Umstrittenes Übereinkommen: Was bedeutet das Abkommen wirklich für die Souveränität der Staaten? Ein Kommentar zur Debatte um den UN-Migrationspakt und seinen Folgen.
Zwei Jahre verhandelten 193 Staaten den UN-Migrationspakt. Trotz der Brisanz des Themas interessiert sich lange kaum jemand für den Pakt, der erstmals eine gemeinsame globale Kooperationsgrundlage zum globalen Phänomen Migration schafft. Erst im Herbst 2018 entwickelte die Diskussion europaweit ihre Sprengkraft.
Unter dem Druck nachweislich falscher rechtspopulistischer Kampagnen verweigern u.a. Österreich, Ungarn und Polen ihre Zustimmung und in Belgien zerbricht die Regierungskoalition am Streit. Auch in Deutschland entbricht eine innenpolitische, kontroverse Debatte über den Inhalt, die Konsequenzen und den Nutzen des Paktes, angefeuert von der AfD.
Diese schürt die Angst, der Pakt würde den deutschen Nationalstaat in ein Siedlungsgebiet verwandeln und ein „weltweites Signal für eine nie dagewesene Völkerwanderung“ werden. Letzten Endes sind nur noch etwas mehr als 160 Staaten gewillt den Pakt in Marrakesch formell anzunehmen.
Der UN -Migrationspakt – im Interesse Deutschlands?
Im „Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ geht es in erster Linie um Arbeitsmigration, also um Menschen, die ihr Land verlassen, um anderswo Arbeit zu suchen. In der Präambel des Migrationspaktes wird deutlich, dass die Verhandlungspartner*innen Migration als ein normales, unerlässliches und globales Phänomen und als „Teil der Menschheitsgeschichte“ verstehen wollen.
Es wird auch betont, dass Migration „in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt“. Mit den Migrationsbewegungen verbundene Risiken und Herausforderungen für Ziel-, Transit- und Herkunftsländer, aber insbesondere für die Migrierenden selbst, gilt es zu minimieren.
Die Mitgliedsstaaten erkennen an, dass dies nur gelingen kann, wenn sie als internationale Gemeinschaft gemeinsam handeln. In weiten Teilen des Paktes geht es nicht darum Migration zu vereinfachen oder zu fördern, sondern sie zu begrenzen. Ziel der Staaten ist es nämlich, Flucht- und Migrationsursachen zu bekämpfen (Ziel 2) und irreguläre Migration zu verhindern, indem z.B. die Zusammenarbeit beim Grenzmanagement (Ziel 11) und bei der Rückkehr und Wiederaufnahme von Migrant*innen verbessert werden (Ziel 21) und effektiver gegen Schleuserkriminalität (Ziel 9) und Menschenhandel vorgegangen wird (Ziel 10).
Ein Großteil der Kritik entzündet sich jedoch an der Absicht, generelle Standards für den Umgang mit jenen Menschen zu garantieren, die sich dennoch entscheiden zu migrieren. Die hierfür formulierten Richtlinien und Rechte sind weder neu noch besonders fortschrittlich, sondern bestärken lediglich bereits geltende Normen und Rechte. Demnach sollen Migrant*innen besser vor Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung geschützt werden.
Sie sollen Zugang zu Grundleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung erhalten (Ziel 15), Rechtssicherheit bei Migrationsverfahren erfahren (Ziel 12) und vor Diskriminierung und willkürlichem Freiheitsentzug geschützt werden (Ziel 17 und 13). Außerdem bekennen sich die Mitgliedsstaaten zu der Rettung von Menschenleben (Ziel 8) und dazu, verbesserte Wege für eine reguläre Migration zu schaffen (Ziel 5).
Wie auch der Titel des UN-Migrationspaktes verrät, soll er Migration demnach nicht fördern, sondern sie sicher, geordnet und regulär gestalten. Die Kritik der AfD und anderer Rechtspopulist*innen, der Migrationspakt öffne der unkontrollierten Migration „Tür und Tor“, ist unberechtigt. Der Pakt ist im Interesse Deutschlands (und eigentlich auch im Interesse der AfD).
Denn die formulierten Standards im Umgang mit (Arbeits-)Migrant*innen werden in Deutschland weitestgehend erfüllt. Dennoch werden auch hierzulande insbesondere Menschen mit irregulärem Arbeitsverhältnis ausgebeutet. Arbeitsmigrant*innen migrieren aber zum großen Teil in weniger wohlhabende Länder. Halten sich in Zukunft auch diese Transit- und Zielländer daran und verbessern die Situation von Migrant*innen in ihren Gesellschaften, verringert dies auch den Zuwanderungsdruck nach Deutschland.
Unverbindliche Verbindlichkeit?
Streit entbrannte auch an der Frage, ob der Pakt denn rechtlich bindend sei. Über vierzig Mal ist im Pakt die Formulierung „wir verpflichten uns“ zu lesen, Grund genug für AfD von einer Entrechtung von nationalen Regierungen zu sprechen. Gleichzeitig weist jedoch die Präambel eindeutig daraufhin, dass der Pakt das „souveräne Recht der Staaten [bekräftigt], ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen, sowie ihr Vorrecht, die Migration innerhalb ihres Hoheitsbereichs in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht selbst zu regeln“.
Der Pakt limitiert sich demnach explizit selbst. Im Vergleich zu einem völkerrechtlichen Vertrag, welcher die Zustimmung vom nationalen Parlament benötigt und somit geltendes Recht wird, ist eine politische Absichtserklärung nicht bindend und lässt die Souveränität der Staaten unberührt. Der Pakt stellt lediglich eine moralische Verpflichtung für die Regierung dar, die formulierten Ziele zu erfüllen. Diese können aber weder eingeklagt werden, noch verändern sie deutsches Recht.
Des Weiteren können die Staaten nicht zur Aufnahme von Migrant*innen gezwungen werden. Der Pakt bietet lediglich einen Gesprächs- und Kooperationsrahmen für eine zukünftige zwischenstaatliche Zusammenarbeit.
Woher rührt dann die Kritik der AfD? Laut Alexander Gauland ist der Pakt ein erster Schritt, um „Migration zu einem Menschenrecht zu machen, das Staatenrecht übersteigt“ und bindendes Völkergewohnheitsrecht begründet. Beim Migrationspakt jedoch handelt es sich um ein sogenanntes „soft law“, ohne Kontroll- und Sanktionsmechanismen und rechtliche Verbindlichkeit. Er kann aber sehr wohl richtungsweisend für kommende Kooperationen und Abkommen sein.
Die erste UN-Menschenrechtscharta war so eine unverbindliche Absichtserklärung, bevor auf ihrer Grundlage 1966 zwei weitere verbindliche Menschenrechtspakte verhandelt wurden. Halten sich außerdem eine Vielzahl von Mitgliedsstaaten über Jahre in ihrer Staatenpraxis an die Richtlinien und setzen die Ziele des Paktes um, kann aus einer Absichtserklärung ein Gewohnheitsrecht werden, das juristische Verbindlichkeit erlangt.
Dies folgt aber keinem Automatismus. Die UN-Menschenrechtscharta genoss von Beginn an eine größere Zustimmung innerhalb der internationalen Gemeinschaft als dies beim UN-Migrationspakt der Fall ist. Daher ist es auch unwahrscheinlicher, dass die Normen des Migrationspaktes in Naher Zukunft völkerrechtliche Verbindlichkeit erlangen werden.
Kommunikative Versäumnisse
Der Pakt kombiniert zwei identitäts- und souveränitätssensible Kernthemen: Migration und internationale Kooperation. Beide sind aktuell hochgradig politisiert und umstritten. Trotz der Unverbindlichkeit des Paktes hätte der Bundesregierung sein populistisches Verhetzungspotential bewusst sein müssen.
Die europäische und innerdeutsche Diskussion um den Migrationspakt zeigt, welche potentielle politische Sprengkraft Migrationspolitik auf internationaler Ebene in sich trägt. Bei migrationspolitischen, internationalen Abkommen muss die Bundesregierung frühzeitig und proaktiv und nicht defensiv ihre Beweggründe für eine Unterzeichnung an die Öffentlichkeit kommunizieren.
Im Falle des Migrationspaktes hätte dies bereits während der Verhandlungen, spätestens aber seit der Abstimmung im Juli 2018 geschehen müssen. Zwar hätten sich die Verhandlungsführer*innen damit angreifbar gemacht und sich der öffentlichen Meinung und Kritik ausgesetzt, hätten aber den Diskurs noch selbst bestimmen können.
Erst Ende November bekannten sich schließlich die Regierungsparteien in einem gemeinsamen Entschließungsantrag zum Migrationspakt und betonten, dass er „keinerlei rechtsändernde oder rechtssetzende Wirkung" entfalte. Diese Formulierung ist fatal und sendet ein halbherziges Signal an die Öffentlichkeit.
Statt die rechtliche Unverbindlichkeit des Paktes zu betonen, hätten die Regierungsparteien gerade diese anprangern müssen. Denn nur ein Abkommen mit rechtsverbindlichem Charakter kann die Rechte der Migrant*innen wirklich schützen und läge somit nicht nur in deren Interesse, sondern auch im Interesse Deutschlands. Es sind nationale Eigeninteressen und die Betonung der nationalen Souveränität, welche effektive Problemlösungen bei globalen Herausforderungen verhindern.
Neben einer bloßen Zustimmung der Parteien zum Pakt wäre vor allem eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kernpunkten wünschenswert. Denn angesichts steigender Staatsausgaben für Grenzschutz und Abschottung ist klar, dass westeuropäische Staaten auch in Zukunft ihre Prioritäten bei der Migrationseindämmung setzen werden.
Der Fokus des Paktes liegt außerdem auf der Steuerung der Fachkräftezuwanderung in Industriestaaten und ignoriert dabei, welche (negativen) Konsequenzen eine Fachkräfteabwanderung auch für Herkunftsländer haben kann. Auch bezüglich einer nachhaltigen Bekämpfung von Flucht- und Migrationsursachen mangelt es dem Pakt an Fortschrittlichkeit.
Weitestgehend unerwähnt bleiben wichtige Lösungsansätze mit Hinblick auf den Klimawandel, Waffenexporte und ungerechter Handelsverträge. Zwar nimmt der Pakt die Rechte der Arbeitsmigrant*innen verstärkt in den Blick, dennoch fehlen neue und wichtige Lösungsansätze zu menschenrechtlichen Fragen: die Zielsetzungen zu den Themen Familiennachzug und Klimaflüchtlinge fallen hinter geltendes Recht zurück.
Angela Merkels Entscheidung, als eine der wenigen hochrangigen Politiker*innen höchstpersönlich nach Marrakesch zu reisen um den Pakt anzunehmen, war ein spätes, wenn doch auch richtiges Signal, sowohl an die innerdeutschen als auch europäischen Kritiker*innen. Trotz all seiner Mängel und seiner Unverbindlichkeit ist die Verabschiedung des ersten Globalen Regelwerks zur Migration ein wichtiges Zeichen in Zeiten des autoritären Populismus; denn globale Herausforderungen, wie Migration und Klimawandel brauchen ganz dringend eine globale Antwort.