Problemlösungen statt Scheindebatten

Analyse

Statt Scheindebatten braucht es echte Lösungen in der Migrationspolitik. Arbeitsverbote und andere Abwehrmaßnahmen erschweren die Integration und verstärken Probleme. Helfen würden eine bessere und schnellere Anerkennung von Berufsqualifikationen und schnellere Asylverfahren – das zeigt auch ein Blick in östliche Nachbarstaaten, wo die Arbeitsintegration von ukranischen Schutzsuchenden wesentlich besser funktioniert.

Grenzkontrollen von Ankommenden auf der deutschen Seite der Europabrücke zwischen Straßburg und Kehl am 16. März 2020, zu sehen sind zwei Polizeibeamte, die die Fahrer*innen zweier Autos kontrollieren
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Seit dem 16. September 2024 finden an allen Landesgrenzen Deutschlands vorübergehend Einreisekontrollen statt.

Abwehrpolitik und Arbeitsverbote als Quelle der heutigen Probleme

Viele unserer heutigen Probleme sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Abwehrpolitik. Seit Lothar Späth 1980 im Bundesrat erklärte, Arbeitsverbote und Sammellager hätten „Wunder gewirkt“, ist ein Abwehrregime aus Arbeitsverboten, Zuweisung des Wohnorts, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Sammelunterbringung und Gemeinschaftsverpflegung aufgebaut worden.1 Die Geflüchteten wurden dadurch von der Gesellschaft und von potenziellen Arbeitgebern getrennt, die Eigeninitiative wird gehemmt. Wenn es Probleme gab, wurden die Abwehrmaßnahmen weiter verstärkt. Seehofers erfolglose AnkER-Zentren sind ein Beispiel von 2017. Alle Beteiligten gewöhnten sich daran, dass Flüchtlinge lange Zeit nicht arbeiten – im Unterschied zu den USA, wo sie als Undokumentierte die Billigjobs übernehmen. Aber wenn viele Menschen im besten Arbeitsalter Sozialleistungen beziehen, ist das desintegrativ, es mindert die Akzeptanz, belastet die Kommunen und kostet Milliarden. Angesichts des aktuellen Arbeitskräftemangels ist die Widersprüchlichkeit noch spürbarer geworden. Minister reisen nach Mexiko oder Indien, um Fachkräfte anzuwerben. Anwesende Arbeitskräfte dürfen nicht arbeiten oder werden sogar vom Arbeitsplatz geholt und ausgewiesen.

Die Abwehrmaßnahmen wurden in Aufregungswellen 1980-82, 1990-93 und 2015-16 beschlossen, und zwar in einem europäischen Rigiditäts- und Kopierwettbewerb. In der aktuellen hektischen Atmosphäre werden erneut Vorschläge gemacht, die kontraproduktiv wirken und die Probleme verschärfen könnten. Grenzmaßnahmen führen zwar kurzfristig zu weniger Einreisen, bieten aber Schleusern mehr Möglichkeiten. Längere Lagerunterbringung verzögert die Integration und führt zu Re-Traumatisierungen mit langfristigen Folgen. Haft ohne Schuld hat Folgen. Rechtwidriges staatliches Handeln, wie es die CDU propagiert, würde an der Stärke des deutschen Rechtssystems scheitern, zu noch langwierigeren rechtlichen Auseinandersetzungen führen und die Gerichte lahmlegen.

Warum arbeiten die hochqualifizierten Ukrainer*innen in Deutschland so wenig?

Die offene Aufnahme der Ukrainer mit freier Wahl des Aufnahmelandes und der Unterkunft („free choice“) hat gezeigt, dass Vieles reibungsloser verläuft, wenn man den Flüchtlingen und der hilfsbereiten Bevölkerung freie Hand lässt. Das offene Europa hat 2022 in wenigen Wochen vier Millionen Schutzsuchende aufgenommen, ohne dass es Konflikte gab. Das bot die Chance für einen Neuanfang. Die europäischen Länder haben ihn unterschiedlich genutzt. 

Die EU-Kommission empfahl den Mitgliedstaaten im April 2022, für die ukrainischen Schutzsuchenden einen „Rahmen“ zur „Anerkennung der Berufsqualifikationen“ zu schaffen, „weitestgehend ohne bürokratische Hindernisse“, damit sie rasch Arbeit fänden. Sie sollten ihre Fähigkeiten anwenden und ihre Qualifikationen verbessern, damit sie sie bei der Rückkehr in die Heimat nutzen könnten. Polen regelte dementsprechend in einem Sondergesetz die Anerkennung ukrainischer Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Psychologen, Hochschullehrenden, Schulassistenten, Bergleuten, Staatsbediensteten und Pflegekräfte. Ähnlich Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten. Dadurch erreichten unsere Nachbarn schon Ende 2022 hohe Arbeitsbeteiligungsraten, zunächst oft in assistierenden Positionen.2

In Deutschland läuft der Anerkennungsprozess dagegen bisher äußerst schleppend. Von 1674 Approbationsanträgen ukrainischer Ärzte waren im Juli 2024 nur 187 bewilligt worden, alle anderen warten auf eine Entscheidung und können nicht praktizieren. Auch in anderen Berufen sind die Ukrainer auf die herkömmlichen Anerkennungsverfahren für Drittstaatler angewiesen. Schon von der Größenordnung her ist offensichtlich, dass die Schutzsuchenden auf diese Weise in Warteschleifen bleiben. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland insgesamt 52.300 ausländische Berufsabschlüsse anerkannt, 2023 waren es etwas mehr. Offensichtlich reicht das für über 600.000 erwachsene Schutzsuchende nicht aus.

Für ukrainische Berufskraftfahrer hatte die EU am 28. Juli 2022 eine Rahmen-Verordnung beschlossen. Das Bundesverkehrsministerium setzte sie erst 22 Monate später in deutsches Recht um. So lange konnten die Fahrer in Deutschland nicht arbeiten. Wahrscheinlich haben sich viele ukrainische Kraftfahrer in dieser langen Zeit in andere Länder umorientiert. Sie sind dann dort beschäftigt und können auch durch Deutschland fahren.

Unterschiedlich haben die Bundesländer reagiert. Sachsen hat rasch ukrainische Lehrkräfte rekrutiert, zunächst zur Betreuung ukrainischer Kinder. Als klar wurde, dass der Fluchtaufenthalt länger dauern würde, übernahm Sachsen sie auch für den allgemeinen Schuldienst, soweit sie ausreichend deutsch sprechen. So ist es gelungen, einen Teil des Lehrkräftedefizits zu beheben. Bayern dagegen hält daran fest, dass Abschlüsse nur aus EU-Ländern und der Schweiz anerkannt werden. Zwischen den Bundesländern gibt es extreme Unterschiede. In Sachsen kommt eine ukrainische Lehrkraft auf 17 ukrainische Kinder, in Bayern auf 52 und in Nordrhein-Westfalen auf 198 Kinder.

Die Nichtanerkennung von Qualifikationen führt dazu, dass viele ukrainische Schutzsuchende entweder nicht oder nur in unqualifizierten Positionen arbeiten. Waren vor Kriegsbeginn im Januar 2022 noch 72 Prozent der Ukrainer in Deutschland als Fachkräfte, Spezialisten oder Experten beschäftigt, so hat sich die Relation Monat für Monat nach unten verschoben. Im September 2024 waren mehr als drei Fünftel der ukrainischen Arbeitslosen bei der Bundesagentur für Arbeit als „Helfer“ eingestuft, also für unqualifizierte Tätigkeiten.3

Für alle Beteiligten ist das problematisch. Spezialisten, die über Jahre nicht in ihrem Beruf arbeiten, verlieren an Kompetenz und Würde. Statt Steuern zu zahlen, sind sie von Sozialleistungen abhängig oder haben marginale Einkommen.  Deutschland hat statt der dringend gesuchten Fachkräfte ein Versorgungsproblem, der Bundesfinanzminister spricht von 5,5-6 Milliarden Bürgergeld-Ausgaben. Diese Defizite beruhen auf Blockaden bei Anerkennung und Aufnahme. Interessant ist dabei noch einmal ein Vergleich mit Polen. Dort schätzten die Planungsbehörden schon für 2023, dass die Schutzsuchenden mehr Steuern zahlten als Mittel in Anspruch nahmen.

Wie die erfolgreiche Arbeitsintegration der Ukrainerinnen in unseren östlichen Nachbarstaaten zeigt, sind die Probleme weitgehend hausgemacht. Angesichts der Dequalifizierung und der geringen Arbeitsbeteiligung hilft es nicht, die Zahlen zu relativieren, indem man auf Länder mit noch geringeren Erfolgen verweist oder auf Erfolge in späteren Jahren hofft.4 Es hilft nur eine gesetzliche Anerkennungs-Regelung, wie sie die EU-Kommission empfohlen hatte, und eine Gleichstellung der Ukrainer mit EU-Bürgern.

Gefangen im Asylprozess

Eindringlich hat die Bundesregierung im Jahr 2016 schnelle Asylverfahren gefordert:

"Die Asylverfahren sind mit einer derzeit durchschnittlichen Dauer von knapp sechs Monaten zu lang. Die betroffenen Personen leben demzufolge entsprechend lange in Unsicherheit über ihr weiteres Schicksal. Jene, deren Anträge letztlich positiv beschieden werden und die deshalb zunächst in Deutschland bleiben dürfen, erhalten so relativ spät Zugang zu Integrationsmaßnahmen und benötigen geraume Zeit, bis sie sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen können. Aber auch für diejenigen, die lange auf einen ablehnenden Bescheid warten müssen, erschwert die Dauer der Verfahren eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer."5

Trotz dieser Analyse und vieler entsprechender Appelle sind die Asylverfahren nicht schneller geworden (Tab. 1). Ende August 2024 warteten 227.690 Asylbewerber auf eine Entscheidung. Noch länger dauerten die anschließenden Prozesse bei den Verwaltungsgerichten, zuletzt waren es eineinhalb Jahre. Ihre ungeklärte Zukunft mindert die Chance auf Einstellung bei Arbeitgebern. Ende 2023 bezogen 522.700 Menschen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, im Jahr 2023 wurden 6 Milliarden Euro verausgabt.

Tab. 1: Durchschnittliche Dauer der Asylverfahren beim BAMF und bei den Verwaltungsgerichten, in Monaten

  2016* 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023** 1-8/2024
BAMF 7,1* 10,7 7,5 6,1 8,3 6,6 7,6 6,8 8,2
Gerichte  7,4 7,8 12,5 17,6 24,1 26,5 26,0 20,7 17,1***

*2016 kam eine nicht erfasste Wartezeit zwischen Asylgesuch und formalisierter Asylantragstellung hinzu. ** Aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben wird seit 2023 die Asylverfahrensdauer erst ab dem Zeitpunkt der Feststellung der Zuständigkeit Deutschlands berechnet; die Dauer vorgeschalteter Dublin-Verfahren wird seitdem nicht berücksichtigt.  ***Januar bis Juli 2024. Quellen: BT-Drs. 20/5709, S.26, BT-Drs., 18/3850, 18/4980, 18/8450, 18/11262, 18/12623, 19/30711, 19/23630, 19/13366, 19/1631, 19/3861, 20/940, 20/5709, 20/6052, 20/11504, 20/12124.

Trotz der langen Verfahrensdauern ist die Entscheidungsqualität beklagenswert. 2022 wurden 37 Prozent der inhaltlich von den Verwaltungsgerichten überprüften BAMF-Asylbescheide aufgehoben,6 2023 24 Prozent7. Faktisch sind die Verwaltungsgerichte zu einer ständigen umfassenden Revisionsinstanz geworden, die dann nachholen, was beim BAMF versäumt worden ist. Obwohl die Ampel-Koalition die Unabhängige Asylverfahrensberatung wieder eingeführt hat, ist sie nicht mit der Asylanhörung und -entscheidung verknüpft worden, so dass die Berater bei der Anhörung ihr Wissen einbringen könnten, wie es 2017 in einem Versuch erfolgreich praktiziert worden ist.8 Nur durch schnelle und gute Verfahren kann es zu einer Entlastung der Länder und Kommunen kommen. Erst dann kann auch die Rückführung von Asylbewerbern funktionieren, die keine Anerkennung finden. Erst dann könnten auch finanzielle Sanktionen wirken, eine in den Niederlanden lange praktizierte Maßnahme (bed bad brood), die dort aber gerade abgeschafft worden ist.9 Je länger die Verfahren, desto schwieriger die Rückkehr.

Ping-Pong mit dem Bundesverfassungsgericht?

Die CDU/CSU hat einen 35-Punkte-Forderungskatalog vorgelegt, roh ausgearbeitet und etwas chaotisch, wenig umsetzungsorientiert und teilweise offen rechtswidrig. Im Grundgesetz möchte sie unterschiedliche Existenzminima von Deutschen und Ausländern festschreiben. Das geht gegen den Kernsatz des Bundesverfassungsgerichts, die Menschenwürde sei „migrationspolitisch nicht zu relativieren“. Der Bundestag soll also Ping-Pong mit dem Bundesverfassungsgericht spielen. Das ist nicht nur unwürdig, sondern auch unseriös und undurchdacht. Im Wind von rechts wehen viele tote Blätter. 

Fußnoten