„Es ist jetzt eine gute Zeit, um Bücher zu lesen“

Interview

Die sorbische Lyrikerin Róža Domašcyna spricht im Zwischenraum-Interview über verlorengegangene Sprachen, Erfahrungen aus ihrer Kindheit in einem sächsischen Dorf und darüber, wie Schriftsteller*innen während der Pandemie unterstützt werden können. 

Róža Domašcyna bei einer Lesung im Oktober 2019
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Róža Domašcyna bei einer Lesung im Oktober 2019

Safiye Can: Liebe Róža, wir sind inmitten der Corona-Pandemie, wie geht es dir als Autorin damit?

Róža Domašcyna: Wenn ich daran denke, dass die Pest in meiner Geburtsgegend, im Ort Konjecy, also Cunnewitz (Anm. der Redaktion: Ort im Zentrum des Landkreises Bautzen in Ostsachsen) alle Bewohner des Dorfes dahinraffte und nur ein Mädchen übrigblieb, geht es mir und meiner Familie gut. Wir sind bislang verschont geblieben. Doch ich weiß von einer Dichterin, die unter dieser Krankheit gelitten hat. Im Wald bei Konjecy steht übrigens ein Pestkreuz. Wie anderswo auch, beispielsweise in Rom das historische aus dem Jahr 1522. Wir sind also guten Mutes, dass wir lebend davonkommen.  

Du schreibst auf Sorbisch und Deutsch. Wann schreibst du in welcher Sprache? Und wie wichtig ist dir die sorbische Sprache, die vom Aussterben bedroht ist?

Ich habe diese beiden Sprachen zur Verfügung und wende sie je nach meinem Grundimpuls für einen Text an. Sie sind ja sehr unterschiedlich. Im Sorbischen gibt es den Dual, auch das Diminutiv wird stark gebraucht. Als Wertschätzung, ausschließlich. Das ist im Deutschen anders. Mit der deutschen Sprache kann man Dinge sehr genau benennen, ich finde ebenfalls viele Bezeichnungen für einen Zustand. Die Namen für Pflanzen und Tiere sind sehr anders in beiden Sprachen.

Man kann sie nehmen, vergleichen, übersetzen, daraus neue Kombinationen bilden. Für mich sind beide Sprachen ein gutes Material. Und sie sind mir beide gleich wichtig. Ich schreibe in einer meiner Sprachen nicht, weil ich sie irgendwie vom Aussterben retten will. Das kann ich überhaupt nicht. Jeder Sprecher einer Sprache entscheidet für sich. Ich nehme sie beide. Freilich, Sorbisch wird weniger angewandt, was auch stark mit der Politik in diesem Land – und zwar durch die Jahrhunderte – zu tun hat. 

Kürzlich ist dein Lyrikband stimmen aus der unterbühne erschienen. In deinen Gedichten thematisierst du u.a. auch die Muttersprache, das Schreiben, die Wörter und Satzzeichen. Wer sind hier die Lachenden? Sind Sprachen in Schachteln sicher vor dem Aussterben?

Buchcover zu "stimmen aus der unterbühne"

Kerne in der schachtel

bin aus unseren dörfern gekommen
die sprache habe ich mitgenommen
keiner wollte sie verstehen
sie haben zu meiner sprache geschwiegen
sie haben über die sprache gelacht
sie haben gesagt: lass sie im halse stecken
sie haben gesagt: es gibt bessere sprachen
jedes wort hab ich bis auf den kern abgenagt
die kerne anschließend ausgespuckt

kehre die kerne auf, haben sie gesagt
ich hab sie in eine schachtel getan
den deckel draufgelegt und angeklebt
hab nun wortkerne in der schachtel

wenn du sie schüttelst kannst du sie hören
die kernworte

Das, was ich in der Schachtel zu bergen versuche, ist meine Sprache. Zwei Wörterbuchsprachen also, plus die Zwischensprachen, die Dialekte, soweit sie mir zur Verfügung stehen. Manchmal auch Sprachen, die man in Deutschland als Fremdsprachen bezeichnet. 

Jede Sprache die – in welchem Jahrhundert auch immer – verworfen wird, ist ein Verlust. Ich denke da beispielsweise an das Dravänopolabische, das vor über zweihundert Jahren „gestorben“ ist und ein Bindeglied zu anderen slawischen Sprachen war, was man heute noch in der Wendlandchronik des Johann Parum Schultze nachlesen und im Museum in Lübeln sogar hören kann.

Dass die Menschen diese Sprache nicht mehr wollten, hatte freilich mit politischen Zwängen zu tun und dem daraus entstandenen Minderwertigkeitsgefühl der Sprecher. Später sollte das Dravänopolabische wiederbelebt werden. Aber es war schon zu spät. Nicholas Evans beschreibt solche Erscheinungen anschaulich in seinem Buch Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, das bei C. H. Beck erschien.

Im angesprochenen Gedicht aber geht es um meine „poetische Sprache“. Und freilich kommt da die sorbische Sprache mit hinein. Auch die Erfahrungen, die beim Anwenden dieser Sprache in der Praxis gemacht werden. Man muss sich schon stark machen, wenn man mit jemanden in einer weniger angewandten Sprache spricht, im eigenen Lande. Die Umwelt versteht sie nicht, die Toleranzgrenze ist sehr niedrig. Das hat wohl jeder schon erfahren, der inmitten einer Mehrheit eine weniger angewandte Sprache spricht. Doch in diesem Gedicht denke ich zuerst die eigene poetische Sprache mit. 

Erinnerst du dich an rassistische Erfahrungen, die du machen musstest? Machten Menschen aus deinem Umfeld solche Erfahrungen?

Ja, solche Erfahrungen habe ich gemacht. Vor wenigen Jahren, als eine Umgehungsstraße in der Kleinstadt Bautzen gebaut wurde, wo ich jetzt lebe. Auf einer neuen Brücke stand Ostern „Sorben raus!“. Kurz nach der politischen Wende, im Jahr 1990, ging ich mit meiner Mutter, welche die sorbische nationale Bekleidung noch trug, durch eine Kleingartenanlage der Stadt. Jugendliche saßen am Biertisch und riefen ihr Schmähungen nach. Ich war erbost.

Mutter sagte: Was regst du dich denn so auf, das ist doch nicht neu. Sie erzählte mir eine Begebenheit aus dem Jahr 1940, als in ihrem Dorf die Schweine aus den Ställen geholt wurden, für die Front. Heute holen wir Eure Schweine, und morgen Euch Schweine!, sagte ihr ein LKW-Fahrer. Sie war damals zwölf oder dreizehn. 

Mein Mann wuchs in einer dörflichen Kleinstadt auf. Seine Klasse, in der Sorbisch unterrichtet wurde, ist in den sechziger Jahren aufgelöst worden. Die Kinder wurden in eine rein deutschsprachige Klasse gesteckt und dort oft von den Bürgersöhnen, die zumeist einen sorbischsprachigen Nachnamen hatten, verdroschen. Andererseits wurde meine Freundin Elke, die zwar nach dem Krieg geboren, aber mit ihrer Familie, die Vertriebene waren, in mein Dorf kam, von einem Jungen geohrfeigt, weil sie nicht gut Sorbisch sprach.

Portrait Róža Domašcyna
Róža Domašcyna

Als ich in den siebziger und achtziger Jahren im Braunkohlenwerk in Knappenrode arbeitete, hatten wir dort ein sogenannten Sorbenaktiv. Wir waren also aktiv und stellten in Vitrinen Landschaftsbücher, Ostereier und Stickereien aus. Sachen, von denen wir dachten, sie würden als „etwas Sorbisches“ Interesse erregen. Einmal kam einer unserer Mitstreiter, der in einem der Tagebaue arbeitete und behauptete, er wäre jetzt „nur noch deutsch“. Er wolle kein Wort Sorbisch mehr sprechen. Was war passiert? Die Kollegen hatten ihn mit „sorbische Mafia“ betitelt und sich köstlich dabei amüsiert. 

Neulich wurden auch in Discos im zweisprachigen Raum Jugendliche, die sich auf Sorbisch unterhielten, ausgespäht und anschließend verprügelt. Von den Prügelnden fehlt wohl bis heute jede Spur. Es gibt da ein Buch, das ich empfehlen möchte: Wie man seine Sprache hassen lernt, von Martin Walde (Domowina-Verlag, Bautzen, 2010). Ist wohl im Moment vergriffen. Solche Erfahrungen sind mitnichten an die Jetztzeit gebunden.

Überall, wo es zahlenmäßige Mehrheiten und kleinere Gruppen gibt, die irgendwie anders sind, kann man derlei Erscheinungen beobachten. Auch in einem sorbischsprachigen Dorf nach dem 2. Weltkrieg, als vereinzelt Vertriebene kamen, wie ich es schon sagte. Und wie ich es beispielsweise im Gedicht Hannelore beschreibe. Heute hat die Zahl derjenigen, die auf dem Dorfplatz untereinander deutsch sprechen, stark zugenommen. 

Die Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten, zwischen Macht und Ohnmacht – das kann mit Gewalt, aber auch mit Solidarität zu tun haben. Z.B. haben jetzt in Prag junge Leute Mundschutz-Päckchen in die Lausitz verschickt, gratis. An Freunde, die des Sorbischen mächtig sind.

Schreiben Dichterinnen besser als Dichter?

Das kann ich nicht so pauschal beurteilen. In der sorbischsprachigen Literatur war das Schreiben, auch von Gedichten, lange Jahre fast nur die Domäne der Männer. Das hat sich nach dem 2. Weltkrieg geändert. Und jetzt noch mehr.

Róža Domašcyna bei einer Lesung im Oktober 2019

Róža Domašcyna, geb. 1951 in Zerna bei Kamenz (Oberlausitz), ist eine sorbische Dichterin, Übersetzerin, Dramatikerin und Herausgeberin. Sie ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland sowie der Sächsischen Akademie der Künste. Preise u.a.: Anna-Seghers-Preis der Anna-Seghers-Stiftung Berlin und Mainz 1998, Prix Evelyne Encelot 2003, Sächsischer Literaturpreis 2018, Meißner Literaturpreis 2019. Zu ihren letzten Veröffentlichungen gehören: Die dörfer unter wasser sind in deinem kopf beredt, Poetenladen Verlag, Leipzig 2016, znaki pominaki kopolaki (mit M. Cušcyna und M. Mětowa), Domowina-Verlag, Bautzen 2019, W času zeza časa, Domowina-Verlag, Bautzen 2019, stimmen aus der unterbühne, Poetenladen Verlag, Leipzig 2020, Poesiealbum Nr. 354, Märkischer Verlag, Wilhelmshorst (1.6.2020, Vorbestellung möglich).

Hier finden Sie eine Leseprobe der Autorin.

Wer zählt im Sorbischen zu den Dichtergrößen?

Eine Frage, für die ich dankbar bin. Eigentlich müssten diese Dichter in Deutschland bekannt sein. Sind sie aber nicht, nicht einmal in Sachsen, auch nicht in den Schulen meines Lebensumfeldes. Ausgenommen freilich die Schulen, wo auch die sorbische Sprache unterrichtet wird. Das ist ebenfalls Politik, nicht nur eines Jahrhunderts.

Der bekannteste Dichter war Jakub Bart-Ćišinski (1856-1909), genannt der Stille, was er nicht war, hatte er es doch mit kirchlichen und staatlichen Instanzen zu tun. Geschrieben hat er in gebundener Rede, vor allem Sonette, auch Langgedichte. Überhaupt beschäftigte er sich mit den poetischen Formen. Eine Gedichtauswahl erschien in der Reihe Die sorbische Bibliothek des Domowina-Verlages in Bautzen unter dem Titel Im Fieber 2009. Etliche Helgoland-Gedichte sind darin. Die sehr guten Übertragungen ins Deutsche sind zumeist von Peter Thiemann. 

Dann würde ich Mato Kosyk (1853-1940) nennen. Er schrieb in Niedersorbisch, was eine eigene Schriftsprache ist. Da er in Preußen als freier Autor nicht existieren konnte, wanderte er nach Amerika aus, wo er Theologie studierte. Nachher wollte er zwar wieder zurück, aber sein Abschluss wurde nicht anerkannt. So blieb er in Amerika und verfolgte besorgt die Kriegsereignisse in Deutschland. Ergreifend sind seine Gedichte, die er in Amerika schrieb. Seine Gesänge des Mississippi z.B.. Alles auf Niedersorbisch. Er ist in Albion/Oklahoma begraben. 

Ich würde auch Mina Witkojc (1893-1975) zu den wichtigsten Dichterinnen und Publizistinnen zählen. Sie wurde zur Nazizeit aus Preußen und Sachsen ausgewiesen. Später lebte sie zeitweise in Prag. Ihre Erfurter Erinnerungen sind starke politische Gedichte in niedersorbischer Sprache. Kito Lorenc hat etliche ihrer Gedichte ins Deutsche übertragen. 

Dann noch Jurij Khěžka (1917-1944). Er hinterließ, wie der ungarische Dichter Miklós Radnóti (1909-1944), ein Heft voller Gedichte. Wunderbare Gebilde, dem Leben zugewandt und den Krieg verurteilend. Er starb beim Versuch aus der Wehrmacht zu desertieren in der Nähe von Krušecav und Kragujevac in Serbien. Ich habe eine Auswahl in Österreich, in der Reihe Edition Thanhäuser, in deutschsprachiger Übertragung veröffentlichen können. Das Buch heißt Zelene zet / Das grüne Gej und erschien 1998. Von den Gegenwartsdichtern würde ich Kito Lorenc (1938-2017) nennen.  

Wie verbringst du deine Tage zur Pandemiezeit, wie sieht dein Alltag aus? 

Meine Tage sind ziemlich mit Arbeit angefüllt. Poetischer und organisatorischer. Gemeinsam mit Axel Helbig, dem Redakteur der Zeitschrift für Literatur und Kunst Ostragehege, die in Dresden erscheint, erstelle ich eine Anthologie mit Lyrik, die noch in diesem Jahr erscheinen soll. Weiterhin stelle ich ein Poesiealbum (das ist eine Auswahl der Arbeiten einer Dichterin, eines Dichters in Heftform) des Dichters Milan Hrabal aus Tschechien zusammen – mit Übertragungen ins Deutsche.

Was wünschst du dir von Leser*innen, wie können die Menschen zur Pandemiezeit Autor*innen und Verlagen helfen?

Es ist jetzt eine gute Zeit, um Bücher zu lesen. Das hilft den Autor*innen und Verlagen. Und ich wünsche mir, dass meine Enkel mehr zum Buch als zum Smartphone greifen.