Die Schriftstellerin und Pädagogin Sudabeh Mohafez spricht im Interview mit Safiye Can und Hakan Akçit über ihr neues Buch, den Heimatbegriff und den damit verbundenen Umgang mit rechtem Gedankengut.
Safiye Can und Hakan Akçit: Liebe Sudabeh, du bist Autorin und warst Mitarbeiterin verschiedener Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Nach deinem Studium der Musik, Anglistik und Erziehungswissenschaften warst du Leiterin eines Frauenhauses. Die Konflikte und Gewalterfahrung der Frauen hinterlassen auch bei erfahrenen Pädagog*innen Spuren. Wie bist du mit den Eindrücken umgegangen?
Wer im Bereich der Krisenintervention tätig ist, wird in aller Regel auf verschiedenen Ebenen begleitet: Es gibt regelmäßige Supervisionssitzungen für das ganze Team und, wenn sinnvoll, auch für einzelne Mitarbeiterinnen. In den Kleinteams gibt es viel gegenseitiges Coaching und Gespräche, in denen Raum ist, die Gewalt, von der man mitbekommt, zu verarbeiten. Es bleibt aber eine herausfordernde Arbeit und sie kann verletzend und auch sehr belastend werden. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es wichtig ist, nicht das ganze Berufsleben in diesem Bereich tätig zu sein, sondern nach ein paar Jahren etwas anderes zu tun – das gewährleistet auch eine Wachheit und Frische im Sinne der Menschen, die man begleitet. Die Gefahr abzustumpfen, ist meiner Meinung nach sonst durchaus gegeben. Man stumpft ab, weil man die immer aufs Neue an einen herantretenden Strukturen der Gewalt sonst kaum aushalten kann. Ich habe nach sieben Jahren aufgehört und das war eine hervorragende Entscheidung!
Die Erfahrungen aus der Arbeit in der Krisenintervention sind auf vielen Ebenen in meine Literatur eingeflossen. Insbesondere in die Psychologie meiner Figuren, aber durchaus auch in die Themenwahl.
Dein jüngstes Buch Behalte den Flug im Gedächtnis beinhaltet Erzählungen, die in drei Kapitel unterteilt sind. Die Leserschaft beginnt Von den Heimaten zu lesen, lernt viel Vom Überleben, bis ihre Reise im Kapitel Von der Rückkehr in die Liebe endet. Ist das ein Wegweiser für die Leser*innen? Und heilt die Liebe alle Wunden – auch jene, die sie selbst erzeugt?
Das wäre schön. Ich mag die Idee des Heilens allerdings nicht wirklich. Sie suggeriert so etwas wie eine vollständige Wiederherstellung, einen „heilen Zustand“. Den gibt es aber nicht und das ist auch wichtig, würden wir doch sonst immer nur wieder werden, wer wir schon waren. Genau davon, dass es also eine solche Wiederherstellung nicht geben kann, handelt mein Roman brennt. Jede Verletzung hinterlässt Spuren. Es geht im Leben, denke ich, nicht so sehr darum, diese Spuren wieder wegzubekommen, sondern sie anzunehmen und dafür zu sorgen, dass sie, um im Bild zu bleiben, nicht als offene Wunden, sondern als gut versorgte Narben zurückbleiben. Unsere Narben gehören im besten Sinne zu uns. Das ist genau wie mit unseren Falten, von denen wir von Jahr zu Jahr ein paar mehr an uns entdecken.
Insofern glaube ich auch nicht, dass die Liebe irgendwelche Wunden heilt. Was ich allerdings schon denke und auch so erfahren habe im eigenen Leben, wie in solchen, die ich persönlich oder beruflich begleiten durfte, ist, dass es sich lohnt, uns nach Verletzungserfahrungen, und gerade nach tiefen und gravierenden Verletzungserfahrungen, wieder auf den Weg zu machen. Auf den Weg zurück ins Vertrauen zu anderen Menschen – und nicht zuletzt zu uns selbst. Denn nicht selten haben wir – zu Recht oder zu Unrecht – das Gefühl, dass wir das, was uns verletzt hat, selber herbeigeführt haben, selbst zumindest ein Stück weit mitverantwortlich sind dafür, dass wir diese Erfahrung gemacht haben. Ich glaube, es geht ja im Grunde einfach immer darum, dass wir gern ein sinnerfülltes Leben leben wollen, in dem unsere Werthaftigkeit nicht in Frage gestellt ist und in dem wir zumindest eine Grundversorgtheit erleben, also unsere Existenz nicht bedroht ist. Also als Mindeststandard, sozusagen. Das hat kaum etwas mit „Heilen“ zu tun, sondern damit, dass wir Verantwortung für uns selbst und unsere Entscheidungen übernehmen, verstehen, warum wir bis zu dieser Verletzung so gelebt haben, wie wir gelebt haben, und entscheiden, ob wir daran etwas ändern wollen oder nicht. Und falls wir es wollen, ob wir dabei Hilfe brauchen oder nicht. Und falls wir sie brauchen, welche Hilfe angemessen wäre.
Es geht auch darum, aushalten zu können oder zu lernen, dass manche Verletzungen, die uns geschehen, zufällig geschehen. Dass ihnen also keine innere Logik im Sinne eines von uns vorher mit-strukturierten Handelns oder Entscheidens eignet. Das sind die Momente, in denen das alte Sprichwort davon, dass das Leben ungerecht sei, in Erinnerung gerufen wird. Das Leben ist natürlich nicht ungerecht. Aber es ist auch nicht gerecht. Gerechtigkeit ist mit Bezug auf „das Leben an und für sich“ keine hilfreiche Kategorie. Verantwortung dagegen schon. Wir sind es, die mit dem, was uns widerfährt umgehen müssen, dürfen, können. In diesem Sinne wäre „Heilung“ ein Prozess der (nicht immer!) selbst gewählten Veränderung, der Selbst-Akzeptanz und der Verantwortungsübernahme. Und das sind durchgehend Themen, die die Figuren in meinen Büchern umtreiben.
Wie kamst du auf die Idee zum Zehn-Zeilen-Buch? War es nicht schwer die selbsterlegte Regel durchweg einzuhalten, stets von der elften Zeile abzulassen?
Das Zehn-Zeilen-Buch entstand als ich zwei Jahre lang in Portugal lebte, wo ich mich zwar unglaublich wohl fühlte, aber – logischerweise – den alltäglichen Austausch mit deutschsprachigen Kolleg*innen vermisste. Um das ein wenig zu kompensieren, habe ich damals einen Blog eingerichtet, auf dem ich an circa sechs Tagen die Woche je einen Text postete und dazu Kommentare erhielt. Das war sehr schön. Das Format entstand eigentlich in der Hauptsache aus meiner eigenen Ungeduld beim Lesen am Bildschirm. So habe ich mir einfach eine Länge gesucht, die meine Lesegeduld in diesem Medium nicht strapazieren würde. In der Auflösung meines damaligen Browsers waren das zufälligerweise zehn Zeilen und die ergaben beim ersten Text 852 Zeichen mit Leerzeichen. Das hab ich dann einfach übernommen und beibehalten und ergänzt durch die Regel, jeden Text innerhalb von 15 Minuten verfassen zu müssen und ihn danach innerhalb weiterer 15 maximal zweimal überarbeiten zu dürfen. Ich fand diese Verknappungen und Einschränkungen eigentlich eher inspirierend als schwer durchzuhalten. Es gab sogar immer mal wieder Texte, die ich verlängern musste, weil ich in meiner Lieblingsvariante auf weit weniger als 852 ZmL gekommen war. Mit Einschränkungen zu arbeiten, übt sehr. Für mich war es eine große Spielwiese, die durch die vielen Kommentator*innen damals auch über eine besonders intensive Lebendigkeit verfügte.
Ich wurde dann bei Lesungen in Deutschland von den Leser*innen meines Blogs sehr oft nach dem zehn-zeilen-buch gefragt. Das existierte ja aber noch gar nicht. Diese Rufe nach dem Buch, das es noch gar nicht gab, haben dann quasi zwangsläufig dazu geführt, dass ich mir einen Verlag gesucht habe, in dem diese Miniaturen gut aufgehoben wären. Und so habe ich die wunderbare edition AZUR in Dresden gefunden.
Die Biografien der Menschen weisen in der heutigen Zeit mehrere Stationen auf. Du bist oft zwischen Portugal und Deutschland gependelt. Muss im „Zeitalter der Globalisierung“, wo Grenzen zunehmend verwischen, der Heimatbegriff neu definiert werden?
Ich glaube, dass mit Heimat sehr oft eigentlich ohnehin etwas gemeint ist, das wir in frühester Kindheit in der Art der Verbundenheit mit anderen erleben und manifestieren – sei es auf positive oder negative, auf beglückende oder schmerzhafte, auf förderliche oder verängstigende Art und Weise. Ich verstehe das Wort nicht richtig und habe es, glaube ich, wirklich noch nie so ganz verstanden. Ich halte Heimat für eine Utopie, eine Art Sehnsuchtsleinwand. Spricht man beispielsweise mit Menschen, die Heimat in einem Dorf nördlich von Stuttgart erlebt haben, so bekommt man schnell den Eindruck, sie sei etwas entsetzlich Einengendes, Unterdrückendes, gleichzeitig aber auch Stabilisierendes. Spricht man mit Menschen, die nur bedingt freiwillig oder sogar unfreiwillig an dem Ort leben, an dem sie leben, so bezeichnet Heimat einen geografisch fernen Ort, der entweder lebensgefährlich oder paradiesisch, nicht selten aber auch beides gleichzeitig zu sein scheint.
Ich glaube, dass es so etwas wie Heimat in der Welt der Dinge, der Erscheinungen, in der Welt da draußen nicht gibt. Was es gibt, sind Erfahrungen verletzender oder fördernder Zugehörigkeiten. Heimat scheint mir eher wieder ein Modewort zu sein. Eines, das, einmal genau hingeschaut, niemand recht füllen kann, und das für allerlei herhalten muss, weil wir uns vielleicht allzu oft nicht die Mühe machen wollen, genauer hinzuschauen, worüber wir eigentlich sprechen wollen, wenn wir von Heimat sprechen.
Aktuell gibt es dennoch eine weltweite Gegenbewegung. Menschen wählen Politiker*innen, die sich für mehr Grenzen und höhere Mauern aussprechen, den Wähler*innen mehr Kontrolle und Sicherheit versprechen. Patriot*innen und Nationalist*innen sind auf dem Vormarsch und wieder unterscheidet man zwischen Wir und Ihr. Kann man mit xenophoben Menschen reden oder sitzt der Ethnozentrismus hier bereits zu tief?
Vielleicht können manche das oder halten es für sinnvoll. Ich tue es nicht und halte es für sinnlos. Bis jetzt hat mich noch keines der mir bekannten Ergebnisse solcher Versuche in irgendeiner Weise vom Sinn des Unterfangens überzeugen können. Das Phänomen würde ich übrigens auch nicht als Ethnozentrismus bezeichnen, sondern als ein altbekanntes Geflecht aus Rassismen, Antisemitismus und Abwertung und Ausgrenzung von als abweichend Definierten. Woher diese Strategien und Ideologien kommen, warum sie immer wieder gewählt und eingesetzt werden, darüber gibt es ganze Bibliotheken voller Wissen. Nichts darüber ist ein Geheimnis. Und nichts daran ist besonders schwer zu verstehen. Die eine Frage ist, was dazu führt, dass diese Interventionsstrategien und Machtmechanismen zu einem gegebenen historischen Moment in der Zeit wieder zunehmen und von immer mehr Menschen aufgegriffen und angewendet werden.
Die andere, und auf sie zielt Deine Frage, ist, was davon zu halten, und wie damit umzugehen ist. Ich halte populistisch auftretende Menschen und Bewegungen für extrem gefährlich. Der anti-zivilisatorische Impetus, der durch sie gesetzt ist und immer weiter gesetzt wird, reißt einen Abgrund auf, der, wie wir ja auch in neuerer Zeit wieder gesehen haben, für manche Einzelne bereits jetzt tatsächlich lebensgefährliche Auswirkungen hat und für unsere Demokratie zutiefst gefährdende Veränderungen zur Folge haben kann und teilweise schon hat. Zu diesem Themenkomplex sendete der Deutschlandfunk Anfang Februar ein äußerst klares und treffendes Kommentar von Sebastian Engelbrecht. Der aggressive Nationalismus der Rechtspopulisten in der AfD könnte die demokratische Ordnung kippen, erläutert er unter anderem mit aktuellem Bezug auf das Auftreten vieler Parteimitglieder im Rahmen des Gedenkens an die Shoa im Januar 2019 und folgert, es sei von größter Wichtigkeit, „dringend die Distanz zu wahren und sich nicht im Ansatz zu politischen Kompromissen mit den Rechtspopulisten hinreißen zu lassen.“
Ich sorge mich um das Fortbestehen der demokratischen Verhältnisse in Deutschland und überhaupt, und denke, dass wir sehr wachsam, sehr klug und sehr aktiv sein müssen, um sie zu bewahren.
Was passiert auf dem schwarz-weiß Kindheitsfoto von dir?
Das Foto zeigt mich und meinen Vater bei einem Besuch in Deutschland 1965. Es wurde nach meiner Taufe beim Festessen in der Wohnung meiner Berliner Tante aufgenommen. Ich liebe es sehr und stelle es hier ausgesprochen gern zur Verfügung.
Worauf dürfen sich deine Leser*innen als nächstes freuen?
Diesen Monat erscheint mein aktuelles Buch, Neue Tiere – das fantastische Bestiarium im weiw-Verlag. Es ist eine Gemeinschaftsarbeit mit der bildenden Künstlerin Anija Seedler aus Leipzig, mit der mich auch eine innige Freundschaft verbindet. Wir haben hier den Bezugsprozess, wie er gewöhnlich abläuft, nämlich: erst ist ein Text da, dann kommt – illustrierend – ein Bild dazu, umgedreht. So habe ich zu mehr als zwanzig Gemälden von Anija Gedichte verfasst, die bewusst einen Leser*innenkreis von neun bis neunundneunzig ansprechen. Das Buch erscheint gleichzeitig auf Deutsch und Englisch, was der unermüdlichen Tatkraft unserer Verlegerin, Svea Gustavs, zu verdanken ist und mich besonders freut. Nach der Arbeit an Kitsune. Drei Mikroromane, für das ich mit dem bildenden Künstler Anton Rittiner zusammengearbeitet habe, ist dies meine zweite künste-übergreifende Kooperation. Solche Gemeinschaftswerke eröffnen mir ganz besondere Schaffensräume und ich erlebe sie als sehr beglückend! Auf das Buch freue ich mich entsprechend riesig, und arbeite parallel an meinem neuen Roman.
Mit welcher bekannten Persönlichkeit würdest du gerne einen Kaffee trinken?
Wenn es eine verstorbene Person sein dürfte, würde ich unendlich gern mal einen halben Nachmittag mit Virginia Woolf verbracht haben, allerdings lieber beim Tee als mit einem Kaffee. Wenn es noch lebende Personen sein sollen, dann wäre ich sofort zur Stelle, wenn Claudia Rankine und Maggie Nelson Lust auf ein Treffen hätten.
Dieses Interview führten Safiye Can und Hakan Akçit im März 2019