Fast zehn Jahre sind nach der Selbstenttarnung des rechten Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“ vergangen. Zeit, Bilanz zu ziehen: In welchem gesellschaftlichen Kontext konnte der NSU entstehen? Wie ist das Urteil im Strafprozess einzuordnen? Wo stehen wir heute bezüglich der Forderungen der Angehörigen der Opfer und was haben wir aus dem NSU-Komplex gelernt? Die Autor:innen sind Teil des Bündnisses “Tribunal NSU-Komplex auflösen!”.
Am 4. November 2011 brannte im Zwickauer Stadtteil Weißenborn in der Frühlingsstraße 26 ein Haus nieder. Zuletzt lebten hier drei Menschen, die sich als „Nationalsozialistischer Untergrund“ bezeichneten, die zehn Menschen ermordeten und drei Sprengstoffanschläge durchführten. Es war der Tag ihrer sogenannten Selbstenttarnung.
Am ersten Novemberwochenende 2019, acht Jahre später, standen wir an eben diesem Ort. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen und Organisationen veranstalteten wir in den Tagen zuvor das NSU-Tribunal in Chemnitz. Ein fulminantes Event, das mutig und vielstimmig verkündete „der Osten war, ist und bleibt migrantisch!“(1). Nach zwei Tagen Veranstaltungen und Austausch mit Zeitzeug:innen, Menschen aus Initiativen und hunderten Gästen, fuhren wir nach Zwickau, um uns am ehemaligen Wohnort des NSU-Trios in aller Stärke zu zeigen und für ein würdevolles Gedenken einzustehen.
Das Haus, in dem das NSU-Trio Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos wohnte, wurde bereits 2012 abgerissen. Über allem lag eine bedrückende Stille, in der unsere Redebeiträge zu verhallen schienen. Vielen von uns kamen die Tränen. Es war die brutale Normalität des Ortes, die ordentlichen Gärten, die sauber geschnittenen Hecken in der Frühlingsstraße Ecke Veilchenweg, die scheinbare Friedlichkeit, die uns berührte. Nichts erinnerte an die grausamen Taten. Nichts erinnerte an die Menschen, deren Leben genommen und Familien diffamiert und alleingelassen wurden.
Auch heute noch schmerzen die Gedanken an jenen Tag. Nach einem umstrittenen Urteil des Oberlandesgerichts München kamen die meisten der wenigen im NSU-Prozess Angeklagten mit geringen Haftstrafen davon und sind teilweise heute noch auf freiem Fuß. Der Bericht des hessischen Verfassungsschutzes, der Aufklärung bezüglich der Verflechtung des NSU mit deutschen Behörden und Institutionen liefern könnte, bleibt bis 2044 unter Verschluss. Von behördlicher Seite wird weiterhin an der unhaltbaren These festgehalten, es habe sich beim NSU nicht um ein Netzwerk, sondern um ein Trio gehandelt.
Die rassistischen Ermittlungen gegen die Familien der Opfer und die de facto Unterstützung der rechten Szene durch die Verfassungsschutzämter bleibt weitgehend ohne Konsequenzen. Kurz, den Betroffenen der rechten Terroranschläge, den Menschen um Enver Șimșek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Yașar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaṣık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter, den Menschen aus der Keupstraße und der Familie in der Probsteigasse in Köln widerfuhr keine Gerechtigkeit.
Trio-Thesen-Unsinn – Vom Rassismus, der den NSU ermöglichte
Die Taten des NSU fanden nicht in einem Vakuum statt, sie können nur im Zusammenhang mit einer Kontinuität rassistischer und antisemitischer Gewalt verstanden werden. Auf die Wende 1989/90 blickend erinnerte sich die Afro-Deutsche Poetin May Ayim an ein Gespräch unmittelbar nach dem Mauerfall: „Ich erinnere mich, dass ich an der U-Bahn stand, der ganze Bahnsteig war voll von Leuten und ein türkischer Mann sprach mich an und hat gesagt: Jetzt wird’s schlimmer für uns.“(2)
Er sollte recht behalten. In beißenden, präzisen Worten beschreibt Peggy Piesche, Schwarze Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, die Stimmung der 90er Jahre: „Da wurde aus ,Wir sind das Volk‘ ,Wir sind ein Volk‘ und ,Deutschland den Deutschen‘, ,Ausländer raus‘ und das ging sehr schnell.“(3) Den Parolen folgten schon bald Taten. Sie richteten sich gegen Geflüchtete, Migrant:innen, Jüd:innen, Obdachlose, Schwule, Linke. Allein in den Jahren von 1990 bis 1993 wurden 60 Menschen durch rechte Gewalt getötet.
Rechte Terrorgruppen wie das „Nationale Einsatzkommando“, die „Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ oder die „Bajuwarische Befreiungsarmee“ gründeten sich, legten umfangreiche Waffenarsenale an, verübten Brand- und Bombenanschläge und Morde. Die deutschen Sicherheitsbehörden setzten zur Bekämpfung von Neonazis auf eine V-Personen-Strategie. Sie gaben ausgewählten Kamerad:innen Geld für Informationen.
Dies führte faktisch zu einer finanziellen Unterstützung der rechten Szene, obwohl das Bundeskriminalamt bereits 1997 vor einem „Brandstifter-Effekt“ warnte. In einem internen Positionspapier hieß es: „Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu größeren Aktionen anstacheln. Somit erscheint es fraglich, ob bestimmte Aktionen ohne die innovativen Aktivitäten dieser Quellen überhaupt in der späteren Form stattgefunden hätten!“(4)
Bekanntheit erlangten die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen 1992. Im selben Jahr starben in Mölln Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz sowie ihre Großmutter Bahide Arslan. Neonazis warfen Brandsätze auf ihr Haus. Im Mai 1993 kam bei einem Brandanschlag in Solingen Saime Genç (4), Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12) und Hülya Genç (9) ums Leben. Drei Tage zuvor änderte die Regierungskoalition der CDU/CSU und FDP mit Unterstützung der SPD das Grundgesetz. Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" wurde zwar nicht vollends gestrichen, allerdings um Ausführungen ergänzt, die das Asylrecht erheblich einschränkten.
In diesem gesellschaftlichen Klima gründete sich 1996 der „Thüringer Heimatschutz“, ein Zusammenschluss von neonazistischen „Freien Kameradschaften“. Dort fand auch der NSU, der sich selbst in einem Bekennervideo als „Netzwerk von Kameraden“ bezeichnete, zusammen. Die drei bekanntesten Gesichter des NSU lernten sich in einem Jugendclub in Jena kennen, der aus Mitteln des „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“ finanziert wurde und akzeptierende Jugendsozialarbeit mit neonazistisch orientierten Jugendlichen betrieb.
Sie waren in den 1990ern gut in der rechten Szene vernetzt und wurden von einem weitreichenden Netzwerk unterstützt. Zwischen 2000 und 2007 tötete der NSU neun migrantisierte Personen und eine Polizistin. 1999, 2001 und 2004 verübten sie Bombenanschläge in migrantisch geprägten Vierteln.
Nach der Selbstenttarnung des NSU wurde von den Ermittlungsbehörden die Trio-These etabliert. Diese stellt wider besseren Wissens den NSU als ein autonomes, isoliertes, in einem Vakuum handelndes Trio dar, das seine Entscheidungen alleine traf. Kaum Erwähnung findet hingegen das Unterstützer:innen-Netzwerk: Menschen, die dem Trio Waffen organisierten, Wohnungen anmieteten, Papiere besorgten, Geld sammelten und die Lebensräume der Opfer auskundschafteten.
Betrachten wir den gesamten NSU-Komplex, so müssen wir unsere Perspektive weiten. Wir müssen das Netzwerk der unterstützenden Nazis in den Blick nehmen. Wir müssen die Verstrickungen und die Verantwortung des Verfassungsschutzes in den Blick nehmen. Wir müssen die rassistischen Ermittlungen in den Blick nehmen, die die betroffenen Familien kriminalisierten, aber auch die rassistische Berichterstattung über die Taten. Der NSU-Komplex ist ein Kristallisationspunkt strukturellen Rassismus in Deutschland. Die Trio-These macht diese Dimension unsichtbar.
Kein 10. Opfer und die Bombe nach der Bombe
Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel ermordet. Er war das letzte Opfer der Mordserie des NSU und wurde 21 Jahre alt. Als der Mord geschah, befanden sich fünf Personen im Geschäft der Familie Yozgat. Vier von ihnen stellten sich als Zeugen zur Verfügung. Nach zwei Wochen Fahndung wurde die fünfte Person gefunden, festgenommen und als Beamter des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme identifiziert. Die Staatsanwaltschaft ging von einer geringen Verdachtsstufe aus, weswegen Temme nach 24 Stunden wieder freigelassen wurde. Einen Monat später organisierten die Angehörigen von Halit Yozgat gemeinsam mit Freund:innen in Kassel einen Schweigemarsch mit der Forderung: „Kein 10. Opfer!“.
Begleitet wurden sie von den Angehörigen von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık sowie ca. 4.000 Menschen vor allem aus migrantischen Communities. Die Familie Kubaşık organisierte im Juni 2006 in Dortmund ebenso einen Schweigemarsch. Die Teilnehmer:innen vermuteten ein rassistisches Motiv der Taten und forderten die Politik auf, die Mordserie zu stoppen. Ihre Kritik richtete sich zum einen an die Ermittlungsbehörden. Diese suchten die Täter beinahe ausschließlich im Umfeld der Opfer, rückten sie in die Nähe organisierter Kriminalität, unterstellten ihnen Verbindungen zum PKK-Milieu oder fabulierten von Ehrenmorden.
Die Angehörigen wurden unter Druck gesetzt, es wurden rassistische Profile erstellt sowie Diffamierungen und Einschüchterungsversuche gestartet. Enver Şimşeks Tochter Semiya Şimşek schreibt in ihrem Buch Schmerzliche Heimat: „Dann setzte die Polizei ein psychisches Druckmittel ein. Irgendwann erzählten sie uns, dass mein Vater noch eine zweite Familie gehabt hätte. […] Sie zeigten meiner Mutter sogar Fotos: Schauen Sie, Ihr Mann war mit dieser Frau zusammen.
Auch diese bizarre Szene wiederholte sich, die Polizisten erzählten immer wieder, dass Vater andere Frauen hatte.“(5) In seiner Erklärung vor dem Oberlandesgericht München sagte Ismail Yozgat, Halits Vater: „Ich wusste, wer die Mörder meines Sohnes sind. Ich habe den Polizisten gesagt, dass die Mörder meines Sohnes Ausländerfeinde oder Türkenfeinde waren. Sie glaubten uns aber nicht.“(6)
Die Betroffenen klagten auch den Umstand an, dass die Medien bei der Suche nach einem Tatmotiv lange auf dem rechten Auge blind waren. Die Berichterstattung zeichnete sich durch eine Kriminalisierung der Familien der Opfer aus. Journalist:innen bezeichneten die Mordserie als „Döner-Morde“ in „kriminellen Ausländermilieus“. Die Täter-Opfer-Umkehr durch Medien und Ermittlungsbehörden re-traumatisierte die Betroffenen. In der Kölner Keupstraße sprechen die Menschen vom „Anschlag nach dem Anschlag“. Die Stigmatisierung hatte zudem gravierende Auswirkungen auf die materielle Situation der Betroffenen. Diese waren und sind meist selbständig tätig und verloren, da sie von den Medien immer wieder in die Nähe der Organisierten Kriminalität gerückt wurden, zahlreiche Kund:innen.
Im Unterschied zu Sicherheitsbehörden, Medien, Mehrheitsgesellschaft und auch zur antirassistischen Zivilgesellschaft wiesen die Betroffenen selbst von Anfang an auf Rassismus als Tatmotiv hin. Sie schlossen sich zusammen, forderten Zeug:innen auf, sich zu melden, wiesen auf die zahlreichen Täterspuren und den rechtsextremen Tathintergrund hin. Nach der Selbstenttarnung des NSU bestätigte sich ihre Perspektive auf die Mordserie.
Das Oberlandesgericht (OLG) München, vor dem der NSU-Strafprozess stattfand, stellte trotz zahlreicher Gegenbeweise und Aussagen der Betroffenen den NSU weiterhin als isoliertes Trio dar. Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden wurden nicht in die Verantwortung genommen. Ebenso wenig wurden Verästelungen mit der Nazi-Szene sowie der „Anschlag nach dem Anschlag“ durch Medien und Polizei thematisiert.(7)
Kein Schlussstrich – das Urteil im NSU-Prozess
„Das Urteil im NSU-Prozess ist niederschmetternd. Es ist wie eine direkte Aufforderung an Nazis, einfach weiterzumachen.“ – Tahir Della, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (8)
Am 11. Juli 2018 wurde vor dem Staatsschutzsenat des OLG München das Urteil im NSU-Prozess verkündet. Angeklagt waren lediglich fünf Personen: Beate Zschäpe, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben, Carsten Schulze und André Eminger. Das Urteil wurde nach 438 Verhandlungstagen und der Anhörung von knapp 600 Zeug:innen und Sachverständigen gefällt. Es löste Empörung, Enttäuschung und Wut aus. Die Anwält:innen der Nebenklage erklärten für ihre Mandant:innen: „Wir sind nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend über das Urteil.
Nicht nur, weil die Angeklagten Eminger und Wohlleben deutlich niedrigere Strafen erhalten haben, als es die Bundesanwaltschaft gefordert hatte. Viel schlimmer ist für die Nebenkläger:innen, dass das Urteil ein Schlussstrich sein will.“(9) Der Urteilsspruch wurde von ca. 10.000 Menschen in Deutschland und Österreich protestierend begleitet. Sie forderten unter dem Motto „Kein Schlussstrich“, dass die 2012 von Bundeskanzlerin Angela Merkel versprochene lückenlose Aufklärung konsequent umgesetzt wird.
Die Richter:innen des OLG München verurteilten Beate Zschäpe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, schwerer Brandstiftung und als Mittäterin der Morde und Sprengstoffanschläge des NSU zu lebenslanger Haft und stellten die besondere Schuld fest. Ihrem Antrag auf eine „heimatnahe Unterbringung“ in der Justizvollzugsanstalt Chemnitz und damit im Umfeld des Netzwerkes des NSU wurde stattgegeben.
Holger Gerlach, langjähriger Bekannter und Unterstützer von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, übergab ihnen unter anderem eine Waffe und verschaffte ihnen falsche Ausweispapiere. Er bekam für die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung drei Jahre Haft.
Ralf Wohlleben wurde zu zehn Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen schuldig gesprochen. Auch er war bereits in den 1990ern aktiv in dem Nazi-Kameradschaftsnetzwerk Thüringer Heimatschutz. Gemeinsam mit Carsten Schultze beschaffte er Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt die Tatwaffe für die Mordserie. Wenige Tage nach dem Urteilsspruch wurde Wohlleben aus der Untersuchungshaft entlassen. Es bestehe bei der Höhe der Reststrafe kein Fluchtanreiz mehr, so das Gericht. Umgeben von Nazi-Kameraden, die ihn als Held feiern, lebt Wohlleben mit seiner Familie seitdem in Bornitz in Sachsen-Anhalt.
Carsten Schultze legte als Einziger ein Geständnis ab. Er gab zu, die Mordwaffe übergeben zu haben. Zudem bestätigte er Wohllebens Tatbeteiligung. Der ehemalige Funktionär der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationalisten“ wurde zu drei Jahren Jugendstrafe wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen verurteilt, weil er zum Tatzeitpunkt noch heranwachsend war. Als einziger Angeklagter zeigte er glaubwürdig Reue.
André Emingers Strafmaß war am Tag der Urteilsverkündung besonders schockierend. Der Mann, der von seinen eigenen Anwälten als "Nationalsozialist mit Haut und Haaren" bezeichnet wurde und auf seinem Bauch die Worte „die Jew die“ – „stirb Jude stirb“ – tätowiert hat, wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Die Anklage forderte zehn. Er mietete Wohnmobile an, mit denen die Ausführenden unter anderem nach Köln fuhren, um den Bombenanschlag in der Probsteigasse zu verüben, beschaffte ihnen Bahncards und tarnte Zschäpe 2007 bei der Polizei als seine Frau. André Eminger wurde noch am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen. Die anwesenden Nazis applaudierten und jubelten.
Das Verfahren gegen den im Mord an Halit Yozgat verwickelten Verfassungsschützer Andreas Temme wurde eingestellt. Obwohl ein Gutachten der Londoner Forschungsgruppe Forensic Architecture seine Ausführungen widerlegte, zweifelte sie das Oberlandesgericht nicht an. Er lebt heute mit seiner Familie im hessischen Hofgeismar.
Sowohl die Verteidiger:innen der Angeklagten, als auch die Bundesanwaltschaft haben Revision eingelegt. Die Opfer der Taten des NSU und deren Angehörige zeigten sich enttäuscht. „Wir erkennen das Urteil nicht an. Es ist gegenstandslos und nichtig“(10) verkündete Ismail Yozgat auf einer Gedenkveranstaltung.
(K)ein Ende in Sicht
Viele Betroffene des NSU-Terrors erkannten das Urteil im NSU-Prozess nicht an, tausende Menschen forderten seither weiter Aufklärung. Im Zeitraum von der Selbstenttarnung 2011 bis zum Urteilsspruch gründeten sich zahlreiche Initiativen, die die Perspektiven und Forderungen der Betroffenen ins Zentrum rücken möchten. Die Initiative Herkesin Meydanı beispielsweise setzt sich für ein antirassistisches Mahnmal an der Keupstraße in Köln ein, das an die Bombenanschläge des NSU-Netzwerkes erinnert. Die Angehörigen von Halit Yozgat fordern gemeinsam mit der Initiative 6. April die Umbenennung der Holländischen Straße in Kassel in Halitstraße.
2014 entstand das von Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen gegründete „Bündnis NSU-Komplex auflösen!“. Das Bündnis organisierte 2017 das erste NSU-Tribunal unweit der Keupstraße in Köln. Das Tribunal verstand sich als zivilgesellschaftliche Alternative zum NSU-Prozess in München. Im Zentrum standen die Stimmen und Forderungen der Betroffenen. Sie wurden als Ausgangspunkt genommen, um eine umfangreiche Anklageschrift zu verfassen.
Darin fordert Yvonne Boulgarides, Witwe von Theodoros Boulgarides: „Es wird sich nichts ändern, solange die Personen, die für die Ermittlungsfehler bei den NSU-Morden verantwortlich sind, nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wir müssen den institutionellen Rassismus innerhalb der deutschen Behörden und vor allem innerhalb der Polizei bekämpfen. Wichtig ist auch, das Bewusstsein zu schärfen, für die Verbrechen, die vom NSU begangen wurden.“(11)
Als wir 2019 in Zwickau den ehemaligen Wohnort der Täter:innen verließen, war die Stimmung gedrückt. Doch die Stimmen der Betroffenen und der zahlreichen solidarischen Menschen auf vorangegangenen Veranstaltungen sind noch nicht verhallt. Sie kamen zusammen aus jüdischen, Schwarzen, migrantischen, antirassistischen und antifaschistischen Kämpfen, um gemeinsam für eine gerechte, antirassistische Gesellschaft einzustehen.
Auch wenn wir an jenem Tag Zwickau wieder verließen, so blieb die Stadt nicht leer. Die Gäste gingen. Es blieben die Migrant:innen, die für ein gutes Leben kämpfen, die Antirassist:innen, die für ein gerechtes Erinnern einstehen und die Antifaschist:innen, die sich den Nazis entgegenstellen. Der strukturelle Rassismus in Deutschland hat die NSU-Mordserie ermöglicht. Wenn wir ihn überwinden möchten, so ist unsere einzige Chance, diese Menschen und ihre Kämpfe miteinander zu verbinden.
Im Gedenken an Enver Șimșek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Yașar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaṣık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.
Literaturnachweise:
(1) Rassismus-Tribunal tagt in Sachsen: „Der Osten bleibt migrantisch“. Pressemitteilung des ADB Sachsen (22.10.2019). https://www.adb-sachsen.de/aktuelles/artikel/rassismus-tribunal-tagt-sa… (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).
(2) May Ayim: Hoffnung im Herz / Hope In My Heart / Esperança No Coração. Audre Lorde in Berlin. https://vimeo.com/ondemand/mayayim (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).
(3) Peşmen, Azadê. (06.11.2019). Nicht-weißer Blick auf die Wende - Das neue „Wir“ ohne uns. Deutschlandfunk Kultur. https://www.deutschlandfunkkultur.de/nicht-weisser-blick-auf-die-wende-… (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).
(4) Förster, A. (11.02.2018). Spitzel oder Anstifter? Der Freitag. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/spitzel-oder-anstifter (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).
(5) Simsek, S. & Schwarz, P. (2013). Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (1. Aufl.). Berlin: Rowohlt Berlin, S.96.
(6) Protokoll 93. Verhandlungstag – 13. März 2014. NSU Watch. https://www.nsu-watch.info/2014/03/protokoll-93-verhandlungstag-13-maer… (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).
(7) Für wissenschaftliche Perspektiven auf den NSU-Komplex vgl. auch: Juliane Karakayalı, Çagrı Kahveci, Doris Liebscher, Carl Melchers (Hg.) (2017): Den NSU-Komplex analysieren – Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Transcript Verlag.
(8) Aus einem für den vorliegenden Beitrag geführten Interview.
(9) Presseerklärung von Nebenklagevertreter*innen zum Ende des NSU-Verfahrens (11.07.2018). Nebenklage NSU-Prozess. https://www.nsu-nebenklage.de/blog/2018/07/11/11-07-2018-presseerklaeru… (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).
(10) Pflüger-Scherb, Ulrike (12.04.2019). Halit Yozgat: Gedenkveranstaltung für Kasseler NSU-Opfer. https://www.hna.de/kassel/halit-yozgat-gedenkveranstaltung-fuer-kassele… (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).
(11) Anklageschrift des Tribunals “NSU-Komplex auflösen”, 17.-21. Mai 2017 — Köln-Mülheim. http://www.nsu-tribunal.de/anklage/ (zuletzt aufgerufen am 19.01.2021).