Die Solidarität mit Flüchtenden aus der Ukraine ist europaweit enorm: Ihnen wird unbürokratisch und schnell geholfen und sie bekommen genau die Unterstützung, die Menschen auf der Flucht brauchen. Doch während den einen geholfen wird, wird anderen Schutz und Sicherheit in der EU verwehrt. Journalistin Miriam Tödter berichtet von den Unterschieden an der polnischen Grenze zur Ukraine und zu Belarus.
Es ist ermutigend, dass Europa aktuell scheinbar seine Humanität wiederentdeckt und geschlossen Solidarität mit den vielen Flüchtenden aus der Ukraine zeigt. Seit Beginn des Krieges mussten bereits über 3 Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen, die überwiegende Mehrzahl nach Polen, knapp 200.000 von ihnen nach Deutschland. Es ist die größte und am schnellsten wachsende Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. In Polen, Deutschland und vielen anderen Ländern der Europäischen Union werden Transporte organisiert, warme Nahrung ausgegeben, möglichst schnell möglichst gute Unterbringungen zu Verfügung gestellt und Überlegungen hinsichtlich zukünftiger Arbeitsplätze angestellt. Unzählige Einzelpersonen und zivilgesellschaftliche Gruppen überall in Deutschland sammeln Sachspenden, bringen geflüchtete Menschen in Privatwohnungen unter, engagieren sich als ehrenamtliche Willkommens-Helfer:innen zum Beispiel am Berliner Hauptbahnhof und organisieren Spenden-Events. Auch die Regierenden sind sich einig, dass die Einreise für die Flüchtenden direkt und unbürokratisch ermöglicht werden soll, ebenso das Ankommen am Ort ihrer Wahl. Erstmals wurde dafür auf EU-Ebene die Richtlinie für temporären Schutz aktiviert („Massenzustrom-Richtlinie“), die eine Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel ohne langwieriges individuelles Asylverfahren für Geflüchtete aus der Ukraine ermöglicht. In der Medienberichterstattung wird betont, dass die Menschen Schreckliches erlebt haben, tagelang auf der Flucht waren und nun Sicherheit und Empathie brauchen. All das ist wunderbar, und all das ist richtig. Genau diese Art der Unterstützung brauchen Menschen auf der Flucht, die ihr Zuhause verlassen mussten, die jegliche Sicherheit und alles Vertraute verloren haben.
Doch gleichzeitig werden Menschen an diesen und anderen Grenzen nach wie vor mit Brutalität und Härte daran gehindert in Europa Sicherheit zu finden. Während wir die einen mit offenen Armen empfangen, schotten wir uns gewaltsam gegen die anderen ab. An der polnisch-ukrainischen Grenze werden geflüchtete Menschen mit ukrainischem Pass in der EU willkommen geheißen. Ab der deutschen Grenze werden sie kostenlos von der Deutschen Bahn an die Orte ihrer Wahl transportiert, an den Bahnhöfen mit viel Hilfsbereitschaft empfangen und so gut wie irgend möglich versorgt. Schwarze Menschen und People of Colour, die ebenfalls vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen müssen, haben es da schon deutlich schwerer. In Polen kommen sie nur schwer in die offiziellen Busse und Züge, an der deutschen Grenze werden sie „aussortiert“ und müssen aussteigen. Für Drittstaatenangehörige ohne unbefristeten Aufenthalt in der Ukraine, wie etwa ausländische Studierende, gilt zudem die EU-Richtlinie für temporären Schutz nicht. Und an der gleichen polnischen Außengrenze der Europäischen Union, nur zwei Autostunden weiter nördlich, warten wieder andere Menschen auf der Flucht aus anderen Kriegs- und Krisenregionen im Wald, und erhalten weder Schutz noch Sicherheit in der EU.
Wie kann es sein, dass wir die einen willkommen heißen, und die anderen nicht? Wir haben es mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung hinbekommen, die vielen Hunderttausende ukrainischen Menschen schnell und direkt zu unterstützen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen müssen. Warum tun wir das nur für sie, und nicht für alle Menschen, die vor Krieg, Gewalt, Unterdrückung oder anderer Bedrohung an unsere Grenze fliehen? "'Scheinheilig' ist noch eine sehr milde Bezeichnung dafür, wie Europa sich verhält", sagt der chinesische Künstler und Aktivist Ai Weiwei über diese Diskrepanz.
Mit dem Hilfstransporter an die Ostgrenze der EU – Eine Grenze, viele Unterschiede
Vor wenigen Tagen fuhr ich auf der polnischen Autobahn gen Westen, voller Eindrücke, Gedanken und Gefühle von einer Tour entlang der polnischen EU-Außengrenze. Auf jedem Rastplatz sind Autos und Kleinbusse mit Menschen aus der Ukraine. Ein sehr kleines Mädchen mit großem Stoffhasen ist mit erschöpft aussehender Mutter und Großmutter unterwegs. Als sie meinen Hund Wusel erblickt, hellt ihr kleines Gesicht sich auf und sie schaut sehnsüchtig. Ich nähere mich ihnen, hocke mich hin und zeige ihr wortlos, wie man Wusel streicheln kann. Mit staunend-glücklichem Blick streichelt sie seinen Kopf, kuschelt sich ein wenig an ihn und scheint für einen Moment alles andere zu vergessen.
Ein Moment des Innehaltens und des Glücks, der auch mir zum Abschluss unserer Fahrt sehr gut tut, denn eigentlich überwiegen Trauer, Wut, Empörung und Fassungslosigkeit am Ende dieser Tour an die Ostgrenze der Europäischen Union. Ich habe einen LKW voller Hilfsgüter der Brandenburger Hilfsorganisation „Wir packen’s an“ begleitet, erst zu einer humanitären Verteilstation nach Cieszanów an der Grenze zur Ukraine, danach zu Aktivist:innen der Grupa Granica nach Hajnówka an der Grenze nach Belarus. An beiden Orten versuchen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Unterdrückung und anderen Gefahren in die Sicherheit der EU zu gelangen. Doch der eklatante Unterschied zwischen dem Empfang an diesen beiden Orten, die nur ein paar Stunden Autofahrt auseinander liegen, an der gleichen polnischen EU-Außengrenze, ist unerträglich. An der Grenze zur Ukraine geben polnische Grenzsoldaten geflüchteten Kindern ihre Jacke, damit sie nicht frieren - an der Grenze zu Belarus prügeln polnische Grenzsoldaten kranke geflüchtete Jugendliche wie den fünfzehnjährigen Salim aus dem Jemen zurück nach Belarus, wie mir eine Helferin der Grupa Granica berichtete.
Wir haben zuerst Cieszanów angesteuert, ein Ort nahe der ukrainischen Grenze. Eine polnische Gruppe, die eigentlich Folk Festivals organisiert, hat dort einen Verteilpunkt für humanitäre Hilfsgüter aufgebaut, mit Lagerhalle, Sortierstrecken, Büro, Besprechungsraum, einer Art Kantine und einem großen Parkplatz davor. Als wir morgens dort ankommen werden in schneller Taktung LKWs, die Hilfsgüter liefern, entladen und Transporter, die anschließend zur ukrainischen Grenze fahren, mit sortierten Hilfsgütern beladen. Es gibt viel zu tun, unzählige freiwillige Helfer:innen rennen hin und her und schleppen Kartons, in der Kantine werden wie am Fließband belegte Brote geschmiert. Ich treffe zwei Vertreter einer israelischen Hilfsorganisation, die unterstützen wollen, davor waren welche aus den Niederlanden da. Nicht nur (fast) ganz Polen will hier helfen, sondern auch (fast) ganz Westeuropa.
Von hier aus werden die Menschen auf der Flucht aus der Ukraine versorgt, die auf der ukrainischen Seite der Grenze bis zu vier Tagen warten müssen, bis sie die Grenze nach Polen überqueren dürfen. Am Abend zuvor hat es begonnen zu schneien, selbst die Tagestemperatur ist unter null Grad. Ich spreche mit einem der Koordinatoren, Arek, über die Hilfseinsätze im ukrainischen Grenzgebiet. Sein Eindruck: "Den Leuten in der Ukraine geht es schlecht. Aber den Leuten, die jetzt im Schnee tagelang an der Grenze anstehen, geht es noch viel schlechter. Jeden Tag gibt es am Grenzübergang Budomierz mindestens 5 Fälle von schwerer Unterkühlung." Er berichtet auch, dass schon mehrere Menschen dabei an Unterkühlung gestorben seien, doch da er mir dafür keinerlei Belege zeigen kann, behandle ich das erstmal mit Vorsicht.
Grenze zu Belarus – fehlender Schutz und fehlendes Interesse
Von Cieszanów geht es weiter nach Norden Richtung Hajnówka nahe der belarussischen Grenze. Der Schnee wird immer dichter, die Straßen sind weiß, noch 100 km über Land. Kaum ist die belarussische Grenze neben unserer Route und nicht mehr die ukrainische, stehen an jeder Kreuzung Polizeifahrzeuge. Als wir uns Hajnówka nähern, wird der Transport das erste Mal von einer Polizei- und Militärkontrolle angehalten. Was im Laderaum ist, wollen sie wissen, und die Fahrerin muss die Ladeklappe öffnen. Nach einem kurzen Blick in den Laderaum können wir jedoch weiter fahren. Eine halbe Stunde später sind wir endlich am Ziel, mittlerweile ist es stockdunkel und bitter kalt. Für einen Moment bewundern wir den klaren Sternenhimmel und die Stille, doch der Gedanke „Wie fürchterlich und lebensbedrohlich muss es sein, jetzt ohne Schutz und Wärme im Wald übernachten zu müssen“, dämpft sehr schnell die Stimmung. Hier warten keine anderen LKWs, die Hilfsgüter bringen. Außer der Fahrerin und mir und der wunderbaren polnischen Aktivistin Monia, die uns schon erwartet hat, ist niemand da. Nachdem wir zu dritt alles ins Haus geschleppt haben, setzten wir uns in die Küche, trinken Tee und reden, vor allem über die aktuelle Situation, den Krieg in der Ukraine, die Ängste und Sorgen vieler Menschen in Polen davor, die nächsten Opfer dieses Angriffskrieges zu werden.
Und dann die Frage, die mich natürlich besonders interessiert: „Wie ist denn die Situation hier an der Grenze nach Belarus? Hat sich etwas verändert seit dem Krieg in der Ukraine?“ Monias Gesicht fällt in sich zusammen, jede Leichtigkeit verschwindet, und je länger sie redet desto öfter stehen auch mir die Tränen in den Augen. Sie berichtet, dass gerade wieder vermehrt Menschen auf der Flucht von Belarus aus über die Grenze nach Polen kommen, und zwar etwas weiter nördlich, als das bisher der Fall war. Dort ist die Grenzmauer noch nicht so weit gebaut, aber dort liegen auch ausgedehnte Sumpfgebiete, die besonders in der Dunkelheit lebensgefährlich sind. Das bedeutet, die Menschen riskieren nicht nur durch die Kälte ihr Leben, denn im Moment liegt Schnee und nachts sind minus acht Grad, sondern sie riskieren zusätzlich in diesen Sümpfen zu versinken. Deshalb benachrichtigen die freiwilligen Helfer:innen jetzt selbst die offiziellen Rettungskräfte, wann immer ein Hilferufe bei ihnen eingeht, um das Leben der Menschen in dieser unzugänglichen Region zu retten. Mithilfe von Militärdrohnen werden die Menschen dann zwar gefunden, doch: „Die Chancen, ob die Leute dann gepushbackt werden oder nicht, die sind so ungefähr fifty fifty. Das hängt davon ab, ob wir es schaffen, Journalist:innen zu gewinnen, dass sie mitkommen, wenn die Leute gefunden werden. Damit das dokumentiert wird und dadurch die Chance steigt, dass die Geflüchteten nicht illegal gepushbackt werden“, erläutert Monia.
Mittlerweile gibt es jedoch kaum noch Medieninteresse an der Situation an der belarussischen Grenze. Im Gegensatz zum Ende letzten Jahres, als Journalist:innen aus ganz Europa sich darum rissen, auf die Notrufliste der Grupa Granica aufgenommen zu werden. Viele erhofften sich, durch die Teilnahme an diesen „Interventionen“ die begehrten Fotos von Geflüchteten im Wald machen zu können. Seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine gibt es allerdings keine Journalist:innen mehr, die dafür zur Verfügung stehen.
Diejenigen Menschen, die das Glück haben in Polen anzukommen und nicht illegal zurück nach Belarus gezwungen zu werden, brauchen dringend juristischen Beistand. Bisher gab es polnische Anwält:innen, die ihre Fälle pro bono betreut haben. Seit der Krieg in der Ukraine begonnen hat, stehen sie allerdings nicht mehr zur Verfügung.
Das bedeutet die Journalist:innen sind weg, weil sie über den Krieg in der Ukraine und seine Folgen berichten wollen, die Anwält:innen stehen nicht mehr zur Verfügung, weil sie Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten, unterstützen wollen. Doch die Menschen, die versuchen über Belarus zu flüchten, kommen immer noch, und erhalten dadurch noch viel weniger Unterstützung als zuvor.
Und dann gibt es noch eine neue Entwicklung, von der Monia sichtlich erschüttert berichtet: „Vor ein paar Tagen haben wir eine junge Frau aus dem Irak gerettet. Sie hat uns erzählt, dass sie auf der belarussischen Seite wiederholt von belarussischen Soldaten vergewaltigt worden ist. Das war auch für uns ein totaler Schock, weil das für uns das erste Mal war, dass wir sowas mitgekriegt haben. Daraufhin haben wir angefangen ein bisschen genauer zu gucken und behutsam Gespräche zu führen. Dadurch stellte sich heraus, dass in anderen Gruppen junge Männer dabei waren, die auch mehrfach vergewaltigt wurden auf der belarussischen Seite, von belarussischen Soldaten, und dass sie alle aus dem gleichen Lager ‚Bruzgi‘ in Belarus kamen. Es sind also mehrere Menschen in den letzten Tagen gekommen, die dort wiederholt von belarussischen Militärs vergewaltigt worden sind. Das klingt nach einer total gruseligen neuen Entwicklung.“ Ich bin sprachlos, entsetzt, denn es war kaum vorstellbar, dass diese ohnehin schon menschenunwürdige Situation für Flüchtende noch schlimmer werden könnte.
Die Bedingungen europäischer Solidarität
Was nehme ich also mit von dieser Tour entlang der EU-Ostgrenze, über den Zustand der europäischen Solidarität mit Menschen auf der Flucht? Ich nehme die Erkenntnis mit, dass die europäische Solidarität an viele Bedingungen geknüpft ist: Wenn du fliehen, dein Zuhause und Teile deiner Familie verlassen und Gefahren auf der Flucht auf dich nehmen musst, wenn du verzweifelt Sicherheit und Zuflucht suchst, dann muss du ganz schön viele Voraussetzungen erfüllen, damit du zu uns in die Europäische Union kommen darfst, willkommen geheißen wirst, Versorgung und Unterstützung erhältst und wirklich „ankommen“ kannst. Diese „Checkliste“, nach der auch gegenwärtig wieder an der polnischen EU-Außengrenze Menschen selektiert werden, ist ganz einfach: Du musst vor dem richtigen Feind fliehen, nicht muslimisch sein, weiß und europäisch aussehen, nicht männlich sein – dann geben wir dir das, was jeder Mensch auf der Flucht braucht. Ansonsten musst du hungern, dursten, verlierst deine Menschenrechte, wirst gequält, gefoltert, vergewaltigt und schlimmstenfalls verlierst du dein Leben.
Als ich den ukrainischen Frauen und Kindern bei unserer Rückfahrt auf dem Parkplatz begegne, sehe ich ihre Erschöpfung, die müden, angestrengten Gesichter, das wenige Gepäck, das sie bei sich haben, und fühle mit ihnen. Das ist ganz einfach und erfordert überhaupt kein Nachdenken. Warum fällt es so vielen von uns so schwer, diese Empathie und Solidarität allen Menschen zu zeigen, die in Not und auf der Suche nach Sicherheit an unsere Grenzen fliehen?