Was noch zu sagen bleibt

Was bleibt noch zu sagen, nach fast einem Jahr Entmenschlichung, Krieg und einem Diskurs, dem die Universalität des humanistischen Gedankens abhandengekommen ist? Lena Gorelik denkt über diese Frage sowie Verbindungen und Freundschaften nach, die über vermeintliche Lager hinweg halten.

Schwarz-Weiß Portrait von Lena Gorelik
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Lena Gorelik ist Schriftstellerin und hat gemeinsam mit Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff den Sammelband "Trotzdem sprechen" herausgebracht.

Der erste Gedanke ist, dass es nichts mehr zu sagen gibt; der Gedanke ist von einem Seufzen begleitet. Es ist kein theatralisches Seufzen, müde ist es, erschöpft. Der erste Gedanke: Dass es nichts zu sagen gibt, weil alles gesagt worden ist. Oder weil es ein ethisches Versagen ist, dass es jetzt doch noch etwas zu sagen gilt, dass noch nicht alles gesagt worden ist. Wie kann das sein, dass noch nicht alles gesagt worden ist, obwohl wir 290 Tage Zeit hatten, alles zu sagen, seit dem 7. Oktober, seit dem Massaker, auch schon seit der Kriegsinvasion in Gaza, oder 350 Tage, und irgendwann werden es 500 Tage gewesen sein. Aus Tagen wird schneller, als man denkt, ein Jahr. Die Tage lassen sich zählen, aber auch die Toten, die Verletzten, die Vermissten, die Vertriebenen, die Entführten, die Vergessenen. So ein Satz wie der letzte klingt schnell nach Polemik, er kann polemisch sein, und er kann zugleich Tatsachen, und darin eine Wahrhaftigkeit enthalten, beides, meine ich, ist hier der Fall. Sätze sind ambivalent, Sachverhältnisse sind es auch, (geo-)politische Konflikte, die Welt ist es, die Meinungen aber, die sich lautstark zu diesen Konflikten positionieren, zumal die, die gegeneinander ausgespielt werden, sind es derzeit meistens nicht. Sie lassen die dem Leben inhärente Ambivalenz vermissen. Alles ist gesagt worden, auch dass einseitige Kommentare nicht konstruktiv dazu dienen, einen Sachverhalt, Umstände zu analysieren, so dass Handlungsmöglichkeiten entstehen. Das Seufzen ist also ein müdes, und dennoch gilt es zu schreiben, trotzdem und gegen an. Das ist der zweite Gedanke: Aus dieser alten, möglicherweise naiven Hoffnung heraus: Dass Worte etwas zu bewirken vermögen.

Vor wenigen Tagen war ich auf einem Geburtstag, auf dem ich kaum jemanden kannte, und wurde vom Gastgeber deshalb sogleich mit einem älteren, jüdischen Ehepaar bekannt gemacht. Er meinte das sicherlich nicht so, aber die Wirkung flatterte trotzdem angestrengt zwischen uns: Die Jüdin zu den Juden, und mehr hatten wir nicht gemeinsam, das ältere Ehepaar und ich. Der Small Talk fiel mir schwer, den Kartoffelsalat gibt es in vielen regionalen Varianten, aber das ist nicht, was erzählenswert ist. Später gesellte sich eine Dame zu uns, die beiden Frauen kannten sich oder waren befreundet oder arbeiteten zumindest zusammen, und die Dame, die sich zu uns gesellte, erzählte, sie werde neuerdings in den Sozialen Medien als „soundso Zionistin“ beschimpft, und ich horchte auf. Das Adjektiv, das der Beleidigung als Zionistin vorangestellt war, ist mir schon wieder entfallen, was vielleicht gar nicht so schlecht ist. Erstens, weil es keines war, das ich gerne tippen würde, und zweitens, weil es austauschbar ist: Es kursieren derzeit so viele Adjektive, die sich der Bezeichnung als Zionist:in voranstellen lassen, um andere als kolonialistisch, empathielos, kriegsbegeistert, Netanjahu-Anhänger:innen, nach Weltherrschaft dürstend zu diffamieren. Als solche wurde also auch die Dame, die sich zu uns gesellt hatte, beschimpft, weil sie sich in einem Frauenverein für jüdische Frauen engagierte, und wer das tut, muss – ist doch ganz klar – Zionist:in sein. „Eigentlich“, sagte die ältere jüdische Dame zu ihr, „dürften wir, wenn es nach ihnen ginge, gar nicht nebeneinander sitzen, die Jüdin und die Iranerin, da stimmt dann schon wieder was nicht an diesem Bild“. Und dann aßen die beiden Kartoffelsalat, ich glaube, die bayerische Variante. 

Aus der Hoffnung heraus schreiben, dass Worte etwas bewirken können. Dass noch nicht alles gesagt worden ist – oder noch nicht oft genug. Dass nicht genug Geschichten erzählt worden sind, die von Verbindungen und Freundschaften handeln, die halten oder gar genau aus den Umständen heraus, die nach dem 7. Oktober entstanden sind. Oder die vielleicht sogar stärker geworden sind, unangreifbarer durch die Angriffe von außen, durch diese Erwartungshaltung im öffentlichen Raum, dass es sie gar nicht geben könne, weil wir doch zu unterschiedlichen Lagern gehören müssten. Weil wir qua Biografie, qua Geburtsort, qua (manchmal assoziierter) Religionszugehörigkeit gegeneinander sein müssen, auf verschiedenen Seiten, wie bei diesem viel zitierten Fußballspiel. Diese Verbindungen sind in vielen Fällen fester, vertrauensvoller, ehrlicher geworden, beinahe ein Glaube, an dem man sich festhalten kann oder muss, weil um uns herum alles auseinanderbricht. In Gaza werden Tag für Tag Menschen getötet, vertrieben, ausgehungert, ihnen wird medizinische Hilfe verwehrt. In Israel warten die vom 7. Oktober traumatisierten Menschen auf den Angriff aus dem Iran – alles, was ich heute schreibe, wird, wenn dieser Text veröffentlicht, wenn er gelesen wird, möglicherweise nicht mehr stimmen, auch das ist Fakt: Während wir auseinander getrieben, verdächtigt, angegriffen, beleidigt, zum Teil bedroht werden, während wir uns aneinander festhalten, nicht trotzdem, sondern genau deshalb, weil wir so genau, so schmerzhaft wissen, was diese Erfahrungen bedeuten, wie sie sich auf und unter unserer Haut anfühlen, hat nichts von dem, was diese Erfahrungen ausgelöst hat, ein Ende. Im Nahen Osten ist Krieg, er wird gerade ausgeweitet. In Deutschland wird uns direkt oder indirekt immerzu eine Befangenheit und Zugehörigkeit unterstellt: Die einen sollen sich von der Hamas, die anderen sich von Netanjahus Regierung distanzieren. In Deutschland findet in den Sozialen Medien, im öffentlichen Raum, auf Bühnen kultureller Institutionen eine derart polarisierte, verletzende, beleidigende Auseinandersetzung statt, die nicht ohne Techniken wie Outcalling und Cancelling auskommt, dass sie nicht mehr als Diskurs bezeichnet werden kann. In Deutschland wissen nun alle, die von den Geschehnissen im Nahen Osten direkt oder indirekt betroffen sind (und viele andere meinen, es zu wissen), wer zu wem gehört; Begriffe sind es, die Grenzlinien zwischen den Gruppierungen ziehen: Wenn du jener Definition, jenem Begriff, jener Kategorisierung zustimmst oder eben nicht zustimmst, gehörst du nicht oder auf jeden Fall zu uns. In Deutschland wissen Politiker:innen, die angesichts der zunehmenden Anzahl von Rechts-Wähler:innen zurecht besorgt sind, die Stimmung dafür zu nutzen, um auf Wähler:innen-Fang zu gehen: Wenn man verspricht, gegen Antisemitismus zu kämpfen (aber es nicht tut), kann man rassistische Politik machen, indem man den als muslimisch gelesenen Menschen automatisch Antisemitismus unterstellt (so hat man sogleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, mit dem deutschen Antisemitismus muss man sich dann nämlich auch nicht mehr auseinandersetzen). Im privaten, im unsichtbaren und damit sicheren Raum halten wir uns aber aneinander fest, nicht trotzdem, sondern genau deshalb.

Warum bin ich so müde, zu müde, um diese Geschichten von den Verbindungen, die unabhängig davon halten – als solche halten, aber eben auch uns halten –, wie und in welchem Ausmaß wir von diesem Krieg, diesen Umständen, diesem Elend betroffen sind, was sie in uns aufwühlen und wie sie unser Leben, unsere Sorgen, unser Sicherheitsgefühl, unsere Familienmitglieder und Freundschaften betreffen, berührt worden sind; warum zu müde, um diese Geschichten zu erzählen? Als würde ich, indem ich sie erzähle, mich damit einverstanden erklären, was gerade geschieht: Dass in diesem Nicht-Diskurs dem humanistischen Gedanken seine innewohnende Universalität abhandenkommt. Als würde ich mich damit einverstanden erklären, dass es Beweislast braucht, die erzählt und in den öffentlichen Raum gestellt werden muss, dafür, dass wir alle Menschen sind, die einander mögen, lieben, halten – und manchmal auch aushalten –, unabhängig von unserer Herkunft. Als würde ich sentimentale Postkartensprüche in konkrete Geschichten übersetzen müssen, als bräuchte es noch eine Person, die betont, woran wir doch alle glauben müssten, in unserer auf den Menschenrechten basierenden Demokratie, woran wir glauben müssten eben als Menschen: Dass Empathie auf Universalität basiert, dass sie qua Begriffsdefinition Menschen gilt und nicht Ethnien, Völkern, Ländern. Dass jeder Mensch, der in einem Krieg stirbt, einer zu viel ist, dass er kein Adjektiv braucht, das ihn einer Seite zuweist, damit genau dieses Gefühl aufkommt: Das ist ein Tod zu viel. Vielleicht stimmt der erste Gedanke, vielleicht ist ja auch schon alles gesagt worden. Vielleicht sind genug Geschichten von Verbindungen erzählt worden, vielleicht braucht man sie auch gar nicht dringend. Nur dieser eine Satz lässt sich nicht oft genug wiederholen: Jeder Tod im Krieg ist ein Tod zu viel.