Palästinenser*innen in Deutschland: Tabus brechen und Traumata thematisieren

In Deutschland lebt die größte palästinensische Gemeinschaft Europas. Die meisten von ihnen verfügen in ihrer Familiengeschichte über mehrfache Vertreibungserfahrungen. Ausgehend von ihrer Dissertation, untersucht Sarah El Bulbeisi wie sich dabei Tabu und Trauma über Generationen hinweg bedingen.

Ein Schild mit der Aufschrift "Empathy should not be selective", befestigt an einem Baum
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"Empathie sollte nicht selektiv sein". Auf einer Demonstration in Berlin am 4. November 2023, organisiert von palästinensischen und jüdischen Gruppen.

Die Massenvertreibungen von 1947 bis 1948 markieren für Palästinenser*innen ein kollektives Trauma, nakba – arabisch «Katastrophe» – genannt: sie kamen der Zerstörung einer gesamten Gesellschaft gleich. Historischen Schätzungen zufolge wurden mindestens 750.000 Palästinenser*innen - drei Viertel der palästinensischen Bevölkerung auf dem Gebiet, auf dem 1948 Israel errichtet wurde - vertrieben. Dabei handelte es sich um etwa die Hälfte aller Palästinenser*innen auf dem gesamten Gebiet des britischen Mandatsgebiets Palästina, d.h. auf dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordanfluss, welches das heutige Israel und die von Israel 1967 besetzten Gebiete umfasst. Sie flohen nach Gaza oder in die Westbank (inkl. Ostjerusalem), die unter ägyptische bzw. jordanische Hoheit kamen, oder in die arabischen Nachbarländer.

Die Nakba wird mittlerweile von Palästinenser*innen nicht mehr nur als eine traumatische Zäsur, sondern als traumatischer Prozess der Vertreibung und Enteignung verstanden, der sie seit 1947 bis heute in den besetzten Gebieten, aber auch in Israel selbst anhaltend ausgesetzt sind. 1967 wurden während des Juni-Krieges und im Zuge der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ost-Jerusalem noch einmal mindestens 300.000 Palästinenser*innen vertrieben. Nun, während des Gaza Kriegs, werden wir Zeugen von zwei Millionen Flüchtlingen in den äussersten Süden des winzigen Landstrichs an die Grenze zu Ägypten. Hinzu kommt die kontinuierliche Binnenvertreibung durch Landannexion vor allem in der Westbank.

Obwohl zutiefst verflochten mit der Geschichte des Nationalsozialismus, wird die Nakba aus dem deutschen kollektiven Gedächtnis und öffentlichen Diskurs ausgegrenzt, israelische Staatsgewalt weitgehend tabuisiert. Die Nakba und die Shoa werden nicht als Teile desselben historischen Prozesses gedacht. Der Bezug zur Geschichte des Nationalsozialismus wird nur einseitig hergestellt, nämlich in der Verbindung zwischen der Shoa und der Schaffung Israels als Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden. Die systematische Vertreibung von Palästinenser*innen im Zuge der israelischen Staatsgründung und seines Selbstverständnisses als eines jüdischen Staates wird nicht als Folge des Nationalsozialismus diskutiert, geschweige denn betrauert. Die Folgen für Palästinenser*innen in Deutschland sind gravierend.

Palästinenser*innen in Deutschland

In Deutschland lebt die größte palästinensische Gemeinschaft Europas. Man kann drei Migrationsphasen unterscheiden: die Studien- und Arbeitsmigration der 1960er Jahre, die Fluchtmigration aus den libanesischen Flüchtlingslagern vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkriegs in den 1980er Jahren sowie die jüngste Fluchtmigration aus den syrischen Flüchtlingslagern im Kontext des syrischen Kriegs nach 2011. Die meisten Palästinenser*innen in Deutschland verfügen über mehrfache Vertreibungserfahrungen in ihrer Familiengeschichte oder in ihren eigenen Lebensgeschichten. Viele, die in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen waren, wurden im Zuge der Besatzung von 1967 zu Betroffenen indirekter Vertreibung, wenn sie aus Gaza, dem Westjordanland oder Ost-Jerusalem stammten. Wenn sie sich während der Bevölkerungszählung am Anfang der Besatzung im Ausland aufhielten, wurden sie von den israelischen Behörden zu Abwesenden erklärt und verloren ihr Recht auf Rückkehr. Sie wurden so in Deutschland zu Flüchtlingen sur place.

Für viele dieser Palästinenser*innen bildete dies die zweite persönliche Vertreibungserfahrung, wenn sie 1947/48 als Kinder bereits nach Gaza, in die Westbank oder nach Ost-Jerusalem vertrieben worden waren. Viele von ihnen waren mit der Vision nach Europa gekommen, irgendwann nach Palästina zurückzukehren und mit dem in Europa erworbenen Wissen zum Wiederaufbau der palästinensischen Gesellschaft beizutragen. Ausgerechnet vor dem Hintergrund dieser Vision wiederholte sich bei ihnen die Vertreibungserfahrung. Auch für Palästinenser*innen aus dem Libanon setzte sich in Deutschland die Fluchterfahrung fort. Meist erfuhren sie sogenannte Kettenduldungen, da Deutschland sie nicht als politische Flüchtlinge anerkannte und der Libanon sich aufgrund ihrer offiziellen Staatenlosigkeit nicht als verpflichtet sah, sie zurückzunehmen. Über Jahre hinweg wurde die Duldung, d.h. die Aufschiebung der Abschiebung, immer wieder erneuert; die Betroffenen durch den Duldungsstatus weitgehend isoliert. Viele lebten jahrelang mit gepackten Koffern in ihrer Wohnung; zu jedem gegebenen Zeitpunkt hätte man sie zwingen können, Deutschland zu verlassen. Oder, wie ein Gesprächspartner es ausdrückte, man habe das libanesische Lager gegen das deutsche ausgetauscht. Für Palästinenser*innen im deutschen Exil und ihre Kinder hielt die Gewalt aber nicht zuletzt auch deshalb an, weil auf die physische Enteignung, die Enteignung des Rechts auf Rückkehr in ihr Land, die diskursive Enteignung, das Absprechen ihrer Gewalterfahrung, folgte.

Tabu und Trauma

Aus der psychoanalytischen Traumaforschung wissen wir, Trauma ist nicht bloß als die Folgereaktion eines Ereignisses, das die Psyche überfordert, sondern als ein Prozess zu betrachten. Für die Bewältigung von Gewalterfahrung wesentlich ist, wie die Gesellschaft damit umgeht. Wiederkehrende Erfahrungen von Ausschluss, die Verneinung von Gewalterfahrung sowie die Missachtung und das systematische Absprechen der eigenen Wahrnehmung können traumatisch wirken. Tabuisierung – also die gesellschaftliche Verdrängung palästinensischer Gewalterfahrung – war von solch ähnlicher Struktur wie die physisch erlebte Gewalt – die systematische Verdrängung aus ihrer Heimat –, dass sie diese wiederholte und ihr dadurch erst traumatische Tiefe verlieh. Verschärft wurde dies durch symbolische bzw. diskursive Gewalt, das heißt durch die Gewalt jener Diskurse, die systematische Gewalt normalisieren und legitimieren, sobald diese sichtbar zu werden droht.

Die Vertreibung und Enteignung von Palästinenser*innen wird geleugnet oder bagatellisiert, als umstritten, zufällig oder selbstverschuldet dargestellt. So hieß und heißt es beispielsweise, Palästinenser*innen hätten das Land freiwillig verlassen oder verkauft, bei den Vertreibungen handle es sich um Nebeneffekte von Kriegen, oder aber, das historische Palästina sei unbevölkerte Wüste gewesen, Palästinenser*innen seien kein eigentliches Volk und könnten dadurch auch nicht entwurzelt werden. Gewalt gegen Palästinenser*innen wird aber auch moralisch gerechtfertigt, und zwar über eine Opfer-Täter-Dichotomie, in der sie auf die Position des Täters fixiert werden. In immer neuen Variationen werden sie als bedrohliche «Wilde», Terroristen, islamistische Extremisten und Antisemiten Israel als Teil der sogenannten christlich-jüdischen, abendländischen Kultur und Wertegemeinschaft gegenübergestellt. Die Figur des gewalttätigen Palästinensers verkörpert die moralische Devianz zur westlichen Zivilisation.

Die erste Generation

All dies stellte vor allem Palästinenser*innen der ersten Migrationsgeneration schließlich in Frage. Sie verinnerlichten die erwähnten Diskurse und empfanden in der Folge die erlebte Gewalt als etwas Beschämendes und Selbstverschuldetes. Dies führte zu Selbstauflösung: zu Schuld und Scham im Inneren und Selbstverneinung im Äußeren; zu Gefühlen der Bedeutungslosigkeit, zu Angst vor Sichtbarkeit und politischem Aktivismus, aber auch vor dem Fühlen geschweige denn Ausdruck von Wut und Trauer. Es mündete in Melancholie, in das soziale Sterben, den Rückzug von Gesellschaft, Familie und anderen Palästinenser*innen, und in das suizidale Leben. Viele Akteur*innen begannen ihre Identität im öffentlichen Raum zu verbergen, um den Schmerz zu vermeiden, stigmatisiert statt betrauert zu werden. Viele taten dies, obwohl sie ein revolutionäres palästinensisches Subjekt hatten sein wollen. Ihr Palästinensischsein nach außen hin verbergend oder gar verneinend, kultivierten sie es stattdessen innerlich, als Hingabe an die Erfahrungsgemeinschaft. Im Festhalten an ihr suchte man nicht zuletzt Zuflucht in der Kollektivität individueller traumatischer Erfahrung.

Die intergenerationale Beziehung war geprägt von der Melancholie der ersten Generation. Deren – gesellschaftlich verursachte und für sich selbst verinnerlichte – Unsichtbarkeit schrieb sich als emotionale Abwesenheit in die Beziehung zu ihren Kindern ein. Dies trug maßgeblich dazu bei, wie traumatische Erfahrung an sie weitergegeben wurde: Um Beziehung aufzubauen, mussten sie ihre Eltern als Subjekte zuerst herstellen. Dies führte zu einer Umkehrung der sozialen Rollen zwischen Eltern und Kindern und manifestierte sich im Versuch der Kinder, mit ihren Eltern zu verschmelzen und diese aus ihrer Abwesenheit zu holen.

Die zweite Generation

Eine Gesprächspartnerin der zweiten Generation erzählt, wie sie zu ihrer Studienzeit stets für eine Jüdin gehalten wurde, weil sie so «frei» gewesen sei. Sie habe ihre Umgebung in diesem Glauben gelassen, weil es angenehmer gewesen sei, Jüdin zu sein. Die jüdische Erfahrung sei so ähnlich wie die palästinensische, aber eben nicht tabu. Sie habe sich eine «total künstliche Identität aufgebaut, in die sie ihren ganzen Schmerz habe stecken können». Um ihre Erfahrung mit ihrer Umgebung teilen zu können, schlüpfte sie also in die Identität, verbarg sie ihren Schmerz im Schmerz des jüdischen Anderen. Um gesehen zu werden, wiederholte sie eine Form von Gewalt an sich selbst, die sie gesellschaftlich wiederholt erfährt: die Überschreibung ihrer palästinensischen Erfahrung mit der jüdischen Erfahrung in Europa.

Die israelische Militäroffensive in Gaza von 2014 bildete für viele Angehörige der zweiten Generation eine Zäsur. Die Tabuisierung und Rechtfertigung palästinensischer Gewalterfahrung nahm in Deutschland zeitgleich mit den Offensiven des israelischen Militärs zu. Der unverhältnismäßige Gewalteinsatz der israelischen Armee, der zur Tötung Hunderter von Zivilisten führte, wurde meist als notwendig dargestellt, Israels Narrativ eines Selbstverteidigungskriegs uneingeschränkt übernommen. Palästinenser*innen in Deutschland, die dagegen protestierten, verschwanden als Menschen in der Repräsentation eines antisemitischen palästinensischen Kollektivsubjekts. Dies verstärkte das Gefühl des Misstrauens gegenüber der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen waren, und das Gefühl, im Land ihrer Kindheit im Exil zu leben. Hatten viele Palästinenser*innen zweiter Generation davor mangelnde Empathie noch mit Unwissenheit entschuldigt, deuteten sie sie nun als anti-palästinensischen Rassismus. Sie brachen mit der Selbstverneinung, die ihnen oft auch von den Eltern aufgetragen worden war, überwanden die Isolation und Angst vor Sichtbarkeit und Aktivismus, vernetzten sich national und transnational und wirkten der Fragmentierung entgegen. Auch entdeckten sie die Trauer und Wut, die ihren Eltern verwehrt blieb, und begannen, sich als Betroffenengruppe zu artikulieren, sich die verlorene, da sozial verworfene Geschichte und Identität wieder anzueignen, Schuld und Scham in Stolz und die Ohnmacht traumatischer Existenz in Handlungsmacht umzuwandeln.

Diese Entwicklung intensiviert sich besonders seit Beginn des aktuellen Kriegs in Gaza zwischen der Hamas und Israel, das von Deutschland mit Waffenlieferungen unterstützt wird. In der deutschen politischen und medialen Öffentlichkeit werden die israelischen Angriffe in Gaza, die immer wieder die palästinensische Zivilbevölkerung treffen und bereits zu Zehntausenden von Toten geführt haben, meist als Krieg gegen die Hamas und deren Antisemitismus gerechtfertigt. Die Kontextualisierung des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober und der Verweis auf die jahrzehntelange israelische Staatsgewalt gegen Palästinenser*innen wird in Deutschland hingegen geächtet. Strukturelle Gewalt – die Dämonisierung palästinensischer Identität –­­ wird zunehmend institutionalisiert, was u.a. in Restriktionen palästinensischer Sichtbarkeit im öffentlichen Raum und in erhöhter Polizeigewalt mündet. Für Palästinenser*innen in Deutschland verschwimmen die Grenzen des «hier» wie «dort» zusehends: sie fühlen sich – wie Palästinenser*innen im historischen Palästina – nicht als Menschen gesehen, ihres Bürgerstatus’ beraubt.


Dieser Artikel erschien am 1. Juli 2024 bereits auf boell.de