"Eine Schande für das deutsche Gesundheitssystem"

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Gesundheit ist ein elementares menschliches Gut. Wer krank ist, wendet sich vertrauensvoll an Ärzt*innen und Krankenhäuser. Doch immer wieder kommt es dabei zu rassistischer Diskriminierung. Das ist eine Schande für das deutsche Gesundheitssystem und muss sich dringend ändern, findet unsere Kolumnistin Liane Bednarz.

Eine weiße Wand, an der unterschiedliche medizinische Geräte und Instrumente hängen

In meiner Jugend in der kleinen westfälischen Stadt ganz in der Nähe des Ruhrgebiets gab es einen äußerst beliebten Orthopäden: Herrn J. Man schwärmte regelrecht von seinen phänomenalen ärztlichen Künsten. Herr J. und seine Familie stammten aus Syrien, aber das wurde nicht skeptisch beäugt, sondern ganz im Gegenteil als faszinierend wahrgenommen. Damals gab es noch keine syrischen Bürgerkriegsgeflüchteten und damit auch nicht das durch rechte Kreise in den letzten Jahren getriggerte Ressentiment gegenüber Syrern, die hier Schutz suchten. Man kann nur hoffen, dass angesichts der entsetzlichen Bilder aus den Foltergefängnissen des nun endlich gestürzten blutrünstigen Diktators Baschar al-Assad diejenigen, die empathielos zu Syrern waren, zu begreifen beginnen, vor welchem Höllen-Regime diese Menschen geflohen sind.

Eine der Töchter von Herrn J. war in derselben Gymnasialklasse wie ich und eine gute Freundin, was mir einmal das Privileg einbrachte, während des Ramadans in die schöne Wohnung zu einem opulenten Fastenbrechen eingeladen zu werden. Ich staunte ob der vielen Schälchen, den für mich so ganz neuen Essensdüften und war bewegt von der Herzlichkeit der Familie J. Überhaupt war es damals in den 80er Jahren so nah am „Pott“ ganz normal, von – wie man sie heute nennt – Menschen mit Migrationshintergrund umgeben zu sein. So war etwa auch das damalige „Portugiesische Zentrum“ in der Stadtmitte ein beliebter Treffpunkt nicht nur für Portugiesen.

Es herrschte insgesamt ein offener Geist in der Kleinstadt, es gab finanzierte Integrationsangebote, etwa die Nachhilfe des Deutschen Kinderschutzbundes für Kinder aus bildungsbenachteiligten migrantischen Familien, in der ich als ältere Schülerin zeitweise auch tätig war und dafür sogar ein kleines Entgelt bekam.

Überhaupt galten aus Syrien stammende Ärzte und Ärztinnen schon damals in Deutschland ganz generell als sehr versiert. Auch heute kommen die meisten der insgesamt ausländischen Ärzte und Ärztinnen aus Syrien. Laut einer Erhebung der Bundesärztekammer gab es Stand Dezember 2023 in Deutschland insgesamt 428.000 Ärztinnen und Ärzte, davon 63.767 aus dem Ausland, also fast 15 Prozent. Von diesen waren 5.758 Syrer und davon wiederum 4.987 in Krankenhäusern tätig. Setzt man diese Zahl in Relation zu den 23.852 ausländischen Ärzten und Ärztinnen aus der gesamten (!) EU, spielen die syrischen Ärzte also eine durchaus wichtige Rolle im deutschen Gesundheitssystem.

Drei Ebenen der rassistischen Diskriminierung

An sie und vor allem an Herrn J., aber auch allgemein an ausländische Ärztinnen und Ärzte musste ich denken, als ich dieser Tage bei „spiegel.de“ den Titel eines aktuellen Interviews mit dem Arzt, SPIEGEL-Autor und Influencer Mertcan Usluer sah. „Wie rassistisch ist die Medizin, Mertcan Usluer?“ lautet der Titel. Es lohnt, sich näher mit dieser Frage zu beschäftigen, weil sich in diesem Bereich wie unter einem Brennglas zeigt, wie verbreitet Alltagsrassismus in Deutschland inzwischen ist. Es mag gefühlte Evidenz sein oder daran liegen, dass es noch kein Internet gab und überhaupt über strukturellen Rassismus kaum gesprochen wurde, aber in den 1980ern und 1990ern hörte man medial noch im sonstigen Umfeld kaum etwas von rassistischen Ressentiments auf dem Gebiet der Medizin. Im Jahr 1997 immerhin griffen die „taz“ und sodann drei Jahre später einige Studien, die damalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marielouise Beck, sowie der SPIEGEL das Thema unter dem Titel „Anatolischer Bauch“  – so lautete tatsächlich die Diagnose eines Arztes zu einem Patienten – auf, aber eine größere Debatte entwickelte sich daraus damals nicht. 

Doch das hat sich offenbar geändert und dürfte Ausdruck des vor allem auch seit dem Aufstieg der AfD sich sowohl immer weiter verbreitenden als auch offen artikulierten Rassismus sein. Dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden. Die Diskriminierung von Patienten mit Migrationshintergrund, diejenige von Ärzten mit Migrationshintergrund durch Patienten und schließlich diejenige von Krankenhausärzten mit Migrationshintergrund innerhalb ihrer Teams.

In besagtem „SPIEGEL“-Video mit Mertcan Usluer geht es – auch wenn der Titel allgemein formuliert ist und mich an syrische Ärzte und den Orthopäden Herrn J. denken ließ – nur um die erste Ebene, also die Diskriminierung von Patienten mit Migrationshintergrund. Usluers Ausführungen – dazu gleich mehr – sind bedrückend. Und deshalb so alarmierend, weil sie ausgerechnet ein Gebiet betreffen, bei dem es um das fragile und elementare menschliche Gut der Gesundheit und nicht selten sogar um Leben und Tod geht. Wenn das Ressentiment selbst hier nicht Halt macht, kann man sich leicht vorstellen, wie noch viel schamloser es in anderen Branchen bzw. gesellschaftlichen Bereichen gegenüber Menschen gezeigt wird, die etwa als Kunde eine Dienstleistung erhalten möchten. Auch wenn man meinen könnte, dass hier Freundlichkeit einen größeren Stellenwert hat, da der Geldzufluss direkt vom Kunden kommt und nicht wie bei Patienten über das Gesundheitssystem generiert wird, ist es alles andere als ausgeschlossen, dass sich rassistische Ressentiments in Form von Blicken oder eben etwas weniger Freundlichkeit als gegenüber Menschen ohne Migrationshintergrund Bahn brechen.

Daten des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors: ein strukturelles Problem?

In dem erwähnten Video mit Mertcan Usluer , bei dem rassistische Erfahrungen von Patienten thematisiert werden, geht es u.a. um den „Rassismusmonitor“, im Vollnamen „Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor“ (NaDiRa) des „Deutschen Zentrums- für Integrations- und Migrationsforschung“ (DeZIM), einer Forschungseinrichtung, mit deren Aufbau und Förderung der Deutsche Bundestag 2016 das Bundesfamilienministerium beauftragte. Darin steht etwa, dass 34 % der „Personen aus rassistisch markierten Gruppen“ angegeben haben, den Arzt oder die Ärztin gewechselt zu haben, „weil Beschwerden nicht ernstgenommen wurden“. Bei den „Personen aus nicht rassistisch markierten Gruppen“ waren es hingegen nur 24 %. 

Das Problem des Rassismus in der Medizin ist offenbar so groß, dass der „Rassismusmonitor“ sogar ein eigenes „Schwerpunktthema Gesundheit“ hat, weil, wie die Wissenschaft zeige, Rassismuserfahrungen „buchstäblich krank“ machen, vor allem in Form von „mehr Stress“, einem „schlechteren allgemeinen Wohlbefinden“ und die Betroffenen „generell anfälliger für (psychische) Erkrankungen“ machen.

Erlebt man Rassismus dazu noch ausgerechnet als den Ärzten vertrauender Patient, dürften die dadurch ausgelösten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nochmals größer sein, weshalb im Rahmen des Rassimusmonitors nun auch das Gesundheitssystem selbst auf rassistische Strukturen bzw. Auffälligkeiten durchleuchtet wird. Das ist löblich, denn im Vergleich besonders zu den USA, wo es zahlreiche entsprechende Studien bereits gibt, wurde das Thema in Deutschland bisher vernachlässigt, obwohl, so auch der „SPIEGEL“, es auch hierzulande innerhalb des Ärzte- und Pflegepersonals das „rassistische Klischee von wehleidigen Migrantinnen gibt“, das sich in boshaften Äußerungen wie etwa „Morbus Bosposrus“, „Morbus Balkan“ oder „Mamma-mia-Syndrom“ zeige. Man schluckt. Offen gesagt habe ich so etwas nicht für möglich gehalten. Hier ist dringend Abhilfe angezeigt. Bereits im Studium bzw. bei der Ausbildung muss das Problem offen angesprochen werden, um Schlimmeres zu verhindern, bevor das angehende medizinische Personal erst einmal im Kittel in der Praxis oder im Krankenhaus steht.

Man muss es betonen: Ausgerechnet Menschen, die ohnehin krank sind, werden aufgrund ihrer Herkunft von anderen Menschen, denen sie ihre körperliche oder auch psychische Gesundheit anvertrauen, von eben diesen hinter ihrem Rücken wegen ihrer geographischen Herkunft pathologisiert. Da liegt es nahe, dass man mit ihnen womöglich auch entsprechend unfreundlicher umgeht. Es ist, man kann es nicht anders sagen, eine Schande für das deutsche Gesundheitssystem. 

Auch Ärztinnen und Ärzte von Rassismus betroffen

Umgekehrt sind auch immer wieder ausländische Ärzte rassistischen Erfahrungen ausgesetzt. Auch wenn es dazu in Deutschland noch keine quantitativen Studien gibt, sind inzwischen in den USA Erhebungen angelaufen, die aufzeigen, wie Patienten ausländische Ärzte mit abfälligen Bemerkungen überziehen oder gleich ganz eine Behandlung von ihnen ablehnen. Ein kurzer Blick in das Internet genügt, um auch in Deutschland dazu passende negative Einzelberichte zu finden, die aufgrund ihrer Fülle über eine bloße anekdotische Evidenz weit hinausgehen. So berichtete „SWR Kultur“ im Mai dieses Jahres über die rassistische Diskriminierung von Ärzten und Pflegekräften und hob das drastische Ausmaß bereits im Teaser unter der Audio-Dokumentation hervor: „Angeworbene Ärzte und Pflegekräfte berichten von Schikane und Diskriminierung. Von rassistischen Ausdrücken, unterstellter mangelnder Qualifikation und Exil-Absichten.“ Ein Pfleger sagte in der Dokumentation im O-Ton über eine Patientin: „Als sie wach war, hat sie gemerkt, dass eine dunkelhäutige Person neben ihr stand. Sie hat gesagt: Ne, ne, mit Schwarzen möchte ich nichts zu tun haben.“

Und schließlich erleben ausländische Ärzte auch innerhalb ihrer Teams immer wieder Rassismus, wie die SWR-Doku sogar sehr ausführlich aufzeigt. Man kann nur hoffen, dass sich diese Abgründigkeit durch eine stärkere interkulturelle Zusammenarbeit innerhalb der Klinikteams abmildern oder beheben lassen kann.

Wie gesagt: Wenn es schon so weit gekommen ist, dass Rassismus ausgerechnet im für den Menschen so elementaren Gesundheitswesen weit verbreitet ist, sollten auch gesamtgesellschaftlich die Alarmglocken klingeln. Immerhin, und das ist die hoffnungsvolle Nachricht, nimmt das Thema medial an Fahrt auf. Bekanntlich ist Erkenntnis ja stets der erste Schritt, um Missstände zu beheben.