Seit Wochen eskaliert die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze. Worüber wenig gesprochen wird: Die Menschen, die in der Sperrzone ausharren, frieren und hungern. Die Journalistin und Aktivistin Miriam Tödter berichtet von den menschenunwürdigen Zuständen im Grenzgebiet, in dem das Recht auf Asyl systematisch ausgehebelt wird.
800 Kilometer von Berlin entfernt ist ein kleines Kind erfroren. 800 Kilometer, das ist so weit wie von Berlin nach Freiburg. Die Eltern dieses kleinen Kindes dachten, dass sie einen sicheren Fluchtweg gefunden hätten, sicherer als mit einem wackeligen Schlauchboot über das Mittelmeer, sicherer als zu Fuß über die Balkanroute – so sicher, dass sie es mit ihrem kleinen Kind riskieren könnten. Und dann ist ihr Kind erfroren, in ihren Armen, in einem Wald in der Europäischen Union.
Seit Wochen richtet die Medienöffentlichkeit Europas ihren Fokus auf die Grenze zwischen Polen und Belarus. Die Titelseiten und Nachrichtensendungen sind voll davon, wir alle sehen und hören fast jeden Tag Berichte darüber, doch darin geht es nur selten um die schutzsuchenden Menschen, die im Wald gefangen sind, die dort hungern, dursten und immer mehr frieren – nein, sie sind erstaunlich abwesend in der Berichterstattung und im politischen Diskurs. Diese sind eher geprägt von Begriffen wie „Bedrohung“, „hybride Kriegsführung“, „Sicherheit“, „Grenzen schützen“, „Mauerbau“ und ähnlichem.
Vor neun Jahren hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten. In der Begründung hieß es: „Die EU und ihre Vorgänger haben über mehr als sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen." In der Sperrzone an der polnisch-belarussischen Grenze, im EU-Land Polen, sind seit fast drei Monaten Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte allerdings Fehlanzeige. Und das Schlimmste daran: Es geschieht nicht heimlich, sondern im hellen Licht der europäischen Öffentlichkeit.
Die meisten Notrufe kommen nachts
„Bald werden wir tote Kinder im Wald finden“, sagte die lokale Anwohnerin Mascha an der Sperrzone auf der polnischen Seite der Grenze, als ich vor vier Wochen zum ersten Mal dort war. Die Tage zuvor trafen wir uns mit möglichst vielen der freiwilligen Helfer:innen, die entlang der polnisch-belarussischen Grenze aktiv sind. Sie haben Häuser entlang der Grenze gemietet oder von solidarischen Menschen zur Verfügung gestellt bekommen, haben in Windeseile Strukturen und Netzwerke aufgebaut, untereinander und mit vielen engagierten Anwohner:innen vor Ort, und leisten Tag für Tag und vor allem Nacht für Nacht überlebenswichtige Nothilfe.
Diese „Intervention“ genannten Hilfseinsätze laufen mittlerweile nach festen, eingeübten Regeln, mit klarer Aufgabenverteilung in den kleinen Freiwilligenteams, die sich auf den Weg in den Urwald machen, um Menschen in Not zu unterstützen. Und es ist ein echter Urwald hier im polnischen Grenzgebiet, der letzte europäische Urwald, mit Bisons, Wölfen, und manchmal sogar Bären. Nachts im Dunkeln ist er schier undurchdringlich, und die meisten Notrufe kommen nachts. Denn die Menschen, die in diesem Urwald voller Sümpfe gestrandet sind, haben panische Angst vor der polnischen Polizei und der polnischen Armee, und das zu Recht. Also kann die meiste Hilfe nur im Schutz der Dunkelheit oder bestenfalls in der Dämmerung stattfinden.
Ein freiwilliger Helfer aus Warschau, der extra Urlaub genommen hat, um hier mit anpacken zu können, erzählte von seinen Ängsten, die ihn bis in die Träume verfolgen: „Jedes Mal, wenn ich in dieser absoluten Finsternis durch den Wald stolpere, fürchte ich, in eine Leiche zu treten. Diese Angst begleitet mich bei jedem Hilfseinsatz.“ Eine andere Helferin berichtete: „Diese Wälder hier sind voller Sümpfe, auch wir können uns da nicht sicher bewegen. Es sind Gruppen von Anwohner:innen, die Nacht für Nacht in diese Sumpfgebiete gehen, die Menschen retten, die im Schlamm feststecken und sie auf ihren Rücken in Sicherheit tragen.“
Mit diesen Gedanken im Kopf brachen wir also auf, als uns am nächsten Morgen um sieben die Nachricht weckte: „In einer halben Stunde fahren wir zu einer Intervention. Kommt ihr mit?“ So schnell wie möglich fuhren wir los, warm angezogen, denn hier im Osten Polens war es nachts schon empfindlich kalt. Mit unserem deutschen Kennzeichen durften wir auf keinen Fall in die Nähe des Hilfseinsatzes fahren, denn überall waren Straßenkontrollen der polnischen Polizei. Wir trafen uns also mit einem Aktivisten und fuhren in seinem Auto weiter in den Wald – und da sahen wir tatsächlich im Morgennebel einen Bison. Für einen kurzen Moment war ich abgelenkt von unserer eigentlichen Mission und nur noch bezaubert von dieser unerwarteten Begegnung. Doch dann kamen wir auch schon in einem schmalen Waldweg an, stiegen aus, schlossen möglichst leise die Autotüren. Der Rest des Teams war schon da, zwei Frauen und ein Mann, und berichteten von einer hohen Polizeipräsenz auf ihrer Fahrt. Kurze, geflüsterte letzte Anweisungen, die Rucksäcke voller Essen, Wasser, erster Hilfe, Schlafsäcke und warmer Kleidung wurden verteilt, ein paar Isomatten in die Hand und dann ging es auch schon los. Erst noch den Waldweg entlang und dann dem Google Maps Pin folgend durch das Unterholz.
Push-Backs sind die Regel, nicht die Ausnahme
Diesmal hatte das Team Glück, nach kurzer Zeit fanden wir die drei Männer, unter einen Baum gekauert haben sie die Nacht verbracht. Sie waren nass, kalt, hatten schon seit Tagen kein Trinkwasser mehr und ihre Füße waren in einem fürchterlichen Zustand. Besonders bei dem einen, der Diabetes hatte, nässten die großflächigen Wunden. Sie sind aus Syrien gekommen, aus einem Dorf in der Nähe von Damaskus. Einer von ihnen konnte gut Englisch und übersetzte. Trotz der Schmerzen beim Behandeln der Füße versuchte er immer wieder, uns aufzumuntern, Scherze zu machen. Nur als er von seiner Familie erzählte, da brach seine Stimme, er musste innehalten, konnte nicht weitersprechen. Er senkte den Kopf, um die Tränen zu verbergen. Zwei Kinder habe er, eine Tochter und einen kleinen Sohn, für sie mache er das doch alles. Doch nun hatte er Angst, in diesem Wald zu sterben und sie niemals wieder zu sehen.
Die drei Männer waren seit 15 Tagen in diesem tödlichen Niemandsland gefangen, drei Mal wurden sie bereits gewaltsam von polnischen Uniformierten gepushbackt. Neuerdings stahlen sie dabei sogar die Sim-Karten, sodass ihre Opfer nicht einmal mehr einen Notruf absetzen konnten. Auf der belarussischen Seite wurden sie jedes Mal gewaltsam von Uniformierten mit erhobenem Knüppel gezwungen, wieder zurück über die Grenze nach Polen zu gehen, obwohl sie nach dem dritten Pushback verzweifelt darum baten, wieder zurück nach Syrien zu dürfen. Lieber zurück nach Syrien, als hier im kalten nassen Wald zu sterben …
Die Bilder und das Gespräch mit den Dreien begleiten mich noch immer, der überschwängliche Dank für so Weniges und das eigene Gefühl, noch lange nicht genug zu tun. Denn die Menschen, die seit Wochen, teilweise seit Monaten im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen gefangen sind, hungern, dursten und frieren auch weiter. Für sie gibt es kein Vor und Zurück, sie sind völlig isoliert in einer Sperrzone, zu der nach wie vor weder Helfer:innen noch Journalist:innen Zugang erhalten. Was dort passiert ist entmenschlichend und gegen jedes Recht: Deutsches und europäisches Asylrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Anti-Folter-Konvention, sie alle werden tagtäglich und systematisch gebrochen. Seitdem sich Lukaschenko von Erdoğan abgeschaut hat, dass sich die Europäische Union doch ganz gut unter Druck setzen lässt durch ihre menschenverachtende Abschottungspolitik, gibt es ein Ping-Pong Spiel zwischen Belarus und Polen. Flüchtende werden vor und zurück geprügelt, Verletzungen sind an der Tagesordnung. Die grausamen Berichte auf beiden Seiten der Grenzen häufen sich, eine schwangere Frau soll über den Grenzzaun zurückgeworfen worden sein und ihr Kind dabei verloren haben. Schnittwunden im Gesicht, Hunde werden auf Menschen auf der Flucht gehetzt. Völkerrechtswidrige Push-Backs der polnischen Polizei sind die Regel, nicht die Ausnahme, wenn schutzsuchende Menschen von ihnen gefunden werden. Ein polnischer Aktivist sagte mir einen für uns völlig überraschenden Satz: „Wir wünschen uns hier Frontex, die unterliegen wenigstens noch einem Hauch von Kontrolle und Regeln“.
Wir brauchen politische Lösungen
Daher kann eine wirkliche Veränderung, Verbesserung der Situation für die schutzsuchenden Menschen nur durch eine politische Lösung erfolgen. Doch dafür scheint es in Europa und auch hier bei uns in Deutschland wenig Bereitschaft zu geben. Im Gegenteil, der Diskurs verschärft sich eher mit Aussagen wie der des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer (CDU), dass die Gesellschaft die Bilder notleidender Menschen an der Grenze „aushalten“ müsse.
Wir sind erneut im polnischen Grenzgebiet, die Situation dort hat sich verschärft, ist angespannter geworden. So ähnlich muss es sein, unter feindlicher Besatzung zu leben. Noch immer sollen Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen im mittlerweile verschneiten Urwald ausharren, darunter auch viele Familien mit Kindern. "Danke dass ihr an uns denkt, und uns in dieser Situation nicht alleine lasst - es ist sehr wichtig für uns!", bedankt sich die Anwohnerin Basia in einem kleinen Dorf direkt an der Sperrzone bei uns für die Unterstützung und fährt fort: "Meine Großmutter erzählte mir, dass in unserem Dorf im Krieg zwei Personen von 100 Einwohner:innen jüdische Menschen hier versteckt haben. Nur zwei von 100! Dem fühlen wir uns verpflichtet." Wem aber fühlen wir uns verpflichtet, wir, die deutsche Zivilgesellschaft, die deutsche Politik?
Als vor wenigen Tagen die Prophezeiung der polnischen Frau Marta aus der Sperrzone wahr wird, und Helfer:innen das erste tote Kind aus dem Wald bergen, erschallt kein Aufschrei in den europäischen Medien, keine vielstimmige Anklage aus der deutschen Zivilgesellschaft. Auch die Protagonist:innen der neuen Ampelkoalition, in die gerade auch in Bezug auf eine menschlichere Asyl- und Migrationspolitik viele Menschen Hoffnungen gesetzt hatte, fallen vor allem durch ihr dröhnendes Schweigen auf. Martin Luther King sagte „Unsere Generation wird eines Tages nicht nur die bösen Taten der schlechten Menschen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der guten.“ Was wäre furchtbarer als das Schweigen, wenn Kinder 800 Kilometer von unserer Hauptstadt entfernt erfrieren, weil wir uns weigern, sie aufzunehmen?