Die jahrelange Uneinigkeit in der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union scheint durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zumindest zeitweise ausgesetzt: Europa nimmt Flüchtende aus der Ukraine unbürokratisch auf, handelt kooperativ und gewährt ihnen Zugänge und Teilhabechancen. Das wirkt integrativ – und kann wichtige Impulse für das bestehende Asylsystem liefern.
Am 4. März 2022 reagierten die EU-Minister:innen auf die „beispiellose Solidaritätswelle gegenüber den aus der Ukraine fliehenden Menschen“ (EU Communication 2022, 14) nach der russischen Invasion. Zum ersten Mal setzten sie die „Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“ in Kraft und erklärten zusätzlich, die Ukrainer:innen könnten sich in der EU frei bewegen und niederlassen, ähnlich wie europäische Bürger:innen. Sie werden unterstützt und können arbeiten. Der Beschluss löste ein allgemeines Gefühl der Erleichterung aus. Statt des Gegeneinanders der Staaten, der Schikanen an einigen Außengrenzen, der langen Wartezeiten in Asylzentren und der überbordenden Bürokratie gibt es für die Ukrainer:innen eine schnelle und solidarische Aufnahme. Erleichtert wurde die rasche Aufnahme durch die Visafreiheit für Ukrainer:innen in der EU seit 2017 und die vielen Verbindungen, die seitdem aufgebaut worden sind. Dies gilt nicht nur für Nachbarländer wie Polen, wo die meisten Ukrainer:innen arbeiten, sondern auch für Länder wie Italien und Spanien, wo viele Pflegekräfte Familien betreuen.
Überall in Europa boten Menschen Geflüchteten aus der Ukraine Wohnungen an und luden sie zu sich nach Hause ein. Freiwillige fuhren an die ukrainische Grenze, brachten Versorgungsgüter und holten Flüchtlinge ab. Aktivist:innen gründeten Vermittlungsbörsen, auf denen sich Wohnungsanbietende und Flüchtlinge treffen und vernetzen können. Auf diese spontane und wohlorganisierte Weise konnten viele Geflüchtete in den ersten Tagen oder Wochen Halt und Stabilität finden, „eingebettet sein“, wie es Lukas Kunert formulierte, einer der Gründer von „unterkunft-ukraine.de“. Private Netzwerke funktionierten schnell und unkompliziert, auch für Jobvermittlung. Die Deutsche Bahn ebenso wie die anderen europäischen Bahnen ließen Ukrainer:innen frei reisen. Im Berliner Hauptbahnhof wurden wenige Tage nach Kriegsbeginn täglich zehntausend Flüchtlinge versorgt und in Unterkünfte vermittelt, von engagierten Freiwilligen zusammen mit städtischen Ämtern. Berlin stellte am 10. März ein Ankunftszelt vor dem Hauptbahnhof auf und eröffnete am 20. März am ehemaligen Flughafen Tegel ein Erstunterbringungs- und Weitervermittlungs-Zentrum.
Wegen der Visa-Freiheit und überragenden Rolle der bürgerschaftlichen Hilfe kam die staatliche Verteilung erst sekundär zum Einsatz, der „Königsteiner Schüssel“ erst verspätet zum Zug. Wissenschaftler:innen bezweifeln schon lange, ob es die schematische Zuweisung von Flüchtlingen und die Ortsbindung integrativ wirken, weil sie die Bindungen, Verbindungen, Ambitionen und Potenziale zu wenig berücksichtigt, ebenso wie die Aufnahmefähigkeiten des Arbeitsmarktes. Mit der neuen Mischung von spontaner Aufnahme und nachrangiger staatlicher Unterstützung besteht die Chance, integrativer und effizienter zu verfahren.
Aufnahmepolitiken in der EU
Die meisten Flüchtlinge kamen zunächst in den direkten Nachbarstaaten an und nur dafür gibt es exakte Zahlen. Bis zum 5. April kamen zweieinhalb Millionen Ukrainer:innen nach Polen, 654.000 nach Rumänien, 399.000 nach Moldawien, 399.000 nach Ungarn und 302.000 in die Slowakei. Insgesamt zählte der UNHCR 4.279.000 ukrainische Flüchtlinge im Ausland (Situation Ukraine Refugee Situation). Im armen Moldawien machen die Flüchtlinge sechzehn Prozent der Bevölkerung aus – ein Höchststand, auf den Norwegen und Deutschland mit direktem Ausfliegen von Flüchtlingen reagierten. Polen nutzt sein Registriersystem für ukrainische Arbeitskräfte und eröffnet damit Zugang zur Arbeit und zur Sozialhilfe. Ein derart einfaches System erleichtert die administrative Erfassung und das Leben für die Flüchtlinge. Italien hat den Katastrophenfall ausgerufen, um die staatlichen Mittel effektiv einsetzen zu können. Die Schweiz und Österreich erließen besondere Verordnungen, um die neue Situation umfassend zu regeln.
In Deutschland führte erst die Bund-Länder-Konferenz am 7. April zur Klärung. Ukrainische Flüchtlinge werden in die Sozialhilfe (Hartz IV) integriert und bekommen damit Zugang zur Arbeitsvermittlung, statt wie zunächst ins Asylbewerberleistungsgesetz eingeordnet zu werden, das vor zwanzig Jahren abschreckend konzipiert worden ist. Die bisherigen Bescheide müssen alle geändert werden – ein umständlicher Vorgang des „Rechtskreiswechsels“. Bei der anstehenden Gesetzesänderung kann auch § 14 (6) Aufenthaltsgesetz korrigiert werden, der im Gegensatz zu geltendem europäischen Recht ein Arbeitsverbot formuliert. Das hat anfangs vielfach zu Verwirrung geführt. Auch die Krankenversicherung wird mit der Änderung inklusiv geregelt. Generell gab es zu Beginn der Krise ein Kommunikationsdefizit auf Bundesebene. Erstaunlicherweise nahm das BAMF bis zum 5. April auf seiner Website überhaupt keinen Bezug auf die Ukrainer:innen, ganz im Gegensatz zu anderen Asylbehörden.
Erstaufnahme und Versorgung funktionieren kooperativer als 2015, es gibt kaum Ablehnung. Die Behörden kümmern sich um die Menschen, die keine private Aufnahme finden, und versuchen zunehmend, sie über das Land zu verteilen. Staaten, Helfer:innen und Behörden arbeiten zusammen und bewältigen die plötzliche Herausforderung, rasch Millionen Menschen aufzunehmen und zu versorgen. Die Schweiz, Norwegen und Island schlossen sich der EU an und öffneten ebenfalls ihre Grenzen.
Wie die Situation ohne die Öffnung ausgesehen hätte, demonstriert Großbritannien. Dort meldeten sich rasch hundertfünfzigtausend Familien, um Ukrainer:innen aufzunehmen, aber die Regierung hält an ihrem Visasystem fest und macht die Einreise extrem kompliziert. Ende März hatte Großbritannien ganze 4700 Visa ausgestellt. Die USA haben die Aufnahme von 100.000 Ukrainer:innen angekündigt, allerdings gab es schon Anfang April Bearbeitungsstaus an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Ukrainer:innen können nämlich mit Touristenvisa nach Mexiko fliegen, aber die amerikanischen Behörden nehmen in Tijuana nur hundert Anträge pro Tag an. Kanada verabschiedete ein Settlement-Programm für „temporary residents“, dass dem EU-System ähnelt, und plant, 14.000 Visa pro Tag auszugeben.
Die Schwächen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems seit 2015
Die allgemeine Erleichterung bezog sich auch auf die frustrierenden Erfahrungen mit dem Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) und der europäischen Uneinigkeit seit 2015, die nicht nur den Flüchtlingen Grenzen setzte, sondern auch den Zusammenhalt der EU und die Offenheit der Grenzen gefährdete. Die Länder standen in einem Abschreckungs-Wettbewerb mit dem Ziel, möglichst wenig Flüchtlinge auf das eigene Territorium gelangen zu lassen. Einige EU-Staaten nahmen gar keine Flüchtlinge auf und verletzten offensiv EU-Recht. In anderen wurden Asylbewerber:innen an der Grenze misshandelt und ihrer Wertsachen beraubt. Die Europäische Union scheiterte seit 2015 an einer gemeinsamen Asylpolitik, deren rechtliche Grundlagen über Jahrzehnte aufgebaut worden waren. Erst der russische Angriff auf die Ukraine und die dadurch ausgelöste humanitäre Katastrophe führte zu einer Einigung, auch dadurch erleichtert, dass die bisher ablehnenden Staaten nun selbst Millionen Flüchtlinge an und in ihren Grenzen hatten und auf Unterstützung angewiesen waren.
Auch innerhalb der Aufnahmeländer gab es Probleme mit dem Asylsystem. In Deutschland benötigte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2021 im Durchschnitt 6,6 Monate, um zu einer Entscheidung zu kommen, einschließlich der anschließenden Gerichtsverfahren dauerte es 24 Monate (BT-Drs. 20/940). Drei Viertel der ablehnenden Entscheidungen des Bundesamtes wurden beklagt und in 31,2 Prozent der von den Gerichten entschiedenen Fälle wurden im Jahr 2020 die Entscheidungen des Bundesamtes aufgehoben, bei Afghan:innen waren es 60,0 Prozent – eine erstaunliche Prozentzahl.
Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und Staat wirkt integrativ
Vergleicht man die Integrationswirkung des bisherigen Asylsystems und der Aufnahme der Ukrainer:innen nach den EU-Beschlüssen 2022, so fallen entscheidende Unterschiede auf. Die ukrainischen Flüchtlinge haben sofort vollen Zugang zu Arbeit, Schule und Bildung. Sie werden weitgehend EU-Bürger:innen gleichgestellt und können sich frei in der EU bewegen und niederlassen. Familienzusammenhänge und freundschaftliche Beziehungen können integrativ wirken. Das betrifft insbesondere Wohnung, materielle Unterstützung und medizinische Versorgung. Die bürgerschaftliche Hilfe, die in Deutschland ebenso wie in anderen Aufnahmeländern spontan entstanden ist, wird von den Staaten anerkannt und geschätzt. Es entwickelt sich ein kooperatives Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat, und zwar mit großem menschlichem Einsatz und hoher Effizienz. Es ist offensichtlich, dass einerseits die Behörden allein die Flüchtlinge nicht versorgen und beraten könnten und dass andererseits staatliche Organisation und staatliche Mittel unverzichtbar sind. Diese positive Kopplung zwischen freiwilligem Engagement und staatlicher Organisation ist produktiv und integrativ. Immer wieder ist die Kombination von bürgerschaftlichem Sponsoring und staatlicher Förderung in Kanada als Erfolgsmodell gepriesen worden, sowohl in Bezug auf die Effektivität der Integration als auch in Bezug auf die Akzeptanz in der Gesellschaft. Eine ähnliche Mischung kann nun auch in Europa greifen.
Die Aufnahme der Ukrainer:innen in Europa ist zwar „zeitweilig“, wird aber langfristige Wirkungen haben. Je mehr Zerstörungen es in der Ukraine gibt und je mehr Territorium Russland besetzt hält, desto mehr Ukrainer:innen werden in Europa bleiben und Wurzeln schlagen. Ihr Status als Quasi-EU-Bürger:innen dürfte bei einem Friedensschluss erhalten bleiben, als Vorstufe zu einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Viele von ihnen werden arbeiten und soziale Rechte erwerben.
Asylsystem und „zeitweilige Aufnahme“ der Ukrainer:innen 2022 – Regimevergleich
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Ukrainische Kriegsflüchtlinge nach EU-Richtlinie |
Asylsystem nach heutiger Rechtslage |
Entscheidungsart |
Aufnahme einer ganzen Kategorie von Menschen |
Entscheidung über einzelne Anträge |
Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit |
Freie Wahl des EU-Aufnahmelandes, Weiterwanderung möglich, Bewegungsfreiheit |
Land der ersten Antragstellung, Rücküberstellungen, Dublin-System, Einschränkungen während des Asylverfahrens. Nach Anerkennung Ortsbindung bei Sozialhilfebezug |
Aufnahmedauer |
Sofortige Aufnahme, bis 4. März 2023, Verlängerung um weitere zwei halbe Jahre, vorbehaltlich anderer Entscheidung des Rates |
Prüfung Asylantrag, dauerte 2021 durchschnittlich 6,6 Monate, Gerichtsverfahren 24 Monate. Bei positiver Entscheidung nach drei Jahren Standard-Überprüfung (wird abgeschafft). Bei negativer Entscheidung Ausreisebescheid, gegebenenfalls Duldung |
Sprachkurs |
Ja |
Unterschiedlich nach Herkunft bis zur Anerkennung, Koalition will Sprachkurs für alle |
Wohnen |
Private Aufnahme / Wohnung möglich, sonst behördliche Unterbringung |
Unterbringung in Aufnahmezentren bis zur Asylentscheidung |
Arbeit |
Sofort möglich (EU-Regelung) |
Wartefristen, unterschiedlich nach Herkunftsland |
Medizinische Behandlung |
Asylbewerberleistungsgesetz, bei Arbeitsaufnahme Krankenversicherung |
Asylbewerberleistungsgesetz, nach Anerkennung Krankenversicherung |
Kinder, Bildung |
Voller Zugang zum Bildungssystem, Länderregelungen |
Eingeschränkt während Asylverfahren, unterschiedlich in den Ländern, nach Anerkennung voller Zugang |
Familiennachzug |
Kernfamilie und im Familienverband lebende Personen |
Kernfamilie, Wartefristen, z.T. Einschränkungen |
Zivilgesellschaft und Staat |
Kooperative Zusammenarbeit, viele Flüchtlinge werden privat aufgenommen |
Helfer:innen arbeiten sich an der Asylbürokratie ab, Spannungsverhältnis |
Impulse für das bestehende Asylsystem
Wichtig werden auch die Impulse für das bestehende Asylsystem sein. Trotz vieler Willensbekundungen ist es nicht gelungen, die Asylentscheidungen zu beschleunigen oder in ihrer Qualität zu verbessern. Seit 2016 wollte die Bundesregierung die Asylverfahren beschleunigen und innerhalb von drei Monaten durchführen. Stattdessen hat sich das BAMF zu einer „Widerrufsbehörde“ entwickelt, wie Präsident Sommer es ausgedrückt hat. Die langen Verfahrenszeiten und die lange Unterbringung in Sammellagern sind vernichtete Lebenszeit, die die Integration belasten und verzögern. Der Vergleich mit der Aufnahme der Ukrainer:innen wird die Erfahrung vermitteln, dass es besser geht. Statt bürokratischer Verteilung bemühen sich nun Viele um das Matching zwischen Geflüchteten und Einheimischen, insbesondere auch Arbeitgeber:innen. In Deutschland kann das ein zusätzlicher Anstoß sein, die Reformvorhaben voranzutreiben, die sich die Ampel-Koalition ohnehin vorgenommen hat.
Wegweisend ist auch die Beschäftigung ukrainischer Lehrkräfte und Erzieher:innen, die in mehreren Bundesländern in Gang kommt. Damit wird zum ersten Mal die Abschottung des Bildungssystems gegenüber einwandernden Lehrkräften durchbrochen, die die Potenziale der Einwander:innen nicht aufnahm und Integration ethnozentrisch verstand. Mit den europäischen Regelungen wird auch die Beschränkung auf die Kernfamilie durchbrochen, die für das deutsche Einwanderungsrecht charakteristisch ist. Es kann auch die Großmutter mitkommen, die in der Familie lebt. Die Bund-Länder-Beschlüsse vom 7. April enthalten auch Anregungen zur schnelleren Anerkennung von Kompetenzen über Selbsteinschätzung. Gleiches gilt für Studien- und Arbeitsmöglichkeiten für ukrainische Student:innen und Forscher:innen und die Länderforderung für eine „temporäres Programm“ zur Verknüpfung von Angebot und Nachfrage.
Wieder durchlebt Europa eine Krise und kommt dabei zu neuen Lösungen, wie Gründervater Jean Monnet den europäische Integrationsprozess vor Jahrzehnten charakterisiert hat. Das schreckliche Geschehen in der Ukraine findet eine Antwort in neuer europäischer Offenheit. Zwar konnte die Ukraine nicht der EU beitreten, aber ihre Bürger:innen werden wie Europäer:innen behandelt.