Die Machtübernahme der Taliban hat neue Fluchtbewegungen ausgelöst. Welche Muster früherer Krisen und flüchtlingspolitischer Antworten wiederholen sich, was ist anders? Migrationsforscher Marcus Engler analysiert die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan. Nicht rückwärtsgewandte Slogans sind heute gefragt, sondern eine Kehrtwende in der europäischen und globalen Flüchtlingspolitik.
Als Reaktion auf die Krise in Afghanistan bemühen konservative Politiker:innen und Medien nun immer wieder den bekannten Slogan „2015 dürfe sich nicht wiederholen“. Dabei wird „2015“ als Chiffre einer absichtlichen Grenzöffnungs- bzw. Einladungspolitik mit angeblich katastrophalen Folgen für Deutschland und Europa bewusst fehlinterpretiert. Von anderer Seite wird 2015 hingegen als „langer Sommer der Migration“ zelebriert, in dem es Migrant:innen geschafft haben, das europäische Grenzregime zu überwinden. Dennoch wäre es verheerend die Entwicklungen von damals als reine Erfolgsgeschichte zu deuten. Denn ursächlich für die umfangreichen Fluchtbewegungen nach Europa war auch ein Versagen der internationalen Gemeinschaft bei der humanitären Versorgung in den Nachbarstaaten Syriens und der Einrichtung sicherer Fluchtwege. Bei ihrem Weg über Ägäis und die Balkanroute mussten die Flüchtenden große Risiken auf sich nehmen. Weitgehend ausgeschlossen vom Schutz in Europa blieben Menschen, die nicht über die nötigen finanziellen Ressourcen oder körperlichen Voraussetzungen verfügten, um diese Routen zu bewältigen. Zudem führte die unorganisierte Ankunft hunderttausender Menschen in kurzer Zeit nicht nur zu großen logistischen Herausforderungen bei der Aufnahme, sondern hat auch zu einem Erstarken von rechten politischen Kräften wie Pegida und AfD beigetragen. In der Folge kam es zu einer drastischen Rechtsverschiebung der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik, die nun auch den Umgang mit den Schutzsuchenden aus Afghanistan prägt.
Unterschiede zwischen 2015 und heute
Obwohl noch vollkommen unklar ist, wie viele Menschen in den kommenden Wochen und Monaten aus Afghanistan fliehen wollen und können, herrscht in der deutschen und europäischen Politik höchste Alarmstufe. Bei aller Uneinigkeit und inhaltlichen Unterschieden bei der Ausgestaltung der künftigen Politik, zeichnet sich als Konsens europäischer Politik ab: Es soll um jeden Preis verhindert werden, dass afghanische Flüchtende in größerer Zahl europäische Grenzen erreichen. Positiv an der bisherigen Diskussion ist zumindest, dass die internationale Staatengemeinschaft, anders als bei der Syrienkrise vor 2015, die Situation der Flüchtlinge nicht ignorieren kann und will. Dies ist schon deshalb der Fall, weil die ursächliche Verantwortung insbesondere der NATO-Staaten aufgrund ihres langjährigen militärischen Engagements für das Schicksal der afghanischen Flüchtlinge sehr viel eindeutiger ist als im Fall Syriens. Nach dem Scheitern der Stabilisierung Afghanistans und der chaotischen Evakuierung über den Kabuler Flughafen steht die westliche Staatengemeinschaft unter großem moralischem Druck, dass Schutzbedürftige nun auch wirklich Schutz erhalten. Inwiefern dies gelingen wird, ist eine offene Frage. Fest steht, dass die Bereitschaft zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen sowohl in der Region als auch in der Türkei und in Europa sehr viel geringer ist als es in der Syrienkrise der Fall war.
Jahrzehnte der Flucht: Kontext und Hintergrund der aktuellen Situation
Will man die gegenwärtige Situation verstehen, so muss man zunächst auf den historischen Kontext schauen. Im Gegensatz zu Syrien war Afghanistan schon seit Jahrzehnten von bewaffneten Konflikten erschüttert und daher eines der ärmsten Länder der Welt. Bereits vor der Rückeroberung des Landes durch die Taliban waren Millionen Afghan:innen auf der Flucht. Laut dem Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) gab es Ende 2020 bereits ca. 3,5 Millionen Binnenvertriebene. In den Nachbarstaaten leben mehrere Millionen Flüchtlinge, teilweise seit Jahrzehnten. Im Iran waren es Ende 2020 nach offiziellen Angaben rund 800.000, in Pakistan rund 1,4 Millionen. Schätzungen zu Folge leben aber deutlich mehr Afghan:innen in diesen Ländern, viele ohne gültige Papiere. Weitere wichtige Zielstaaten im Mittleren Osten sind die Türkei und die Vereinten Arabischen Emirate. Auch Europa ist seit vielen Jahren Ziel von Fluchtbewegungen aus Afghanistan. Dabei ist Deutschland das mit Abstand wichtigste Aufnahmeland außerhalb der Region: Ende 2019 lebten hier insgesamt rund 300.000 Afghan:innen (inklusive Eingebürgerte). Basierend auf Erkenntnissen der Flucht- und Migrationsforschung ist damit zu rechnen, dass Fluchtbewegungen v.a. in diese Staaten erfolgen werden, in denen es bereits größerer afghanische Communities gibt.
Im Iran und in Pakistan, aber auch in der Türkei, leben afghanische Flüchtlinge in sehr unsicheren Umständen mit begrenzten Teilhabechancen was etwa Bildung, medizinische Versorgung, Arbeit oder Wohnraum angeht. Die jeweiligen Regierungen versuchten immer wieder Afghan:innen zu einer Rückkehr zu bewegen und griffen dabei auch auf gewaltsame Abschiebungen zurück. Auch in Deutschland und Europa stießen Schutzsuchende aus Afghanistan auf erhebliche Widerstände, insbesondere nach 2015. Dies betrifft zum einen den physischen Zugang nach Europa, der durch einen kontinuierlichen Ausbau von Grenzschutz und Externalisierungspolitiken immer weiter erschwert worden ist. Zu beobachten ist hier auch ein Entfernen europäischer Politik von eigenen Werten und vom Völkerrecht, insbesondere bei den vielfach dokumentierten Pushbacks an den Außengrenzen, von denen Afghan:innen stark betroffen sind. In der Vergangenheit waren Schutzsuchende aus Afghanistan zudem weitgehend ausgeschlossen von sicheren Zugangswegen nach Europa oder in andere Staaten, wie etwa Resettlement. Auch die Aufnahme von Ortskräften wurde in der Vergangenheit sehr restriktiv gehandhabt.
Zum anderen erhielten Afghan:innen – basierend auf politisch geschönten Berichten zur Sicherheitslage im Land – deutlich seltener einen positiven Asylbescheid und eine dauerhafte Bleibeperspektive als z.B. Syrer:innen, wobei Gerichte die negativen Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) häufig korrigiert haben. Verknüpft damit wurde auch der Zugang zu Integrationsangeboten, gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten und Familiennachzug sehr restriktiv gehandhabt. Es gab öffentlichkeitswirksame Abschiebekampagnen, die viele Menschen in Angst versetzt haben. Diese Politik wurde seit Jahren von Oppositionsparteien, Flüchtlingsorganisationen und Expert:innen scharf kritisiert. Im Rückblick wird nun noch deutlicher, wie sehr der Zugang zum Asylrecht von einem innenpolitisch motivierten restriktiven Migrationsmanagement überlagert wurde.
Evakuierungen und neue Fluchtbewegungen
Nach dem Abzug der internationalen Streitkräfte haben die Taliban – deutlich schneller als von der westlichen Politik erwartet – fast das gesamte Land eingenommen und kontrollieren es. Vor den Kämpfen und vor den Taliban sind in den letzten Monaten mehrere hunderttausend Menschen innerhalb Afghanistans geflohen, sehr viele nach Kabul, dessen schnelle Einnahme als unwahrscheinlich galt.
Die Fehleinschätzung der Situation durch die westlichen Regierungen hat dazu geführt, dass sehr kurzfristige und chaotische Evakuierungen durchgeführt werden mussten. Zehntausende Menschen wurden dadurch in Gefahr gebracht und mussten traumatische Szenen durchleben. Es gab etwa 200 Tote bei Massenpaniken, dem Sturz aus startenden Flugzeugen, Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, durch einen von ISIS-K verübten Terroranschlag und eine fehlgeschlagene Antiterroraktion des US-Militärs.
Laut Angaben der US-Regierung wurden mehr als 120.000 Menschen in der zweiten Augusthälfte über den Kabuler Flughafen evakuiert. Mehrere Tausend Menschen wurden auch über den Landweg nach Pakistan evakuiert. An den Evakuierungen beteiligten sich zahlreiche Staaten, aber auch Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Unter den evakuierten Personen waren Staatsbürger:innen anderer Staaten und Afghan:innen, die auf unterschiedlichen Grundlagen ausgeflogen worden sind. Dies betraf u.a. afghanische Angehörige von Staatsbürger:innen anderer Staaten und Afghan:innen mit einem Aufenthaltstitel in den USA oder anderen Staaten. Ebenso evakuiert wurden sogenannten Ortskräfte und andere besonders gefährdete Personen. Aufgrund der Umstände mussten viele potenziell gefährdete Afghan:innen zunächst zurückgelassen werden. Wie groß der Kreis der gefährdeten und ausreisewilligen Menschen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Allein die Bundesregierung geht von bis zu 40.000 Menschen (Ortskräfte und Familienangehörige) aus. Unter Berücksichtigung weiterer gefährdeter Menschen, wie z.B. Journalist:innen, Frauenrechtlerinnen, Menschenrechtsaktivist:innen etc., könnten es bis zu 70.000 Personen sein.
Auch nach der Machtübernahme der Taliban gibt es weiterhin Evakuierungen. Gesicherte Informationen über deren Ausmaß liegen noch nicht vor. Diese erfolgen bisher aber vorwiegend über den Landweg.
Die Berichte über Fluchtbewegungen über die Landgrenzen sind widersprüchlich. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hat es bis Mitte September keine größeren Fluchtbewegungen in die Nachbarstaaten gegeben. Andere Berichte sprechen dagegen von bedeutsamen Grenzüberquerungen insbesondere nach Pakistan. Offiziell sind die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen. Unter bestimmten Bedingungen – etwa wenn Personen Angehörige in Pakistan haben, sie dort arbeiten oder sich medizinisch behandeln lassen müssen – kann die Einreise gestattet werden.
Wie geht es weiter? Offene Fragen und schwierige Prognosen
In einem Worst-Case-Szenario geht UNHCR von bis zu 515.000 Flüchtlingen aus, die bis Ende 2021 in die Nachbarstaaten fliehen könnten. Laut einer Schätzung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) könnten es sogar 1,5 Millionen sein. Die Annahmen, auf denen diese Zahlen basieren, sind nicht bekannt. In jedem Fall sind solche Zahlen mit Vorsicht zu betrachten.
Die weitere Entwicklung von Fluchtbewegungen hängt von mehreren Faktoren ab, deren genaue Wirkung und Zusammenspiel nur schwer abzuschätzen ist. Dies betrifft erstens die Sicherheitslage in Afghanistan. Wird es weitere Terroranschläge geben? Wie entwickelt sich der militärische Widerstand und die Proteste gegen das Taliban-Regime weiter? Zudem von Bedeutung ist auch die generelle Sicherheitslage in dem Failed State. Vieles deutet daraufhin, dass Afghanistan in absehbarer Zukunft ein instabiler und unsicherer Staat bleiben wird.
Zweitens sind die Versorgungslage und die wirtschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung. Afghanistan ist infolge der jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen eines der ärmsten Länder der Welt. Das Chaos der letzten Wochen, zusammen mit wiederholten Dürreperioden und der Coronapandemie haben die Versorgungslage weiter verschlechtert. Einer Studie der UN-Entwicklungsorganisation (UNDP) zufolge könnte bald fast die gesamte Bevölkerung unter die Armutsgrenze rutschen. Millionen Menschen sind von Hunger bedroht und auf Versorgung durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die wirtschaftliche Situation hat sich dramatisch verschlechtert. Seit der Machtübernahme der Taliban kommt es zu Inflation und Knappheit bei Bargeld. Durch den Abzug vieler internationalen Organisationen haben sich Beschäftigungsmöglichkeiten weiter verschlechtert. Unter den Evakuierten waren zudem viele Fachkräfte, die für den Wiederaufbau des Landes nun fehlen. Medienberichten zufolge verlassen Menschen das Land (oder wollen es verlassen), weil es keine Arbeitsgelegenheiten mehr gibt und sie kein Einkommen mehr haben. In der politischen Debatte in Deutschland und Europa wird oft eine sehr einfache Trennung von Fluchtmotiven vorgenommen. Menschen, die vor Verfolgung oder Krieg fliehen, erhalten Schutz. Menschen, die vor Armut oder fehlenden Lebensperspektiven ihr Land verlassen, werden häufig als „Wirtschaftsmigrant:innen“ diskreditiert. Der Fall Afghanistan zeigt anschaulich, dass Flucht sehr oft durch ein Zusammenspiel von Faktoren bedingt ist. Krieg führt in der Regel zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Möglichkeit eines planbaren Lebenserwerbs. Umgekehrt kann eine zusammengebrochene Ökonomie das Aufflammen von Konflikten bedingen, etwa weil Ressourcen knapp werden und Mechanismen der Umverteilung nicht mehr funktionieren.
Das Einfrieren von Entwicklungshilfe und finanziellen Reserven durch westliche Staaten mit dem Ziel, dies als politisches Druckmittel gegenüber den Taliban anzuwenden, erweist sich – wie schon in anderen Krisen, zuletzt etwa in Äthiopien, als äußert zweischneidiges Schwert. Denn es leidet v.a. die Zivilbevölkerung unter solchen Sanktionen.
Der dritte Aspekt betrifft die Politik der Taliban. Diese haben angekündigt, die Menschenrechte stärker zu achten – im Rahmen ihrer strikten Scharia basierten Interpretation – und eine tolerantere Politik im Vergleich zu ihrer früheren Herrschaft zu machen. Es gibt bereits jetzt zahlreiche Berichte über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, die die Taliban auch nach diesen Bekenntnissen verübt haben. Vielen Menschen haben große Angst und verstecken sich im Land. Zu erwarten sind auch weiterhin sehr schwerwiegende Eingriffe in die Freiheitsrechte vieler Menschen.
Viertens ist die Grenz- und Mobilitätspolitik von großer Relevanz für weitere internationale Fluchtbewegungen. Dies betrifft auch hier zunächst die Taliban, die mehrfach versprochen haben, die Grenzen für jene, die gehen wollen – und gültige Reisedokumente haben – ausreisen zu lassen. Die Taliban wissen, dass gerade die Frage der Evakuierungen von ehemaligen Ortskräften ein äußert sensibler Punkt für den Westen ist. Daher muss damit gerechnet werden, dass sie dies zur Verhandlungsmasse machen. Aus Sicht der Taliban geht es auch darum, einen weiteren Braindrain zu verhindern. Von Bedeutung ist aber auch die Politik der Nachbarstaaten. Bisher haben diese Staaten angekündigt, dass sie ihre Grenzen für Flüchtende weitgehend geschlossen halten wollen. Insbesondere der Iran und Pakistan verweisen darauf, dass bereits Millionen Afghan:innen in ihren Ländern leben und weitere Aufnahmen ihre Länder überlasten würden. Für den kurzfristigen Transit stünden sie aber zur Verfügung. Es kann davon ausgegangen werden, dass die sehr langen Landgrenzen, trotz intensivierter militärischer Bewachung und der Errichtung von Grenzbarrieren, nicht komplett zu schließen sind. Dabei wird die Flucht durch diese Kontrollen gefährlicher und auch teurer – da häufig auf Schmuggler zurückgegriffen werden muss und Bestechungsgelder bezahlt werden müssen. Dies bedeutet auch, dass die Fluchtrouten – wie in vielen anderen Fällen auch – selektiver werden und insbesondere vulnerable Personengruppen, die körperliche Einschränkungen haben oder nicht über die erforderlichen finanziellen Ressourcen verfügen, drohen von internationalem Schutz weitgehend ausgeschlossen zu sein.
Genaue Prognosen über künftige Fluchtbewegungen sind nur schwer zu treffen. In den ersten Wochen nach der Machtübernahme der Taliban sind begrenzte internationale Fluchtbewegungen zu beobachten. Dies kann zum einen daran liegen, dass ein Teil der Afghan:innen die Machtübernahme der Taliban antizipiert haben und das Land bereits zuvor verlassen hat. Zum anderen warten mutmaßlich zehntausende Menschen darauf, dass westliche Regierungen ihre Versprechen einhalten und ihnen eine sichere Flucht zeitnah ermöglichen. In jedem Fall ist die Gesamtsituation in Afghanistan weiterhin äußerts instabil und Millionen von Menschen sind auf schnelle und ausreichende humanitäre Hilfe angewiesen.
Versäumnisse der internationalen Flüchtlingspolitik und Wege nach vorn
In der aktuellen Afghanistankrise werden die Versäumnisse in der internationalen Flüchtlingspolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte allzu deutlich. 70 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Gründung von UNHCR muss das internationale Flüchtlingsregime weiterhin als sehr fragil und teilweise dysfunktional angesehen werden. Die Versprechen, die die internationale Staatengemeinschaft in der New Yorker Erklärung von 2016 und noch einmal im Globalen Flüchtlingspakt Ende 2018 gegeben haben, um dies zu ändern, sind nicht einmal im Ansatz eingehalten worden. Im Rückblick wirken die Zusagen fast schon wie reine Lippenbekenntnisse. Die Grundidee hinter dem Pakt ist ein implizites Abkommen zwischen den Staaten des globalen Nordens und des globalen Südens, in denen die große Mehrheit aller Geflüchteten lebt. Die Staaten des Nordens erklärten sich bereit, ausreichend finanzielle Mittel und Resettlement-Plätze zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug wollten die Staaten des Südens Flüchtlinge weiterhin aufnehmen und ihnen mehr Rechte einräumen, v.a. im Hinblick auf Mobilität oder Zugang zu Bildung, Wohnraum oder Arbeit. Fünf Jahre nach der New Yorker Erklärung ist nichts davon geschehen. Beim Zugang zu dauerhaften Lösungen, wie etwa Resettlement, gab es sogar einen deutlichen Rückgang.
Für die überwiegende Zahl der Schutzsuchenden hat dies dramatische Folgen. Sie haben weiterhin die Wahl zwischen einem äußerst prekären Leben in Nachbarstaaten, wie z.B. Iran oder Pakistan, und den gefährlichen und ungewissen Versuchen auf irregulären Routen in westliche Staaten zu gelangen, an deren Ende wiederum ein Leben in unsicheren Bedingungen stehen kann.
Vor diesem Hintergrund ist auch die ablehnende Haltung der Regierung Pakistans, Irans und der Türkei zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge nicht überraschend, sondern sogar nachvollziehbar. Die Staaten des Nordens haben ihre Versprechen in den letzten Jahren nicht eingehalten. Warum sollten sich Aufnahmestaaten in der Krisenregion nun an ihren Teil der Abmachung halten? Besonders deutlich wurden die problematischen und unrealistischen Erwartungen vieler europäischer Politiker:innen am Beispiel der Türkei. Obwohl bereits das Abkommen von März 2016 in vieler Hinsicht zu kritisieren ist, gab es nun die (Wunsch-)Vorstellung, man könne in die Neuverhandlung des „Deals“ einfach afghanische Flüchtlinge mit einbeziehen. Dies verkennt vollkommen, wie fragil die Situation der syrischen und insbesondere der afghanischen Flüchtlinge bereits jetzt in der Türkei ist. Zudem werden die erheblichen innenpolitischen Konflikte in der Türkei ausgeblendet. Auch ist scheinbar der Konflikt mit der türkischen Regierung über die Verantwortungsteilung für Flüchtlinge, der Anfang 2020 eskalierte, in Vergessenheit geraten. Inzwischen hat die türkische Regierung die Aufnahme weiterer afghanischer Flüchtlinge in aller Deutlichkeit abgelehnt und eine Mauer an der Grenze zum Iran errichtet, wie schon zuvor zu Syrien. Bei aller berechtigten Kritik an der türkischen Politik in dieser Frage kann man darin auch eine rationale Antwort auf das Verweigern Europas zur Aufnahme von Flüchtlingen sehen. Diese Abschottungspolitik setzt sich dann an den Grenzen der direkten Nachbarstaaten Afghanistans weiter fort. Im Resultat wird bereits die Flucht heraus aus Afghanistan nur sehr eingeschränkt möglich sein (siehe oben) und die Erosion des globalen Flüchtlingsschutzes, der auf offenen Grenzen für Schutzbedürftige und dem Non-Refoulement-Prinzip beruht, setzt sich fort.
Eine Fortsetzung der europäischen Politik der letzten Jahre, die Flüchtlinge nur in symbolischer Größenordnung über aktive Aufnahmeinstrumente aufnimmt und Schutzsuchende mit völkerrechtswidrigen und äußerst grausamen Praktiken an den Außengrenzen aufzuhalten versucht, hat jedoch noch eine weitere negative Konsequenz: Es entstehen neue Konflikte mit autokratischen Nachbarstaaten, in denen diese versuchen, Flüchtlinge und Migrant:innen als strategisches Druckmittel gegenüber der EU einzusetzen. Wie man am Beispiel von Belarus beobachten kann, gibt es daraus kaum einen Ausweg, der im Einklang mit dem menschenrechtsbasierten Selbstverständnis der EU ist. Dass europäische Spitzenpolitiker:innen wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der für Migrationspolitik zuständige EU-Vizepräsident Margaritis Schinas nun als Reaktion darauf die Reform der europäischen Asylpolitik – auch als Migrations- und Asylpakt bezeichnet – als Instrument zum Kampf gegen sogenannte „hybride Attacken“ umdeutet, ist besorgniserregend und lässt weitere Eskalationen befürchten.
Dass die europäischen und weitere Staaten nun Zusagen treffen, die humanitäre Hilfe in Afghanistan aufzustocken und auch die Nachbarstaaten stärker unterstützen zu wollen, ist richtig und für Millionen Afghan:innen überlebensnotwendig. Es ist aber nicht ausreichend. Aufgrund der großen Aufmerksamkeit und des besonderen moralischen Drucks erscheint es als wahrscheinlich, dass für afghanische Flüchtlinge nun viele Ressourcen bereitgestellt werden. Wenn die Staatengemeinschaft hier jetzt finanzielle Mittel und zusätzliche Resettlementplätze zusagt, führt dies nahezu unweigerlich dazu, dass Flüchtlinge in anderen Krisenregionen, die weniger im öffentlichen Fokus stehen, weiter vernachlässigt werden. Unabhängig davon, wie viele Afghan:innen in den nächsten Monaten ihr Land verlassen, brauchen wir dringend eine Kehrtwende in der europäischen und globalen Flüchtlingspolitik.
Schon vor der erneuten Eskalation in Afghanistan waren die globalen Flüchtlingszahlen auf Rekordniveau. Die globale Covid19-Pandemie und der sich beschleunigende Klimawandel setzt viele Gesellschaften unter zusätzlichen Druck. Daher muss das Flüchtlingsregime insgesamt und dauerhaft gestärkt werden. Dazu braucht man nicht unbedingt neue Konzepte, Instrumente oder politische Beschlüsse. Die Staatengemeinschaft und insbesondere die Staaten des Nordens müssen sich nur an die im Globalen Flüchtlingspakt getroffenen Vereinbarungen erinnern und diese ernsthaft umsetzen. Die neue Bundesregierung sollte hier mit gutem Beispiel vorangehen. Hilfreich wären mehrjährige Zusagen über Aufnahmeplätze und Finanzierungen durch die Staatengemeinschaft. Anders als viele glauben mögen, würde diese Aufgabe die Staatengemeinschaft keineswegs überfordern. Der Anteil der internationalen Flüchtlinge an der Weltbevölkerung liegt bei rund 0,3 Prozent. Er ist seit Jahrzehnten relativ stabil.
Ein stabiles und wirklich funktionsfähiges globales Flüchtlingsregime sollte nicht nur aus normativen Erwägungen geschaffen werden, es liegt auch im Eigeninteresse Deutschlands und Europas an einer stabilen und menschenrechtsbasierten Weltordnung. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich die Mehrheit der Regierungen bei dieser Aufgabe äußert schwer tun. Daher wird es auch in Zukunft darauf ankommen, dass Vertreter:innen von Zivilgesellschaft und Wissenschaft diese immer wieder daran erinnern.