Die Ampel-Parteien haben einen Paradigmenwechsel in der Migrations-, Flüchtlings- und Integrationspolitik hin zu einem „modernen Einwanderungsland“ angekündigt. Ob die im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen und Änderungen für diese Bewertung ausreichen, analysiert der Journalist Christian Jakob.
In Koalitionsverträgen schlägt man gemeinhin einen Ton an, in dem sich möglichst viele wiederfinden sollen und der im besten Fall noch Aufbruchstimmung verbreitet. Da sprach es Bände, was 2018, im letzten Koalitionsvertrag von Union und SPD, zum Thema Zuwanderung stand: „Deswegen setzen wir unsere Anstrengungen fort, die Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa angemessen mit Blick auf die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu steuern und zu begrenzen, damit sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt.“
Im Klartext hieß das: Die Deutschen wollen keine Migranten mehr und wir sorgen dafür, dass auch keine mehr kommen. Die Handschrift der Union war unverkennbar, getrieben von einem über Jahrzehnte verhärteten Blick auf Migration als eine Art politischer Unfall: Migrationspolitik hatte Migrationsverhinderungspolitik zu sein – wenn doch jemand kommt, ist etwas schiefgelaufen und musste korrigiert werden. Nach dieser Maxime handelten konservative Innenpolitiker, die von der „Kein Einwanderungsland“-Lebenslüge der alten Bundesrepublik nicht loszukommen vermochten, über lange Zeit.
Es kommt auf die rechtliche Ausgestaltung an
Wie ist es heute? Im Ampel-Koalitionspapier von 2021 ist die Rede von einem „Paradigmenwechsel“, einem „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“, für ein – ein Begriff mit kaum zu überschätzendem Symbolgehalt – „modernes Einwanderungsland“.
Für den Unions-Fraktionschef Ralf Brinkhaus war klar: Der Koalitionsvertrag sei beim Thema Migration „sicherlich ganz, ganz, ganz weit links“. Ein Regierungsbündnis mit Beteiligung der CDU – hätte „sicherlich nicht diese brutale Offenheit im Bereich Migration gehabt“, sagte er. Auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán befand, die Ampel strebe „weg von Kohls Europa der Vaterländer hin zu einer migrations- und genderfreundlichen“ Politik.
Tatsächlich ist nicht gesagt, wie „modern“, „migrationsfreundlich“ oder gar „brutal offen“ das Einwanderungsland Deutschland in vier Jahren genau sein wird. Fünf Seiten umfasst das Kapitel zu Migration im Ampel-Koalitionsvertrag. Viele Verbesserungen sind darin angekündigt. Doch praktisch hängen die meisten dieser Reformen stark von der konkreten rechtlichen Ausgestaltung ab.
Und einiges, was der Koalitionsvertrag vorsieht – etwa der Frontex-Ausbau, eine „Rückführungsoffensive“ oder ein Sonderbevollmächtigter für Migrationsabkommen, die die „Zusammenarbeit bei der Rückkehr abgelehnter Asylsuchender“ erleichtern sollen – hätte bei einem Jamaika-Bündnis auch nicht anders geklungen. Wie auch nicht? Jana Hensel von der Zeit merkte zu den Reaktionen auf den Koalitionsvertrag treffend an, viele Journalist:innen schienen „völlig überrascht, dass die Grünen nicht allein regieren“.
Seenotrettung und „sichere Orte“
Eins der Themen, dass die Zivilgesellschaft seit Jahren besonders umtreibt, ist die Seenotrettung im Mittelmeer. Die Ampel strebt eine „staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer an“ – das ist seit Jahren die wichtigste Forderungder einschlägigen NGOs wie Sea Watch. Zu deren Arbeit heißt es im Koalitionsvertrag, sie dürfe „nicht behindert“ werden. Genau das geschieht vor allem seit 2017 ständig – von der Festsetzung der Schiffe bis hin zu absurden Anklagen. Die alte Bundesregierung schwieg dazu meist.
Doch ob nun von NGOs oder staatlichen Akteuren gerettet – die Frage bleibt, wohin die Menschen gebracht werden sollen. An „sichere Orte“ heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Ein Weg dazu soll sein, den „Malta-Mechanismus“, ein von Seehofer angestoßenes System zur Verteilung geretteter Schiffbrüchiger, „weiterzuentwickeln“. Dieser Mechanismus krankte seit Beginn daran, dass kaum ein Land – Deutschland eingeschlossen – tatsächlich viele Menschen aus den Anrainerstaaten einreisen ließ und diese auf denen „sitzenblieben“.
Das war auch der Grund, weshalb diese Länder die NGO-Schiffe nach Kräften blockierten und Helfer:innen verfolgten. Der einzig realistische Weg, dies zu ändern, wäre, den Mittelmeer-Staaten Gerettete in nennenswerter Zahl abzunehmen. Von einem „geordneten Relocation-Programm“ ist dazu im Koalitionsvertrag die Rede, also einem innereuropäischen Umverteilungsmechanismus. Konkrete Aussagen dazu allerdings fehlen.
Denkbar ist indes, dass eine Hintertür offenbleibt. Viele EU-Staaten haben als „sichere Orte“ für gerettete Flüchtlinge vor allem halbwegs stabile EU-Nachbarstaaten wie Tunesien oder Albanien im Blick. Doch erstens wollen diese davon – bislang – nichts wissen. Und zweitens würde dies für die allermeisten Flüchtlinge bedeuten, erstmal dort festzusitzen. So stellt sich die Frage, was es heißt, wenn die Ampel prüfen will, ob die „Feststellung des Schutzstatus in Ausnahmefällen“ in Drittstaaten möglich ist. Theoretisch lässt die Formulierung das zu, was konservativen Innenminister:innen seit Jahren vorschwebt: Exterritoriale Asyl-Verfahrenslager außerhalb der EU. Ebenso aber ließe sich darunter verstehen, dass etwa der UNHCR Menschen in Konfliktregionen für die Teilnahme am Resettlement-Umsiedlungsprogramm auswählt. Das Resettlement-Engagement Deutschlands will die Ampel verstärken. Auch hier gilt also: Die Ausgestaltung wird entscheiden.
Arbeitsmigration und Entwicklungszusammenarbeit
Um irreguläre Arbeitsmigration einzudämmen, will die Ampel mit wichtigen Herkunftsländern Pakete aus mehr Entwicklungshilfe zur Jobschaffung vor Ort, Qualifizierungsmaßnahmen und Visa-Erleichterungen für Auswanderungswillige, Projekte zur Integration Abgeschobener und der Kooperation bei Abschiebungen abschließen. Das entspricht exakt der Linie des Ex-CSU-Entwicklungsministers Gerd Müller. Allerdings gestatte Seehofer diesem nie, nennenswerte Visa-Erleichterungen zuzusagen – und drohte stattdessen „unkooperativen Staaten“ mit der Kürzung von Entwicklungshilfe. Das, so verspricht die Ampel, soll es mit ihr nicht geben: „Der Abschluss möglicher Abkommen wird nicht von finanzieller Unterstützung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit abhängig gemacht.“ Tatsächlich gekürzt wurde bisher noch keinem „unkooperativen“ Staat die Hilfe. Allerdings gibt es seit 2016 eine zunehmende Konzentration der europäischen Hilfen auf Schlüsselstaaten des Migrationsmanagements. Mittelfristig dürfte das zu Einbußen bei der Hilfe für andere Regionen führen.
Spurwechsel für abgelehnte Asylsuchende und Geduldete?
In dem im Oktober vorgelegten Sondierungspapier der Ampel-Parteien stand: „Wir wollen einen Spurwechsel ermöglichen und die Integrationsmöglichkeiten verbessern.“ Mit „Spurwechsel“ ist die – bis jetzt so kaum existierende – Möglichkeit für abgelehnte Asylsuchende gemeint, einen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit zu beantragen.
Die sogenannte Gesamtschutzquote für Asylbewerber:innen lag 2021 bis November in Deutschland bei 39,2 Prozent. Das bedeutet: Von den rund 115.000 Asyl-Erstanträgen werden rund 70.000 abgelehnt. Die Menschen dürfen nicht bleiben, viele aber können auch nicht abgeschoben werden. Unter der bisher geltenden Rechtslage würde ein großer Teil von ihnen als Geduldete in Deutschland leben – in einem Zustand der Perspektivlosigkeit und des Unvermögens, die eigene Zukunft zu planen. Ende 2020 waren rund 281.143 Ausländer:innen in Deutschland ausreisepflichtig, davon rund 236.000 geduldet. Eine echte „Spurwechsel“-Regelung könnte also Hunderttausenden eine neue Lebensperspektive geben. Sie würde das Etikett „Paradigmenwechsel“ verdienen.
Hinzu kommt: Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus. Das Land müsse 400.000 Zuwanderer pro Jahr ins Land holen, sagte kürzlich der Bundesagentur-Chef Detlef Scheele. „Man kann sich hinstellen und sagen: Wir möchten keine Ausländer. Aber das funktioniert nicht.“
Als der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde, vermeldete die Grüne Bundestagsfraktion, nun würden „Einbürgerungen erleichtert und der Spurwechsel ermöglicht.“ Allerdings: Das Wort „Spurwechsel“ findet sich – anders als im Sondierungspapier – im Vertrag gar nicht. Die FDP hatte offenbar eine generelle Zugangsmöglichkeit zur Aufenthaltserlaubnis für gering Qualifizierte abgelehnte Asylsuchende blockiert.
Wie bei der SPD zu hören war, mache die Summe neuer Regelungen im Koalitionsvertrag dennoch für viele einen Spurwechsel möglich. Ähnlich äußerten sich auch Grüne Abgeordnete. Stimmt das?
Das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ für Geduldete
Langjährig Geduldete sollen ein „Chancen-Aufenthaltsrecht“ bekommen. Wer am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland lebt, nicht straffällig geworden ist und sich zum Grundgesetz bekennt, soll eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe bekommen. In dieser Zeit muss die Person sich um Job oder Ausbildung kümmern sowie einen Identitätsnachweis beschaffen.
Der fehlende Identitätsnachweis hatte in der Vergangenheit viele Menschen von stichtagsabhängigen Bleiberechtsregelungen ausgeschlossen. Eine der Ursachen dafür war, dass die Botschaft des Herkunftsstaats keine Identitätsnachweise ausstellt oder dass die Menschen den Gang zu den Botschaften scheuten. Dafür kann es gute Gründe geben – etwa Angst vor Nachteilen für Angehörige im Herkunftsland. Konservative Innenpolitiker stellten die „mangelnde Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung“ trotzdem immer wieder auf eine moralische Stufe mit schweren Straftaten – und schlossen so diese Gruppe von der Aufenthaltsverfestigung aus. Das hat nun möglicherweise ein Ende: Künftig soll eine „Versicherung an Eides statt“ abgegeben werden können.
Allerdings werden vom „Chancen-Aufenthaltsrecht“ nur jene erfasst, die schon 2016 im Land waren. Was ist mit denen, die später kamen und kommen werden? „Gut integrierte Jugendliche sollen nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland und bis zum 27. Lebensjahr die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen. (...) Besondere Integrationsleistungen von Geduldeten würdigen wir, indem wir nach sechs bzw. vier Jahren bei Familien ein Bleiberecht eröffnen“, heißt es dazu weiter im Koalitionsvertrag.
Nach einer Asyl-Ablehnung gibt es also erst einmal eine Lücke von bis zu sechs Jahren. Die Menschen bleiben in dieser Zeit geduldet, müssen mit Abschiebung rechnen – und sollen sich trotzdem gleichzeitig integrieren. Dazu soll immerhin die Beschäftigungsduldung entfristet und die „Anforderungen realistisch und praxistauglicher“ gefasst werden. Bislang war die Befristung eine der größten Schwierigkeiten für Geduldete auf Jobsuche. Grundsätzlich aber bleibt es dabei, dass das Erbringen von „Integrationsleistungen“, wirtschaftlich wie sozial, für Geduldete oft sehr schwer ist. Eben daraus drehten Innenminister ihnen in der Vergangenheit immer wieder einen Strick: Entrechtet wie sie waren, vermochten sie kaum, sich zu integrieren. Einen festen Aufenthalt verweigerte man ihnen eben deshalb.
Zu den „Integrationsleistungen“ zählt gemeinhin auch der Schulbesuch der Kinder. Der ist staatlicherseits aber keineswegs immer vorgesehen: Zehntausende geflüchtete Kinder und Jugendliche besuchen keine regulären Schulen. Nach einer – nicht mehr ganz aktuellen – Bestandsaufnahme der Landesflüchtlingsräte über den Bildungszugang für geflüchtete Kinder und Jugendliche werden diese vor allem in Erstaufnahmeeinrichtungen monatelang systematisch vom Regelschulbesuch ausgeschlossen. In vielen Bundesländern werden Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ langfristig oder dauerhaft in Aufnahmeeinrichtungen untergebracht. Kinder erhalten dort nur „Ersatzunterricht“ für wenige Stunden am Tag – einen Verstoß gegen das Recht auf Bildung. Die Ampel verspricht „schulnahe Angebote“, kurz nach der Ankunft in Deutschland. Der Begriff ist dehnbar. Warum nicht gleich regulärer Schulbesuch vorgesehen wird, bleibt unklar.
Das Erbe der Union
Die Union ist von all dem wenig angetan: Fraktionschef Ralf Brinkhaus sieht im Koalitionsvertrag einen „Spurwechsel, der da also wirklich aus jeder Pore raustrieft“. Er habe „ganz, ganz große Sorge, dass das ein Pull-Faktor für ganz, ganz viel illegale Migration sein wird.“ Es ist die uralte, konservative Platte von der „Einladung an die ganze Welt“, die ein liberaleres Migrationsrecht darstellen würde. Eine andere Platte, so scheint es, hat die Union zu dem Thema nicht. Es ist zweifellos gut, dass man sie jetzt nicht mehr anhören muss.
Vom Ex-Innenminister Horst Seehofer (CSU) wird vieles in unguter Erinnerung bleiben. 2011 kündigte er an, sich „bis zur letzten Patrone“ dagegen wehren zu wollen, dass wir „eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen“. Später nannte er dann Migration die „Mutter aller Probleme“ und ersann einen „Masterplan Migration“ – eine Sammlung von 62 flüchtlingsfeindlichen, teils wohl illegalen Maßnahmen („Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise“).
Zu den folgenreichsten Elementen des „Masterplans“ zählen die so genannten „Anker“-Zentren. Diese ab 2018 errichteten Abschiebelager setzen darauf, Ankommende möglichst lange zu isolieren. Die Insass:innen dürfen neun Monate lang nicht arbeiten und haben nur eingeschränkten Zugang zu Bildungsangeboten. Schon 2019 stellten die „Ärzte der Welt“ fest, der Mangel an Privatsphäre und Schlaf sowie Angst vor gewalttätigen Übergriffen in den Zentren machten „gesunde Menschen krank und psychisch Kranke noch kränker". 2021 zogen Dutzende Sozialverbände und NGOs eine düstere Bilanz der Anker-Zentren und forderten deren Schließung: Sie führten zu Entrechtung und Ausgrenzung, die Insass:innen verloren wertvolle Zeit für ihr Ankommen, die Unterbringung erschwerte die juristische Beratung.
Keine Anker-Zentren mit der Ampel
„Das Konzept der AnkER-Zentren wird von der Bundesregierung nicht weiterverfolgt,“ verspricht nun die Ampel. Offen bleibt, was stattdessen kommt. Die Sozialverbände forderten in ihrem Aufruf „Isolation beenden“ jedenfalls: „Die Pflicht zur Wohnsitznahme in einer Erstaufnahmeeinrichtung muss spätestens nach 3 Monaten enden. Es braucht Erstaufnahmeeinrichtungen, die das Ankommen der Menschen in den Mittelpunkt stellen und sie bestmöglich auf das Asylverfahren und den Aufenthalt in Deutschland vorbereiten“.
Weniger bekannt als die „Anker“-Zentren, aber auch Teil des „Masterplan Migration“, war die 2019 im so genannten „Geordnete Rückkehr“-Gesetz eingeführte „unabhängige staatliche Asylverfahrensberatung“ durch das BAMF. Das klingt gut, war es aber nicht. Sie zielte darauf ab, eben jene Behörde, die über Asylanträge befindet, auch die Beratung der Antragsteller:innen übernehmen zu lassen. Das ist exakt das Gegenteil von „unabhängig“. Bundesländer wie Berlin, die diese Beratung lieber in Händen wirklich unabhängiger Träger sehen, müssen dafür seither aus eigener Tasche bezahlen. Die Ampel will nun „flächendeckende, behördenunabhängige Asylverfahrensberatung“ garantieren. Vulnerable Gruppen sollen von Anfang an identifiziert und besonders unterstützt werden. Für freie Beratungsstellen ist das ebenso wie für Antragstellende eine gute Nachricht.
Das gilt auch für die Ankündigung, die von Seehofer eingeführten regelmäßigen Asyl-Prüfverfahren wieder abzuschaffen. Die Widerrufsprüfung soll nur noch „anlassbezogen“ erfolgen. Für viele Betroffene war die potentiell immer drohende Möglichkeit eines Asyl-Entzugs eine enorme psychische Belastung. Dass die Widerrufsprüfung nicht mehr die Regel sein soll, wird sie freuen. Welche „Anlässe“ künftig eine Prüfung auslösen sollen, bleibt offen.
Ehegattennachzug, Familienzusammenführung und Grundversorgung
Zu den besonderen Gemeinheiten des Ausländerrechts, die nicht Seehofer anzulasten sind, zählt die bereits 2007 eingeführte Pflicht für Menschen, die aus den meisten Nicht-EU-Staaten zu ihren Ehegatten nach Deutschland ziehen möchten, nachzuweisen, dass sie sich auf „einfache Art“ auf Deutsch verständigen können. Doch in vielen Gegenden der Welt ist kaum möglich, Deutsch zu lernen. Das Recht auf Familie wurde so verletzt, auch wenn 2015 eine Härtefallregelung eingeführt wurde. Künftig sollen nachziehende Personen den erforderlichen Sprachnachweis auch nach Ankunft erbringen können.
Angekündigt sind auch Erleichterungen bei der Familienzusammenführung Geflüchteter. Diese wurden unter Seehofer massenhaft blockiert, was für die Betroffenen oft eine kaum zu ermessende psychische Härte war. Darauf hat vor allem die Initiative „Familienleben für alle“ immer wieder eindrücklich hingewiesen.
Auf die Zeit des Asylkompromisses von 1992 geht das Asylbewerberleistungsgesetz zurück. In seiner ursprünglichen Fassung schuf es eine fundamentale Ungleichbehandlung von Asylsuchenden bei der Grundversorgung. Nach Protesten und Gerichtsurteilen wurde es bis 2021 mehrfach entschärft bzw. Leistungen heraufgesetzt. Eine Abschaffung oder eine Angleichung mit den Leistungen nach Hartz IV – wie sie während der Koalitionsverhandlungen offenbar angedacht war – ist nun aber erstmal nicht ausgemacht. Die Ampel will das Gesetz „im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterentwickeln“. Das kann vieles heißen.
Etwas konkreter ist die Ankündigung, die Meldepflichten von Papierlosen zu „überarbeiten“, damit „Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen.“ Offen bleibt, ob dies in einen bundesweiten Zugang zur Regelversorgung mündet, wie sie die Medibüros oder die Kampagne „Gleich behandeln“ fordern und mit der in einigen Bundesländern bereits experimentiert wird.
Kinder und Jugendliche sollen künftig nicht mehr in Abschiebehaft genommen, ein explizites Bekenntnis, nicht in Kriegsgebiete abzuschieben, gibt es nicht.
Fazit: Manches Erhoffte fehlt, doch viel Potential für Veränderung
Die wohl größten Hoffnungen in Sachen Flüchtlingsaufnahme setzte die Zivilgesellschaft zuletzt in die kommunale Ebene. Die Bewegung der Städte Sicherer Häfen macht in Deutschland, das Bündnis Eurocities und Moving Cities in Europa , politischen Druck für die Möglichkeit, eigene Aufnahmeprogramme umsetzen zu dürfen. In Deutschland scheiterte dies bislang vor allem an der Zustimmungspflicht des Bundesinnenministeriums für Landesaufnahmeprogramme. Das Land Berlin etwa hat deshalb den Innenminister Seehofer verklagt. Seit langem gibt es aus den Reihen der Kommunen die Forderung den Paragrafen 23.1 AufenthG so zu ändern, dass die Länder hier nicht auf das Plazet des BMI angewiesen sind. Im Koalitionsvertrag ist dies nicht aufgegriffen.
Manches Erhoffte also fehlt, vieles hängt von der konkreten rechtlichen Ausgestaltung ab. Doch viele der angekündigten Maßnahmen haben zweifellos das Potential, die Lebensumstände vieler Menschen zu verbessern. Entsprechend forderte etwa Pro Asyl, schnell zu machen: Man sehe „Licht und Schatten“, doch die versprochenen Gesetzesänderungen müssten „in einem 100 Tage-Programm auf den Weg gebracht“ werden. Und in der Tat kann etwas Tempo nicht schaden. Seehofer und sein Vorgänger Thomas de Maizière hatten schließlich in hektischem Aktionismus allein zwischen 2015 und 2019 ganze 30 Asylgesetze – durchweg Verschärfungen – angeschoben.