Leseprobe von Róža Domašcyna

Leseprobe aus den Gedichtbänden "stimmen aus der unterbühne" und "Poesiealbum 354" von Róža Domašcyna.

Róža Domašcyna

Leseprobe aus:

Cover zu "stimmen aus der unterbühne"

Róža Domašcyna
stimmen aus der unterbühne
gedichte
Klappenbroschur, 120 S., 18,80 Euro
ISBN 978-3-948305-05-5
poetenladen 2020

 

Hannelore

sie saß in der kirche in der ersten bank
im kleid mit blüten aus klatschmohn
die lippen knallrot 
wir kinder beäugten die dicke frau
von weitem sie sprach nur deutsch 
komm doch mal her rief sie uns nach
ich kenne märchen die du nicht kennst
wir umkreisten sie johlten immer
auf abstand 
die Hannelore tut euch weh beteuerten
die eltern einmal bekam sie mich
zu fassen ich weiß ein schönes märchen
ihr mund verzog sich sie zerrte mich mit
es war einmal ein engel am bahnhof 
wo ich ankam im krieg – kennst du den…
hier gibts keinen bahnhof! schrie ich 
in meiner sprache die sie nicht verstand 
so erzählte sie weiter
der engel nahm mich an die hand 
und führte mich zu dir

das ist doch kein märchen! 
es fielen christbäume auf den bahnhof
sie fielen vom himmel und brannten  

das gibt’s nicht mal im märchen! ich lachte
feuer das jüngste gericht auch dort 
wo ich in den zug stieg am meer…

sie weinte ich entriss ihr die hand
hier ist kein meer! trumpfte ich auf
zwischen den blumen des kleides 
angelte sie bonbons hervor 
hier – weil du mir zugehört hast
ich warf sie fort wie giftige beeren
sie rannte aufs haus zu wo sie wohnte 
später hörte ich sie singen 
mit einer stimme wie engel sie haben
damit lockt sie männer an 
sagten die frauen und beantworteten 
nie den gruß den sie ihnen reichte
 
 

Hinter der tür

bevor sie sich das letzte mal
verabschiedete saß sie im bett
die laken waren weiß dufteten frisch

sie lächelte als ich ins zimmer trat
gab mir die hand wie sonst niemals
sieh sie dir an sagte ich und schob
meine tochter näher ans bett
sie fasste nach der hand des kindes
fuhr mit dem zeigefinger 
die konturen ab
dabei sah sie mich an 
die augen lächelten immer noch du 
weißt doch wer ich bin fragte ich zaghaft 
freilich weiß ich ihre worte knisterten
ich wagte nicht 
daran zu rühren schließlich ging ich 

auf der schwelle rief sie kind komm zurück 
es ließ meine hand los
kehrte um und schloss die tür
bist zurück nach so vielen jahren
hörte ich drinnen ihre klare stimme

 

Am tisch

für Sedmica, die gruppe

unterkunft gesucht 
angeboten die behausung der unbehausten
ohne floskel ohne protokoll
mit einer umarmung ohne hervorkehr 
des fremden selber fremd
unter der uhr mit dem doppelschlag
am bahnhof hinter dem vogelaugenahorn
beäugt und beargwöhnt 
auf dem vorplatz neben den sträuchern

nie dufteten giersch und mädesüß 
derart aus dem erinnern 
wie am tische jener die ihre heller
zusammenlegten für das willkommen

 

Coverbild_poesiealbum

Leseprobe aus:

Róža Domašcyna
Poesiealbum 354
5 Euro
ISSN 1865-5874
Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 
Auslieferung erst ab 1.6.2020

 

Was tun

derweil sie von angriff und verteidigung reden
solltest du etwas nützliches tun
sie haben die sachen schließlich nicht umsonst produziert
und auch du hast noch eine menge zu tun
derweil sie von der verteidigung als angriff reden
solltest du zum beispiel die astern hochbinden
derweil sie vom angriff als verteidigung reden
solltest du die wasserrinne bis zum sickerloch verlängern
und kröten über die straße tragen

du sollst kröten über die straße tragen