Dinçer Güçyeter spricht in seinen Gedichten über Verlusterfahrungen – die der Heimat, der Unschuld, aber auch die geliebter Menschen. Safiye Can und Hakan Akçit haben den Dichter, Verleger, Schauspieler und Theaterregisseur zum Interview getroffen.
Safiye Can und Hakan Akçit: Lieber Dinçer, du bist Autor, Verleger, Schauspieler und Theaterregisseur. Woher nimmst du die Energie für alle diese unterschiedlichen Aufgaben?
Dinçer Güçyeter: Auch wenn die Schaffensprozesse unterschiedlich sind, es ist die gleiche Quelle: die Neugier. Natürlich auch das Interesse an Geschichten. Ich sehe meine Position als Geschichtensammler und Geschichtenerzähler. Diese Neigung hat sehr viel mit meinem Elternhaus zu tun. Ich bin in einer neunköpfigen Familie groß geworden. Es begann mit dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, den meine Uroma erleben musste. Anfang der Sechziger kamen meine Eltern dann als Gastarbeiter nach Deutschland. Das Theaterstück Kirschgarten von Tschechow endet so: „Zugeschlossen! Sie sind weggefahren.“ Diese vier Worte spiegeln auch den Prolog meiner Existenz wider. Ich versuchte dann Gegenwehr zu leisten: Türen zu öffnen, wieder alles und alle unter einem Dach zu sammeln. Ich weiß nicht, ob dieser Versuch immer erfolgreich ist, doch in meinem kleinen Labor (Arbeitszimmer) fühle ich mich sehr wohl.
Vor kurzem ist dein neuer Lyrikband Aus Glut geschnitzt erschienen. Bei der Lektüre hat man das Gefühl, dass er ein sehr persönlicher ist. Du thematisierst die Migration deiner Eltern, teilst Eindrücke aus deiner Kindheit, aber auch aus dem aktuellen Leben deiner Familie. Wie schwer ist es dir gefallen, es der Öffentlichkeit freizugeben?
Gar nicht, weil ich nicht anders kann. Ich werde dieser Welt als gelernter Dreher nichts akademisches hinterlassen können. Auf meinem heutigen Feld bin ich ein Autodidakt. Mit den richtigen Ressourcen kann man diese Lücke zu einem großen Freiraum wandeln. Dann bleibt mir nur eins übrig: alle Stimmen und Erfahrungen, die mir begegnen, sich in mir ansammeln mit eigener Betonung wiederzugeben. Solange der Schreiber ehrlich ist, darf die Literatur alles!
Deine Gedichte handeln oft vom Verlust der Heimat durch die Migration, der Unschuld durch das Erwachsenwerden, aber auch vom Verlust eines geliebten Menschen. An einer Stelle heißt es: „hinter mir hörte ich/ wie das Kind von seinem blauen Fahrrad sprang/ und mit einem Hammer den herrenlosen Sarg zerlegte/ keiner will es glauben, aber…/ der Tod eines Vaters ist die zweite Geburt des Sohnes“. War der Verlust deines Vaters der Auslöser, einen neuen Lebensweg einzuschlagen?
Vor seinem Tod waren schon zwei Gedichtbände erschienen. Einen dritten fand ich überflüssig. Vier Jahre nach seinem Tod sah ich im Spiegel, was ich alles verdrängt habe. Die neuen Falten im Gesicht wollten was erzählen, und so entstanden diese Zeilen. In zwei Monaten war dann der Band fertig. Du merkst es nicht, aber in Zeiten, wo du nicht schreibst, schreibt und speichert das Gedächtnis. Ich musste dann nur noch ein wenig an der Form und am Klang arbeiten.
Wie viel Schmerz muss ein Dichter aushalten, um dieserart Verse zu verfassen:
„das Salz zwischen deinen Zehen/ enthüllt die Lügen der Zeit/ wohin fließen nun die Tränen/ wo heilt man die Brandflecken auf den Lidern?/ und die nassen Knoten deiner Schuhe/ die Zeugen tausender Untaten/ wohin damit…“?
Liebe Safiye, du kennst das. Viele werden diesen Ausdruck pathetisch finden, aber genauso will ich es formulieren: Das Gedicht ist ein Hemd aus Feuer, der Dichter der Zeuge seiner Zeit. Wenn du dich als Dichter/in dafür entscheidest, gibt es oft kein Zurück. Der Osten, das Mittelmeer, Anatolien, die Pseudodemokratie in Deutschland. Das alles hat mein Schreiben in den letzten Jahren sehr geprägt. Und ja, Aylan Kurdi, das kurdische Kind, sein rotes T-Shirt wird ewig als Schandfleck der Welt bleiben.
Vielleicht ein paar Worte über den Ausdruck „Pseudodemokratie in Deutschland“. Wenn du in der Öffentlichkeit diese Worte verwendest, bekommst du oft ein „Dann gehe doch zurück in die Türkei“ ins Gesicht geworfen. Zwei Dinge dazu. Erstens: Die Türkei hat Probleme, das wissen wir alle. Das heißt aber nicht, dass hier bei uns in Deutschland alles Sahne ist. Zweitens: Ich habe türkisch-anatolische Wurzeln. Aber Deutschland ist auch mein Lebensraum, hier bin ich geboren. Auch meine Kinder. Also nix mit zurück!
Wie kamst du auf die Idee den Elif Verlag zu gründen und wie ist der derzeitige Stand um den Verlag?
Darüber könnte man viel erzählen, um es kurz zu machen: 2010 saß ich mit ein paar Kumpels in einer Kölner Kneipe. Das Thema war die sehr knappe Veröffentlichungsmöglichkeit von Lyrik. Ein „Ich gründe morgen einen Verlag“, kam aus meinem Mund. Natürlich war ich betrunken! Am nächsten Tag fand ich die Idee immer noch lustig. Heute sehe ich die Entwicklung immer noch als ein lustiges Echo des vor sechs Jahren angefangenen Spiels.
Anders würde man untergehen. ELIF-Bücher erwecken zunehmend das Interesse der Öffentlichkeit. Vor allem der Erfolg der DebütantInnen ist für einen Verleger die Bestätigung für sein gutes Gespür. Özlem Özgül Dündar wurde vor einigen Tagen beim Bachmann-Wettbewerb mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. Solche Ereignisse sind motivierend und geben Hoffnung für die Zukunft. Der Gegenwart und der Zukunft neue Stimmen vorzustellen, ist ein wichtiges Motto der ELIF-Philosophie.
Welche Fehler der Autoren beobachtest du am meisten, wenn du Manuskripte erhältst? Und was sollten angehende Autoren und Lyriker unbedingt beachten, wenn sie einen Verlag beschicken?
Kein Schnörkel: keine Blumen, Schmetterlinge, Sonnenuntergänge unter, über, neben den Texten. Eine klare Schriftart. Die Auflistung der Preise, Veröffentlichungen und Erfolge interessieren mich auch nicht. Der Text ist maßgeblich. Die Sprache des Dichters will ich lesen, alles andere belastet das Manuskript und den Empfänger.
Du hast die Übersetzung mehrerer Werke von türkischen Dichtergrößen ins Deutsche herausgegeben, was viel Zeit und Energie kostet. Was ist hierfür dein Antrieb?
Es sind bisher vier Gedichtbände aus dem Türkischen im ELIF VERLAG erschienen. Der fünfte wird momentan übersetzt. Die Bände werden zweisprachig gedruckt. Dichter, die mit ihrem Werk meine Jugend sehr geprägt haben, wollte ich auch dem deutschsprachigem Raum näher bringen. Safiye, du als Übersetzerin weißt ja, wie viel Arbeit dahintersteckt. Auf der anderen Seite macht es auch unheimlich Spaß, mit guten Übersetzer/innen produktiv zu sein. Die Reihe wird auch in Zukunft einen wichtigen Platz im Verlagsprogramm haben. Dazu kam 2017 die isländische Reihe ins Programm. Es bleibt spannend.
Unsere letzte Frage an dich: Was würdest du auf keinen Fall mitnehmen, wenn du auf eine einsame Insel müsstest?
Rimbaud! Rimbaud ist die kleine Maus, die seit letztem Herbst bei mir im Arbeitszimmer lebt. Wir sind uns bis jetzt nur einmal begegnet. Es ist ein Wunder, wie er den ganzen Zigarettenqualm und mein Vortragen von Texten aushält. Die ganzen Kekskrümel, die ich beim schnellen knabbern auf den Boden fallen lasse, sind für ihn gute Reserve. Rimbaud soll hier bleiben!
Vielen Dank für das Interview!
Dieses Interview führten Safiye Can und Hakan Akçit im Juli 2018.