Beauftragte Diana stets die Frage, welche Bedürfnisse Frauen* auf persönlicher und beruflicher Ebene haben, um ihre eigene Kraft zu entfalten.
Der Zugang zu mehrsprachigen Informationen über kostenfreie Angebote fehle häufig und die gesellschaftliche Teilhabe v. Frauen* mit Fluchterfahrung(en) wird damit deutlich erschwert – dies geschehe oftmals ganz bewusst. Es sei deshalb wichtig, die Unterkünfte zu besuchen, in Kontakt mit den Klient*innen zu treten, vertrauensvolle Beziehungen zu knüpfen, nachzufragen, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und immer im Austausch zu bleiben.
Die Ärztin Valantina hat aufgrund ihrer arabischen Sprachkenntnisse sowie ihrer Sozialisation einen besonderen Zugang zu vielen arabischsprachigen Klientinnen, gleichwohl ist ihr die Zusammenarbeit mit Frauen* aus unterschiedlichen Kulturen oder Herkunftsländern oder auch mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen sehr wichtig.
Während sie über ihre Arbeit spricht, betont auch sie, wie wichtig es ist, Frauen* zu ermächtigen, sich selbst helfen zu können, und so wird die medizinische Beratung geflüchteter Frauen für Valantina zunehmend auch zu einer politischen Arbeit.
Alle vier betonen, dass neben Geschlecht und Alter auch Bildung, Sprachkenntnisse und familiärer Status sowie die Überschneidung dieser Merkmale eine bedeutende Rolle bei der Beratung zukommen. Vor allem der Familienstatus steht häufig in Zusammenhang mit den Fluchterfahrungen, trotzdem gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in den Fragen der Frauen zu Partnerschaft oder Sexualität so die einhellige Erfahrung.
Die Beratung des FPZ orientiert sich deshalb auch explizit an einem holistischen Ansatz: „Wir sehen Menschen, die komplex in ihrer Identität sind, die großartige Dinge gemacht und erlebt haben und Kraftressourcen haben,“ erzählt Diana. Sie fordert eine allgemeine Neuorientierung weg von defizitären Ansätzen und einer zugeschriebenen Opferrolle geflüchteter Frauen hin zu Lösungen, die bei und gemeinsam mit den Klientinnen gesucht werden.
Für den Behandlungserfolg ist eine bestmögliche Kommunikation zwischen allen Beteiligten zentral. Sprachbarrieren bilden eine Hürde, die auch von den Dolmetscherinnen vor Ort nicht immer beseitigt werden können. Zumindest bei der Erstberatung muss die Patientin zunächst Vertrauen zu einer ihr unbekannten Übersetzerin aufbauen.
Die Übersetzerin stellt immer eine (un)sichtbare dritte Person in der Beratungssituation dar und beeinflusst, obschon ungewollt, das Geschehen. Wird der Wortlaut direkt übernommen oder interpretiert? Wird in erster Person oder über die Person gesprochen. Zudem ist es wichtig, dass nicht nur die beratende Person, sondern auch die Übersetzerin vermitteln kann, dass die Patientin in ihrem Anliegen ernstgenommen wird, aber dennoch neutral und unbefangen auftritt.
Sexualität und Partnerschaft: Was soll anders sein?
Unterscheiden sich die vielschichtigen Bedürfnisse von Frauen* mit Fluchterfahrung(en) von denen anderer Frauen*? Alle vier weisen dies entschieden zurück: „Was soll anders sein? Und warum?“ Die im Behandlungskontext aufkommenden Themen sind identisch, so Swantje.
Der einzige Unterschied sei die Sprache. Besonders beim Thema Sexualität sei es zudem wichtig, geschützte Räume zu finden, in denen die Frauen* sich wohl fühlen, und es sei darauf zu achten, dass eine vertrauensvolle Verbindung mit der beratenden Person und der Dolmetscherin besteht.
„Über Sprache können wir Menschen verstehen. Wenn ich weiß, wie etwa im Arabischen über Sexualität gesprochen wird, habe ich gleich einen anderen Zugang zu den Frauen. Für manche Begriffe finden wir außerdem alternative Übersetzungen, damit es nicht zu frontal wird, zu indiskret, zu vulgär und bleiben gleichzeitig beim Inhalt.“
Wie dies konkret aussieht, erklärt die Hebamme am Beispiel medizinischer Vokabeln, die bei der Behandlung präzise benannt werden müssen. Gemeinsam mit einer Dolmetscherin hat sie eine Liste erstellt, auf der neben „Uterus“ und „Gebärmutter“ auch „Penis“ und „Hoden“ stehen, Begriffe, die bei manchen Frauen vielleicht ein Schamgefühl hervorrufen können. Um die Beschämung ihrer Patientinnen zu vermeiden, können Dolmetscherinnen so passende alternative Begriffe finden.
Als junge Ärztin arbeitet Flora erst seit kurzem im FPZ. Sie unterstreicht die Möglichkeit, Frauen hier weit über das Körperliche, Medizinische und Technische hinausgehend beraten zu können. Der besondere Ansatz des FPZ führte für Flora zu einem Perspektivenwechsel auf ihre eigene Arbeit als Ärztin.
Sie wirft ein, dass beim Thema Sexualität der vertrauensvolle Kontakt und nicht zuletzt bereits die richtige Wortwahl entscheidend seien – in allen Sprachen. Es sei jedes Mal wieder eine Herausforderung, sich auf die individuellen Bedürfnisse einzustellen – ganz unabhängig von Herkunftsland und Sprachkenntnissen. Den Bildungshintergrund und die Persönlichkeit des Gegenübers einzubeziehen, schätzt die Frauenärztin als wesentlich für eine qualitätsvolle medizinische Untersuchung ein.
Viele arabischsprachige Klient*innen sind besonders beim Thema Familienplanung an umfangreichem Wissen interessiert, so Valantinas Erfahrung. Sexualbildung für Erwachsene werde deshalb meist sehr positiv aufgenommen.
Sogenannte kulturelle Hintergründe seien jedoch nicht zu unterschätzen, wenn es darum geht, Aspekte anzusprechen, die für viele mit Unwissen, Tabus und Scham besetzt sind. Letztendlich sind sensible Themen wie Liebe, Sexualität und Partnerschaft immer Teil der Persönlichkeit und verlangen dementsprechendes Fingerspitzengefühl.
Valantina hat es als arabischsprachige Frauenärztin dabei ungleich leichter, ohne die Mittlerin-Funktion einer Dolmetscherin über Sexualität oder Partnerschaft zu reden. Sie berichtet, dass viele Frauen und Mädchen mit ihren persönlichen Anliegen und Bedürfnissen im Kontext von Gesundheit und Familienplanung zu ihr kommen.
Ihr Wunsch ist es, selbst Sexualkunde an Schulen zu unterrichten. So wie für viele Eltern ist auch bei einigen arabischen oder afghanischen Eltern die Sorge vorhanden, dass durch Aufklärung über Sexualität und Verhütungsmethoden junge Menschen erst recht dazu ermutigt werden. Wichtig ist dabei, die Ziele des FPZ durch diese Angebote klar zu vermitteln und gemeinsame Ziele wie Prävention von sexuellem Missbrauch oder (sexuelle) Gesundheit deutlich zu machen.
Strategien der Selbstbestimmung und -ermächtigung
Vor dem Hintergrund von Sprachbarrieren fasst Swantje zusammen: „knowledge is power“. Das Wissen um Rechte ist die erste Voraussetzung für ihre Einforderung. Nicht zuletzt in Bezug auf den eigenen Körper und die eigene Familie ist der uneingeschränkte Zugang zu Informationen grundlegende Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Nur wenn die Frauen die jeweilige Tragweite des Handelns umfassend verstehen, können – und sollten – sie etwa Einverständniserklärungen unterschreiben.
Das FPZ verfolgt deshalb gezielt Strategien der Ermächtigung, um künstlich geschaffene Abhängigkeiten der Frauen zu reduzieren. Ein Beispiel ist die Unterstützung beim Briefverkehr in Ich-Form bei der Kommunikation mit Ärzt*innen oder Behörden.
Die Handlung im eigenen Namen und die direkte Ansprache ermächtigt die Frauen, ihre Rechte direkt einzufordern und öffnet Türen schneller. Ein weiteres Beispiel sei der akribisch geführte Mutterpass: Eine gute Übersetzung ist für die werdende Mutter von zentraler Bedeutung und ein wichtiger Teil der Selbstbestimmung.
Religiosität und Glaube können weitere Wege zur Selbstbestimmung sein. Der Glaube sei für viele Frauen ein starker Rückhalt, egal, welche Religion sie praktizieren, so Swantjes Eindruck über Infoveranstaltungen zum Thema Empfängnisverhütung und Schwangerschaft.
Hier geht es auch, ergänzt Diana, um Argumente und Gegenargumente für Themen wie etwa die Anzahl der gewünschten Kinder oder welche Verhütungsmethoden in Frage kommen. Neben einem Überblick über das Gesundheitssystem und Kenntnissen über Rechte sind persönliche Kraftressourcen und soziale Netzwerke zentrale Punkte der Selbstermächtigung.
Werden geflüchtete Frauen gezielt ausgegrenzt? Diana gibt zu bedenken, dass Menschen anders gemacht werden, wenn sie nicht versichert sind oder gesundheitlich versorgt werden dürfen, obwohl sie dieselben Bedürfnisse haben.
Problematisch seien zudem mediale Narrative, die mit einer gewissen Eigendynamik stets dieselben defizitären Bilder und Stereotypen reproduzieren. So hat jede Mitarbeiterin negative Erfahrungen mit Erwartungshaltungen und Mutmaßungen gemacht, die hineinprojiziert werden in die Arbeit mit „geflüchteten Frauen“.
Besonders bei sensiblen und sehr persönlichen Themen wie Sexualität, Familie und Partnerschaft sollte jedoch die Diversität der Klient*innen und die vielseitigen Mischungen der Merkmale Alter, Geschlecht, Bildung, Migration(en) und Erfahrungen berücksichtigt werden. Der Lösungsansatz des FPZ lautet daher unisono: Miteinander reden, nicht übereinander reden!