Über Verbrechen schreiben

Interview

Die Autorin Ronya Othmann schreibt in ihren Werken über die Verbrechen, die an Jesid:innen begangen wurden. Im Zwischenraum-Interview spricht sie über Verfolgungsgeschichten, die in Familien weitergegeben werden, über Erinnerung und Fiktion und über die Frage, warum sich Feministinnen im Westen so schwer tun, die Kämpfe von Jesidinnen, Afghaninnen und Iranerinnen zu unterstützen.

Portrait von Ronya Othmann
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Ronya Othmann | © Cihan Cakmak

Safiye Can und Hakan Akçit: Liebe Ronya, du bist Autorin und Journalistin. Deine Kolumne Import Export erscheint regelmäßig in der FAZ. Dein Roman Die Sommer erschien 2020 und wurde im selben Jahr mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet. Ein Jahr später erschien dein Lyrikband die verbrechen, für den du 2022 u.a. den Orphil-Debütpreis erhieltst. In deinen Werken thematisierst du den Genozid an den Jesid:innen. Welche Unterschiede gibt es in der Auseinandersetzung mit diesem Thema in den jeweils verschiedenen literarischen Gattungen Epik und Lyrik?

Ronya Othmann: Vereinfacht gesagt, in der Epik erzählt, in der Lyrik besingt man. Obwohl man ja beides nicht so sehr voneinander trennen kann. Es gibt ja auch hybride Formen. Ich habe von Anfang an Gedichte und Erzählungen gelesen und geschrieben. Ich brauche beides. Die eine Form kann etwas, was die andere nicht kann, und umgekehrt. Ich bin beim Schreiben aber nicht von einem abstrakten Thema ausgegangen. Beim Roman war am Anfang das Dorf, und nicht die Idee einen Roman zu schreiben. Ich habe vom Dorf erzählt, und daraus hat sich dann die Geschichte entwickelt. Bei den Gedichten stand am Anfang diese Landschaft. In den Gedichten habe ich etwas fortgeschrieben, was im Roman schon angelegt war und umgekehrt.
 
In deinem Roman Die Sommer schilderst du das Leben einer kurdisch-jesidischen Familie aus Syrien, ihre Flucht nach Deutschland und den Völkermord an den Jesid:innen. Dein Vater ist jesidischer Kurde aus Hassake (Syrien). Wie viele persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Familiengeschichten fließen in deinen Roman ein?

Leyla, die Hauptfigur meines Romans, ist fiktiv. Aber das Dorf, von dem ich erzähle, das gibt es wirklich. Vieles basiert auf dem, was ich gesehen habe oder was mir erzählt wurde. Ich habe auch darüber hinaus recherchiert. Das Leben in der Assad-Diktatur, der Krieg in Syrien, die Verbrechen der Islamisten, all das wird im Roman ja verhandelt. Da trägt man auch eine gewisse Verantwortung. Die historischen Fakten, die politischen Vorgänge, die müssen natürlich stimmen.

Die Frage, wie fiktiv oder wie autobiographisch der Roman ist, interessiert mich dabei nicht so. Erinnerung ist immer auch fiktiv. Ich habe versucht etwas Wahres zu erzählen. Und die Wahrheit liegt für mich in der Fiktion. Am Anfang des Romans heißt es „Eine Geschichte erzählt man immer vom Ende her, auch wenn man mit dem Anfang beginnt.“

Dein aktueller Lyrikband trägt den Titel die verbrechen. Neben den Verbrechen an den Jesid:innen thematisierst du in deinen Gedichten auch weitere Verbrechen. Welche sind das?

Der sogenannte IS beging eine Vielzahl an Verbrechen. An den Jesid:innen verübte er einen Genozid, er zerstörte antike Kulturschätze, setzte ganze Felder in Brand, sprengte Kirchen, Friedhöfe, die Schreine der Schiiten. Er hinterließ verbrannte Erde. Er zerstörte alles, was nicht seiner totalitären faschistischen Ideologie entsprach. Doch der IS ist nicht der einzige Verbrecher in der Region. Dort, wo der IS tötete, bombardiert heute die Türkei. Und vor dem IS mordete al-Qaida und vor al-Qaida war es Saddam Hussein. Das Herkunftsgebiet der Jesid:innen liegt in Kurdistan. Die türkische, syrische und irakische Grenze verläuft durch dieses Gebiet. Doch die Grenzen wurden erst im 20. Jahrhundert gezogen und viele Jesid:innen hatten Verwandte auf der anderen Seite. Hinzu kommt die lange Verfolgungsgeschichte. Minderheiten wie die Jesid:innen wurden schon in vorherigen Jahrhunderten von Islamisten verfolgt. Die Erzählungen von Verfolgung werden in den Familien weitergegeben. Das alles findet seinen Wiederhall auch in den Gedichten.
 
Und dennoch scheint die politische Linke in Deutschland zögerlich zu sein, wenn es um die Kritik am Islamismus geht?

Ja. Man hat Angst, dass man damit den Rechten in die Hände spielt. Die Rechten instrumentalisieren ja gerne den Islamismus für ihre rassistische Hetze. Gleichzeitig gibt es islamistische Akteure, die mit dem Vorwurf des antimuslimischen Rassismus, jegliche Kritik von sich weisen und Kritiker*innen diffamieren.

Das Problem ist aber auch mangelndes Wissen. Ein Beispiel ist der Moschee-Verband DITIB. Viele wissen nicht einmal, dass DITIB nicht unabhängig ist, sondern der türkischen Religionsbehörde Diyanet angehört und die wiederum direkt Erdogan untersteht. Oder was die Muslimbruderschaft ist. Und dass es verschiedene, teils untereinander verfeindete Strömungen des Islamismus gibt.
 
Seit September 2022 protestieren die Menschen im Iran gegen das Mullah-Regime. Was als Protest nach der Ermordung von Jîna (Mahsa) Amini begann, hat sich zu einem landesweiten Aufstand gegen das Regime entwickelt. Ist die Solidarität der Weltgemeinschaft bzw. der EU mit den Menschen im Iran deiner Meinung nach ausreichend? Welche zusätzliche Unterstützung wünschst du dir für die Menschen im Iran?

Erst einmal zu Jîna (Mahsa) Amini: ich finde es immer auch sehr wichtig, ihren kurdischen Namen zu nennen. So, wie ihre Eltern sie nannten und nicht nur den offiziellen, persischen Namen „Mahsa“, den die Behörden duldeten. Und zu deiner Frage: Nein, so lange noch Menschen im Iran eingesperrt, gefoltert und getötet werden, ist es nicht genug. Ich denke es muss ein grundlegendes Umdenken stattfinden, was den Iran betrifft. Das Regime ist nicht nur eine Katastrophe für die Menschen im Iran, sondern für die gesamte Region. Sehen wir doch nur mal nach Syrien, in den Irak, dem Libanon und Jemen: der Export von Terror, der Aufbau von Proxymilizen. Das iranische Regime ist kein Stabilitätsfaktor in der Region, es ist das Gegenteil.

Die EU und die Weltgemeinschaft sollten endlich danach handeln. Zum Beispiel sollten die Revolutionsgarden endlich auf die EU-Terrorliste gesetzt werden. Und auch in Deutschland sollten Regime-Gegner besser geschützt werden. Das Islamische Zentrum Hamburg wird vom Landesverfassungsschutz als „Außenposten des iranischen Mullah-Regimes in Europa“ eingestuft. Vom IZH geht auch Gefahr für Regime-Gegner in Deutschland aus. Das ist seit Jahren bekannt. Trotzdem wurde es noch nicht geschlossen.

Wieso verläuft die feministische Unterstützung des Westens schleppend bei Jesidinnen, Afghaninnen und Iranerinnen?

Da wundere ich mich auch immer darüber. Ich denke man dreht sich hier ein wenig sehr um sich selbst und ist in feministische Grabenkämpfe verstrickt. Die Jesidinnen, Afghaninnen und Iranerinnen scheinen weit weg. Bisweilen passt es auch nicht ins eigene Weltbild, wenn die Frauen im Iran beispielsweise gegen den Kopftuch-Zwang demonstrieren und die Gewalt nicht von „alten weißen Männern“ ausgeht. Ein weiterer Grund mag sein, dass der Terror des IS, der Taliban oder des iranischen Regimes nun wirklich keine einfachen Themen sind. Da geht es um grundlegende Menschenrechte, die diesen Frauen verwehrt werden, um brutalste Verbrechen. Die haben in einem Lifestyle-Feminismus kaum Platz. Das ist aber allgemein ein Problem. Nicht nur, was die Jesidinnen, Afghaninnen und Iranerinnen betrifft. Wenn wir uns zum Beispiel die chronische Unterfinanzierung von Frauenhäusern in Deutschland ansehen. Diese Themen sind vielleicht nicht so sexy, aber wichtig.

Buch-Cover von "die verbrechen" von Ronya Othmann

Ronya Othmann arbeitet als Autorin und Journalistin, schreibt Lyrik, Prosa und Essay. Mit Cemile Sahin schreibt sie zusammen die Kolumne OrientExpress in der taz. Sie war Mentee im Mentoring-Programm der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Seit März 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Kolumne Import Export.

Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Lukas 2015, dem MDR-Literaturpreis 2015, dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essay 2017 und den Open Mike für Lyrik. 2019 erhielt sie den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb für ihren Text Vierundsiebzig über den Genozid an den Ezîden und den Gertrud Kolmar Förderpreis für ihr Gedicht Ich habe gesehen. 2015 organisierte sie die kurdischen Filmtage Leipzig und 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok, Kurdistan, Irak. Nach ihrem Roman Die Sommer erschien 2021 ihr erster Gedichtband die verbrechen im Carl Hanser Verlag.

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Du bist Gründungsmitglied des PEN-Berlin und wurdest ins Board gewählt. Wie unterstützt der PEN-Berlin verfolgte oder inhaftierte Autor:innen? Wie kann man z.B. im Fall des deutsch-iranischen Journalisten Djamshid Sharmahd helfen, der kürzlich seitens des Regimes zum Tode verurteilt wurde?

Die Arbeit des PEN konzentriert sich im Grunde auf die zwei Bereiche „Writers in Prison“ und „Writers in Exile“. Wir tun, was wir können. Das sieht von Fall zu Fall anders aus. Bei inhaftierten Autor:innen und Journalist:innen, kann man oft nicht mehr machen, als auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Öffentlicher Druck kann schützen. Vor ein paar Wochen haben wir die beiden Rapper Toomaj Salehi und Saman Yasin, die gerade im Iran im Gefängnis sitzen, misshandelt werden und denen die Todesstrafe droht, als Ehrenmitglieder in unserem Verein aufgenommen. Wir haben Musiker um Solidaritäts-Videos gebeten und versuchen weiter auf ihren Fall aufmerksam zu machen. Andere Kolleg:innen brauchen Unterstützung dabei das Land zu verlassen. Das heißt, Visum, Wohnung, Stipendium, Sprachkurs. Eventuell kommen sie mit der Familie, dann müssen die Kinder eingeschult werden, oder sie brauchen psychologische Unterstützung, eine Traumatherapie und weitere Behandlungen. Später stellen sich dann noch andere Fragen. Die Literatur kennt zwar keine Ländergrenzen, aber Autor:innen sind ja meist an eine bestimmte Sprache gebunden. Unsere Kolleg:innen brauchen Unterstützung bei der Integration in den deutschen Literatur- und Kulturbetrieb. Sie sind ja meist wegen ihrer Arbeit geflohen. Das Exil soll sie nicht mundtot machen. Wir wollen, dass sie ihre Arbeit hier fortsetzen können.

Unseren Verein gibt es seit noch nicht einmal einem Jahr. Wir sind immer noch dabei unsere Arbeit aufzubauen. Letztes Jahr konnten wir die kurdische Lyrikerin Meral Simsek in Berlin begrüßen, worüber wir sehr froh sind. In der Türkei säße sie heute nämlich sonst wegen ihrer Texte im Knast. Was wir tun können, hängt aber immer auch von den uns zur Verfügung stehenden Mitteln ab. Im Moment arbeiten wir ausschließlich ehrenamtlich. Zu Deiner Frage, nach Djamshid Sharmahd: er ist auch deutscher Staatsbürger, da muss auch insbesondere die Bundesregierung dringend alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu retten.