Die einstige Minderheit sitzt mit am Tisch

Hintergrund

Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, zeigt sich 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei auch in Spitzenpositionen in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien. Die einstige Minderheit sitzt mittlerweile mit am Tisch – die Erfolge sind aber nach wie vor große Ausnahmen. Über die Ambivalenz migrantischer Erfolgsgeschichten, die Bedeutung von Repräsentanz und den langen Weg zum Einwanderungsland schreibt Journalistin Çiğdem Akyol.

Veranstaltung 60 Jahre zuhause in Almanya, zu sehen ist der Theatersaal im Ballhaus Naunynstraße mit Publikum sowie das Podium mit Idil Baydar, Tuba Bozkurt und Imran Ayata.
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Am 27. Oktober 2021 feierten wir „60 Jahre zuhause in Almanya“ im Ballhaus Naunynstraße in Berlin, u.a. mit Idil Baydar, Tuba Bozkurt und Imran Ayata (v.l.n.r.)

Von der Ambivalenz migrantischer Erfolgsgeschichten

Eine neue Epoche hat begonnen: Die Ärzte Özlem Türeci und Uğur Şahin haben den wichtigsten Impfstoff des Jahrzehnts erfunden. Mit dem Grünen Cem Özdemir ist der erste Türkeistämmige zu einem Bundesminister ernannt worden. Sechzig Jahre nach Einwanderung der ersten türkeistämmigen Arbeiter:innen aus der Türkei sind deren Nachkommen nun in entscheidenden Spitzenpositionen vertreten, in denen sie selbst Geschehen verändern können. Auch die neue Bundesregierung ist endlich sichtbar vielfältiger. Aydan Özoğuz, zuvor Staatsministerin, ist nun Vizepräsidentin des Bundestags. Nun sind drei weitere Vertreter:innen türkischstämmiger Herkunft als Staatssekretäre im Amt: Cansel Kiziltepe (Bauministerium), Mahmut Özdemir (Innenministerium) und Ekin Deligöz (Familienministerium) sind Personalien, deren Symbolik nicht zu unterschätzen ist. Für die erste Generation der sogenannten „Gastarbeiter“ war Almanya ein fremdes Land, ihre Kinder und Enkel:innen kennen aber keine andere Heimat. Die türkischstämmige Repräsentanz in der Politik ist auch eine Anerkennung der Lebensleistung dieser ersten Einwander:innen, die unter Tage, am Fließband oder in vielen anderen Branchen hierzulande geschuftet haben. Waren Türkeistämmige bisher oftmals die Loser in der Migrationsdebatte, werden sie nun im Bundestag vereidigt und lächeln in Laborkitteln vom Cover des Time-Magazins.

Uğur Şahin zog im Alter von vier Jahren mit seiner Mutter nach Köln, wo sein Vater bei Ford am Band arbeitete. Özlem Türeci wuchs im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg auf, ihr Vater war Chirurg in einem Krankenhaus. Während die beiden Mediziner kaum über die Wurzeln ihrer Eltern reden, nutzt Landwirtschaftsminister Özdemir, dessen Eltern Anfang der Sechzigerjahre als „Gastarbeiter“ gekommen waren, diesen Hintergrund auch für seine Politik. Alle drei eignen sich als Projektionsfläche, um die Vorbehalte gegen Migrant:innen zu bekämpfen, die seit Jahrzehnten vorherrschen. Doch so verführend die kapitalistische Legende liberaler Demokratien ist, dass jede:r mit Fleiß und Arbeit einen Aufstieg schaffen kann, dürfen ihre Erfolge nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein halbes Jahrhundert, nachdem ihre Eltern eingewandert sind, Migrant:innen in Deutschland noch immer einen langen Atem brauchen – trotz ähnlicher oder gar besserer Qualifikation – gerechte Chancen zu bekommen. Denn historisch, politisch und soziologisch betrachtet sind Karrieren wie die von Şahin, Türeci und Özdemir immer noch die großen Ausnahmen. Sie können als Strukturerfolg gefeiert werden – aber nicht wegen, sondern trotz der Umstände.

Auch durchschnittliche Lebensläufe müssen eine Rolle spielen

Auch deswegen hat die Soziologin Özge Jacobsen gemischte Gefühle. „Auf der einen Seite freue ich mich natürlich. Deutschland ist meine Heimat, und solche Nachrichten machen mich stolz auf meine eigene „Community“, sagt sie. „Auf der anderen Seite denke ich, das sind Personen mit sehr außergewöhnlichen Biografien. Nicht nur sie sollten der Maßstab sein für junge Türkischstämmige, es müssen auch die durchschnittlichen Lebensläufe eine Rolle spielen“. Die 32-Jährige engagiert sich als sogenannte „Wertebotschafterin“ bei der Bildungsinitiative „German Dream“. „Hier kann ich Jugendlichen erklären, dass sie nicht wie ein Uğur Şahin werden müssen, damit sie in der deutschen Gesellschaft anerkannt werden. Sie können auch Mehmet der KFZ-Mechaniker werden und sollen wie ein Hans das machen, worauf sie Bock haben“. Jacobsen arbeitet als Social-Media-Managerin für die bayerische SPD. Als sie im Bundestagswahlkampf ein Foto von Olaf Scholz und sich postete, haben sie die jubelnden Rückmeldungen von der Familie und Türkischstämmigen auch genervt. „Als wäre ich Kanzlerkandidatin“, sagt sie lächelnd. „Ich mag das nicht“, schiebt sie hinterher. „Ich verstehe den Stolz meiner Eltern, ich bin auch stolz auf mich, aber ich will es nicht ausstellen.“

In Bretten bei Karlsruhe aufgewachsen, erzählt sie eine typische Migrationsgeschichte. Ihre Großeltern mütterlicherseits sind in den 1970er Jahren als „Gastarbeiter:innen“ gekommen, der Vater war politischer Flüchtling aus der Türkei. Beide Eltern standen am Fließband, und weil diese sich im Schichtdienst abwechselten, habe sie die beiden kaum gemeinsam gesehen. So konnten sie sich irgendwann ein Reihenhaus kaufen und ihrer Tochter Klavierunterricht und Nachhilfestunden ermöglichen, „obwohl ich gar keine Lust darauf hatte“, lacht Jacobsen. Es sei anstrengend gewesen, und sei es immer noch – die Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft, aber auch die der Eltern. „Ich habe intensiv verinnerlicht, dass ich mich doppelt so viel anstrengen und 150 Prozent geben muss.“ Was die Eltern nicht machen konnten, wünschten sie sich für ihre Kinder - Jacobsen ist die Erste aus der Familie, die studiert hat. „Sie haben ihren Traum in mir verwirklicht“. Als Kind habe sie sich deswegen unter Druck gesetzt gefühlt.

Das Anwerbeabkommen und die „brutale Ausbeutung“

Der stark wachsenden deutschen Wirtschaft fehlten Anfang der 1960er Jahre Arbeitskräfte. Die Bundesregierung schloss deshalb am 30. Oktober 1961 mit der Türkei eine Vereinbarung zur Entsendung von Arbeitnehmer:innen. Bis zum Ende des Abkommens zwölf Jahre später kamen fast 900.000 Türk:innen und Kurd:innen aus der Türkei, meist aus der Landwirtschaft, um die deutsche Erfolgsgeschichte fortzuschreiben. Anfangs galt ein "Rotationsprinzip", um eine dauerhafte Einwanderung zu verhindern: Nach zwei Jahren sollten die Menschen in ihre Heimat zurückkehren und durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden. Für die deutschen Unternehmen erwies sich dies aber als aufwendig und teuer, auf ihren Druck wurde die zeitliche Befristung deshalb in einer überarbeiteten Fassung der Vereinbarung 1964 aufgehoben. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren extrem. „Brutale Ausbeutung“ sei das damals gewesen, kritisierte der Schriftsteller Imran Ayata bei der Podiumsdiskussion „60 Jahre zuhause in Almanya“ der Heinrich-Böll-Stiftung vergangenen Oktober. Gleichzeitig hätten die Migrant:innen ohne politische Rechte hier gelebt.

„Gastarbeiter“ lautete die Wortschöpfung, die vor allem in den 1960er und 1970er Jahren gebräuchlich war. Damit sollte klargestellt werden, dass die angeworbenen Menschen nur vorübergehend willkommen waren – doch es kam anders. Das Anwerbeabkommen war der Startschuss für Zuwandererbiografien, die das Land veränderten und immer noch verändern. Mittlerweile wohnen rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland. Die Hälfte von ihnen besitzt einen deutschen Pass, nirgends leben mehr Türk:innen außerhalb der Türkei, als hier.

Altes Familienfoto von Çağdaş Eren Yüksel bei der Ankunft seiner Oma in Mönchengladbach, 1970

Am 30. Oktober 1961 schlossen Deutschland und die Türkei ein bilaterales Anwerbeabkommen. Anlässlich des 60. Jahrestags des Abkommens erinnern, verorten und entwerfen sechs Künstler:innen der ersten, zweiten und dritten Generation türkischer Migrant:innen in Deutschland in dem Dossier "60 Jahre zuhause in Almanya" ihr Bild vom Einwanderungsland Almanya - damals und heute. Das Dossier wurde von Safiye Can und Hakan Akçit kuratiert.

Mustafas Traum – ein Denkmal für die erste Generation

Henning Christoph hat diesen Menschen aus der ersten Generation ein Denkmal in Schwarzweiß und Farbe gesetzt. Der Fotograf hatte sein Atelier in Essen-Frohnhausen, einem Arbeiterviertel, in dem viele Türk:innen wohnten, als ihn 1977 sein türkischer Nachbar zu einem Beschneidungsfest in einer Wohnung einlud. Entstanden ist die wohl ausführlichste Dokumentation über das Alltagsleben, die Sorgen und Freuden von Türksichstämmigen in den Siebziger und Achtzigerjahren, meist im Ruhrgebiet. Die Fotografien werden anlässlich des 60. Jahrestages des Anwerbeabkommens seit Oktober 2021 für ein Jahr im Ruhr Museum in Essen unter dem Titel „Mustafas Traum“ ausgestellt.

Die Wohnung über Christophs Büro habe leergestanden, und eines Tages habe ihn ein junger Türke gefragt, ob er der Vermieter sei. So begann eine lebenslange Freundschaft und ein Herzensprojekt für Christoph, welcher die Wohnung für den Mann vermittelte. Der lud ihn dann später zu dem besagten Fest ein. „So fing mein türkisches Leben an. Es war faszinierend, ich konnte es kaum glauben“, erzählt der mehrfache World Press Photo-Preisträger und Ethnologe von seinem Eintauchen in die türkische Kultur und berichtet von einer Herzlichkeit, die er so nie unter Deutschen gefunden habe.

Es sind rührende Bilder, die Christoph gemacht hat: Schafe in Hinterhöfen, Clubs mit Bauchtänzerinnen, Mädchen, die am Bahndamm Weinblätter sammeln, Männer beim Gebet. „Eine ganz andere Welt als damals im Ruhrgebiet. Bergbau, Stahl, es stank und war alles sehr grau, und auf einmal entdeckte ich dieses wahnsinnige bunte Leben unter den Türken. Das hat mich nicht mehr losgelassen“, blickt Christoph zurück, der in den USA aufgewachsen ist und zum Studium an der Essener Folkwang-Schule nach Deutschland zurückkehrt war. Rund zwölf Jahre zog er für dieses Thema durch die Republik, fotografierte auf Veranstaltungen der faschistischen Grauen Wölfe, Hochzeiten und eben Mustafas Traum. Der hatte hinter seinem Haus einen Schuppen gebaut, den nie jemand habe betreten dürfen – außer Christoph. Da hatte Mustafa ein Modell eine Sägemühle aus Lego aufgebaut, die er sich in der Türkei bauen wollte, ein Traum, der nie wahr werden würde. Schlagzeilen wie über Özdemir, Türeci und Şahin hätte sich Christoph damals nicht vorstellen können. „Das ist toll, was die Türken hier geschafft haben“, freut er sich.

Der lange Weg zum Einwanderungsland

Waren die „Gastarbeiterinnen“ erst noch gewollt als billige Arbeitskräfte, die für wenig Geld schwer anpacken konnten, endete dieser Duldungsstatus Anfang der 1970er, als das Wirtschaftswunder vorbei war. Die Republik steuerte auf eine Rezession zu. Die sozialliberale Bundesregierung beschloss deshalb 1973 einen Anwerbestopp. In den 1990er Jahren schlug die Stimmung endgültig um, Türk:innen fühlten sich als Verlierer:innen des Mauerfalls. Sie mussten nach der Wiedervereinigung mit den Arbeiter:innen aus dem Osten konkurrieren. Unvergessen die Brandanschläge in Mölln und Solingen, bei denen 1992 und 1993 insgesamt acht türkischstämmige Frauen und Mädchen ermordet wurden. Zudem beharrte die Union darauf, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Es gab kaum Integrationsangebote, sondern Türkischunterricht für die Kinder, damit diese sich bei der Rückkehr im Land ihrer Eltern verständigen könnten. Die SPD wollte nicht von Integrationsproblemen reden, Sprachkurse hatten was von Zwangsassimilation. Immerhin, die Rot-Grüne Regierung unter Gerhard Schröder erleichterte im Jahre 2000 die Einbürgerung.

Portrait von Çiğdem Akyol
Journalistin Çiğdem Akyol

Auch heute kennen wohl alle Türkeitämmigen die Woher-kommen-Sie-eigentlich-Dialoge; die Anstrengung, sich ständig erklären oder in einer Kneipe vor Wildfremden für die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rechtfertigen zu müssen. Noch immer ist hierzulande Integration wie ein Test: Wer einen „Fehler“ macht, fällt durch – wie die teils rassistische Debatte um den damaligen deutschen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil zeigte, der 2018 ein Foto von sich und seinem Nationalmannschaftskollegen Ilkay Gündoğan gemeinsam mit Erdoğan postete, das für ein Politikum sorgte.

Sie nehmen sich den Platz, der ihnen zusteht

Solche Auseinandersetzungen würden auch zeigen, dass die Integration auf einem guten Wege sei, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani von der Universität Osnabrück dazu im Spiegel. „Wenn Integration gelingt, wird die Gesellschaft nicht homogener, nicht harmonischer, nicht konfliktfreier. Im Gegenteil“. Die Minderheit säße nun mit am Tisch und fordere ihr Stück vom Kuchen. Zwar sind ein Thilo Sarrazin, der NSU, die anhaltende Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und die AfD hässliche Wahrheiten in einem Land, das von Türk:innen mit aufgebaut wurde. Trotz aller Ernüchterung ist es auch eine Realität, dass immer mehr sich den Platz nehmen, der ihnen zusteht. Türkeistämmige betreiben Arztpraxen, Kanzleien und Galerien – wofür ihre Großeltern und Eltern geschwitzt und sich hatten demütigen lassen.

Deutschland 2022 ist auch der Grüne Belit Onay, der 2019 zum Oberbürgermeister von Hannover gewählt wurde. Almanya sind auch die meinungsstarken Kreativen wie die kurdisch-türkische Künstlerin Elif Küçük und der Regisseur Fatih Akin. Pinar Atalay liest uns die Nachrichten vor und die Journalistin Ferda Ataman wendet sich in einem Interview mit einer klaren Ansage an die Mehrheitsgesellschaft: „,Die Forderung nach Integration soll nicht nur an Migranten gehen, sondern auch an die Einheimischen. Wer Integration fordert, muss Platz machen im Clan der Deutschen und lernen zu teilen. Nicht nur Jobs auf dem Bau – auch die Chefposten.“