Selbstbestimmt und solidarisch: Erinnern an rechten Terror in Halle und Hanau

Interview

Newroz Duman und Rachel Spicker sprechen über die Bedeutung einer solidarischen Erinnerung an die Anschläge von Halle und Hanau, aktuelle Herausforderungen und die zentrale Rolle der Betroffenen. 

Lesedauer: 16 Minuten
Collage: Zwei Personen nebeneinander. Links Person mit Dutt und weinrotem Pullover vor grauem Vorhang. Rechts Person mit langen Haaren vor weißer Wand.
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Newroz Duman (links) und Rachel Spicker: "Wir wünschen uns, dass es keine Reduzierung auf Opferrollen oder Opferkonkurrenzen gibt".

Newroz Duman und Rachel Spiker setzen sich seit Jahren für die Erinnerung an die Opfer der rechten Terroranschläge von Hanau und Halle ein. Newroz engagiert sich in der Initiative 19. Februar Hanau, die im März 2020 gegründet wurde, um die Betroffenen zu unterstützen, Aufklärung zu fordern und die Erinnerung wach zu halten. Rachel ist im TEKİEZ und in der Soligruppe 9. Oktober aktiv, die nach dem Anschlag von Halle entstanden sind und eine zentrale Rolle für die Organisation der Solidarität und der Erinnerung spielen. 

In diesem Interview erklären die Aktivistinnen die Bedeutung und die Entwicklung der Erinnerung an die beiden Anschläge. Sie gehen auf die vielen Herausforderungen der Gegenwart ein: die verzögerte Umsetzung der Forderungen, die Verschiedenheit der betroffenen Akteur*innen, aber auch die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gemeinschaften nach dem 7. Oktober 2023. Vor allem aber teilen sie ihre Vision, wie dennoch eine solidarische Erinnerung praktiziert werden kann.

Das Interview führte Katarina Hein, Bildungsreferentin der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen, im Sommer 2024.


Eure Arbeit folgt dem Prinzip der Selbstbestimmung in Erinnerungsprozessen: Warum ist es so essenziell, dass das Gedenken an die Anschläge in Halle und Hanau selbstbestimmt gestaltet wird, und wie zeigt sich diese Selbstbestimmung konkret?

Rachel Spiker: Anlässlich des vierten Jahrestags 2023 formulierte İsmet Tekin: „Es ist eine Wunde, die nicht heilt. Jeden Tag ist der Schmerz da – seit vier Jahren. Eine andere Person kann für uns Betroffene und Hinterbliebene nicht wissen und bestimmen, was wir brauchen – Selbstbestimmung ist wichtig!“ 

Selbstbestimmung kann unterschiedlich aussehen und interpretiert werden. İsmet Tekin, Überlebender des Anschlags von Halle, weist darauf hin, dass es wichtig ist, sich selbst immer wieder mit den eigenen Bedürfnissen und Wünschen in Bezug auf das Gedenken und Erinnern auseinanderzusetzen. Nur Überlebende und Angehörige selbst wissen, wie groß der Schmerz, die Trauer, die Wut und der Wunsch nach Veränderung sind. 

Wie komme ich in Kontakt mit meinen Wünschen und Bedürfnissen bezüglich des Gedenkens? Was benötige ich auf einer individuellen Ebene, was ist auf kollektiver Ebene wichtig? Diese Fragen sind Teil des Prozesses unserer Arbeit und wir stellen sie uns immer wieder neu. 

Selbstbestimmtes Erinnern und Gedenken ist nicht statisch, rigide oder linear, es ist immer in Bewegung und Veränderung. Wir machen unsere Arbeit in Erinnerung an Jana L., in Solidarität mit allen Angehörigen und Freund*innen sowie mit allen Überlebenden des Anschlags und allen Ermordeten. Auf Wunsch einer Familie nennen wir einen Namen nicht.

Der Anschlag von Halle und Wiedersdorf ist komplex, zwei Menschen verloren ihr Leben. Es gibt fünf verschiedene Tatkomplexe mit sehr unterschiedlichen Menschen, die das erlebt und überlebt haben. Daher sind die Räume und Praxen selbstbestimmten Gedenkens und Erinnerns divers und vielfältig. Die gemeinsame Arbeit von Überlebenden und Unterstützer*innen findet heute u.a. in der Soligruppe 9. Oktober ihren Ausdruck, in der jüdische wie nicht-jüdische Überlebende an die Ermordeten erinnern. Sie klären über den Anschlag und die Folgen auf, fordern Konsequenzen und gestalten gemeinsam mit Unterstützenden ein selbstbestimmtes Gedenken in Berlin und Halle, aber auch bundesweit. Überlebende und Unterstützende organisieren jedes Jahr das Festival of Resilience, einen Raum für community-übergreifende Solidarität, für Lernen und Austausch.

Nicht alle können und wollen aktiv sein. Ein Teil unserer Arbeit ist es, ansprechbar zu sein, Kontakt herzustellen und in die Beziehungsarbeit zu gehen. Es ist aber auch wichtig, wahrzunehmen und zu akzeptieren, wenn Menschen diese Form der Arbeit nicht machen können oder wollen oder ihre Haltungen und Perspektiven sich verändert haben.

Selbstbestimmtes Erinnern erkennt an, dass die Angehörigen und Überlebenden des Anschlags selbst über Erinnerungsveranstaltungen und Jahrestage bestimmen.

Newroz Duman: Selbstbestimmtes Erinnern erkennt an, dass die Angehörigen und Überlebenden des Anschlags selbst über Erinnerungsveranstaltungen und Jahrestage bestimmen. Sie allein können über ein angemessenes Erinnern entscheiden und dennoch werden Angehörige nach wie vor nicht in die Prozesse einbezogen. In Hanau betrifft das eine Vielzahl an Menschen und Familien. Die Gruppe der Angehörigen und Betroffenen ist also sehr divers – sie umfasst unterschiedliche Communities und politische Einstellungen, Bedürfnisse und Erwartungen. Selbstbestimmte Erinnerung ist also im Kontext des rassistischen Anschlags in Hanau ein Aushandlungsprozess, bei dem man Widersprüche aushalten muss. 

Außerdem geht Erinnerungsarbeit über den Jahrestag und einzelne Veranstaltungen hinaus. Sie erfordert konkrete Veränderungen, etwa der inneren Sicherheit, der Bekämpfung von strukturellem und institutionellem Rassismus und der Versorgung von Überlebenden sowie ihrer Angehörigen. Deshalb verfolgen wir von Beginn an vier zentrale Forderungen: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen. Wir setzen uns aktiv für eine Verbesserung des Opferentschädigungsgesetzes ein oder die Entwaffnung von Rassist*innen und Rechtsextremist*innen. Selbstbestimmtes Erinnern beinhaltet also immer auch die Themen, die die Angehörigen und Betroffenen bewegen und umtreiben.

Derzeit wird auch auf politischer Ebene intensiv über die Pluralisierung der Erinnerungskultur in Deutschland diskutiert: Wie kann Solidarität zwischen verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften gelingen, und welche konkreten Ansätze für solidarisches Erinnern lassen sich aus eurer Arbeit ableiten?

Solidarisches Erinnern bedeutet, zusammen die Stimmen derer zu stärken, die in der Gesellschaft weniger Gehör finden

Rachel Spiker: „Oft geht Vergessen Hand in Hand mit dem Verdrängen, welches unweigerlich zum endlosen Kreis derselben Fehltritte führt. Nur durch aktives, regelmäßiges Gedenken, welches an Lernen und Verbessern geknüpft ist, können wir als Menschen und Gesellschaft wachsen.“, so Nelli Rayvich, Studentin, Musikerin und aktives Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Halle. Sie hat den Anschlag an Yom Kippur 5780, dem 9. Oktober 2019 in Halle und Wiedersdorf erlebt und überlebt. In ihrem Zitat anlässlich des 4. Jahrestags greift sie verschiedene Aspekte des selbstbestimmten Erinnerns und Gedenkens auf, beschreibt aber auch eine Praxis solidarischen Erinnerns. Für sie ist das Erinnern mit Lernen und Verbessern verbunden. Dem geht die Fähigkeit und Bedingung voraus, zuzuhören, sich in Lebenswelten anderer einzufühlen, solidarisch zu sein und selbstkritisch auf das eigene Verhalten und Handeln zu schauen. Denn das Ziel des Erinnerns ist, nachhaltige Veränderungen herbeizuführen und die Gesellschaft zu einem besseren Ort für alle zu machen. 

Solidarisches Erinnern bedeutet aber auch, nicht nur über die Todestage der Getöteten oder die Tatorte zu sprechen. Solidarisches Erinnern bedeutet zu fragen, darüber zu sprechen und zu verstehen, wer die Getöteten waren. Was hat sie als Menschen ausgemacht? Was sind die Orte, an denen sie gelebt und gewirkt haben? Wie wollen die Angehörigen, dass wir ihre Liebsten in Erinnerung behalten? Wie geht es den Überlebenden heute? Mit welchen Folgen haben sie zu kämpfen? Solidarisches Erinnern bedeutet, zusammen die Stimmen derer zu stärken, die in der Gesellschaft weniger Gehör finden, und ihre Perspektiven sichtbarer zu machen, wie auch gemeinsam Forderungen und potenzielle Lösungen zu erarbeiten.

Newroz Duman: Wir haben in Hanau gelernt, uns gegenseitig zuzuhören. Bei einer so großen Gruppe von betroffenen Menschen könnt ihr euch sicher vorstellen, dass nicht immer alle einer Meinung sind. Daraus resultiert auch, dass nicht immer alle das Gleiche machen. Es ist wichtig, sich zu besuchen und sich beizustehen. Es ist wichtig, da zu sein, und das Leid aller anzuerkennen und nicht zu vergleichen. Das Tempo, die Kraft, die Ressourcen aller sind unterschiedlich und trotzdem versucht jede*r, sich im Rahmen seiner*ihrer Möglichkeiten einzubringen. Ich denke, wir müssen uns zuallererst einmal zuhören, uns treffen und austauschen. 

Dabei gibt es unterschiedliche Herausforderungen, beispielsweise die Kategorisierung der Angehörigen und Überlebenden, eine strukturell verursachte Hierarchisierung der Opfer. Welcher Mord wird als rassistisch oder antisemitisch anerkannt, welcher Terroranschlag als ein solcher? Der rassistische Anschlag in München im Olympia-Einkaufszentrum beispielsweise wurde mehr als drei Jahre als „Amoklauf“ bezeichnet. Von dieser Anerkennung hängt allerdings der Zugang zum Versorgungssystem und zur staatlichen Unterstützung ab. 

Auch die symbolische Anerkennung spielt für viele der Betroffenen eine wichtige Rolle: Wer wird am 11. März, dem nationalen Gedenktag an die Opfer von Terrorismus, eingeladen und wer nicht?

Unsere Arbeit wäre heute nicht möglich ohne die unermüdliche Arbeit vieler Angehöriger, Überlebender und Unterstützer*innen.

Warum sind Netzwerke für die Gestaltung der Erinnerung an rechten Terror so wichtig und wie funktionieren diese Netzwerke?

Rachel Spiker: Durch die Komplexität des Halle-Anschlags ist der Kontakt untereinander schon wie Netzwerkarbeit im Kleinen. Aber es gibt auch gemeinsame und community-übergreifende Solidarität, die in der lokalen und bundesweiten Vernetzungsarbeit von Angehörigen von Ermordeten sowie Überlebenden rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt ihren Ausdruck findet. Vernetzung und Austausch finden z.B. mit Initiativen, Angehörigen und Überlebenden aus Hanau, München, Dortmund, Merseburg, Hamburg, Duisburg, Köln, Eberswalde, Kassel, Dessau, Rostock, Solingen und Mölln statt. Mit dabei sind auch Initiativen, die Familien unterstützen, die Menschen durch rassistische Polizeigewalt verloren haben. Bis heute fehlt diesen Familien häufig die staatliche und zivilgesellschaftliche Anerkennung. Unsere Arbeit wäre heute nicht möglich ohne die unermüdliche Arbeit vieler Angehöriger, Überlebender und Unterstützer*innen, die manche schon seit Jahrzehnten leisten, z.B. Angehörige der vom NSU Ermordeten, die Initiative “Herkesin Meydanı – Platz für alle“ in Köln, der Palanca e.V. in Eberswalde oder die Familien Arslan und Yilmaz und der Freundeskreis in Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln, um nur einige wenige zu nennen. Wir lernen kontinuierlich voneinander, unsere Arbeit baut aufeinander auf.

Seit 2022 treffen wir uns als Netzwerk in dieser Konstellation zwei bis drei Mal im Jahr und tauschen uns in verschiedenen Arbeitsgruppen zu Themen wie Erinnerung und Gedenken, der Arbeit in den Initiativen, Entschädigung, gemeinsamen Aktionen und politischen Forderungen aus. Am 11. März gab es anlässlich des 3. Nationalen Gedenktages an die Opfer terroristischer Gewalt eine Pressekonferenz der Bundesregierung, auf der Angehörige und Überlebende zu Wort kamen und das Netzwerk zum ersten Mal öffentlich aufgetreten ist. 

Diese Arbeit und die gemeinsamen Aktivitäten sind wichtige Erfahrungen von gelebter Solidarität, Selbstermächtigung und eigener Handlungsfähigkeit, die sich positiv auf die Verarbeitung des Erlebten auswirken können. Gleichzeitig sollten alle im Netzwerk Engagierten nicht nur als Betroffene, Angehörige oder Überlebende dieser Taten wahrgenommen werden. Wir wünschen uns, dass es keine Reduzierung auf Opferrollen oder Opferkonkurrenzen gibt, dass Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen nicht instrumentalisiert und vereinnahmt werden und dass die verschiedenen Facetten von diversen Lebensrealitäten gesehen und gehört werden.

Newroz Duman: Die Initiative 19. Februar Hanau ist Teil einer bundesweiten Vernetzung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Das Netzwerk organisiert sich, um an gemeinsamen Themen zu arbeiten und Aktionen zu organisieren. Zuallererst war es aber wichtig, die in so vielen Städten und Bundesländern geführten Kämpfe sichtbar zu machen. So können wir uns an den Jahrestagen gegenseitig unterstützen, aber auch bei gemeinsamen wichtigen Kämpfen, wie für eine angemessene Versorgung und soziale Sicherheit von Angehörigen oder Überlebenden oder für die juristische und politische Aufklärung der Anschläge und Angriffe.

Inwieweit haben der 7. Oktober und die anschließenden Diskussionen eure Erinnerungsarbeit geprägt?

Rachel Spiker: Menschen, die den Anschlag von Halle erlebt und überlebt haben, teilen ihr Leben in ein „vor Halle“ und „nach Halle“ ein. Seit dem 7. Oktober 2023 gibt es ein weiteres „vor“ und „nach“. Einige von ihnen haben Familie und Freund*innen in Israel, sind Israelis und/oder leben selbst dort. Für viele ist das eine erneute, retraumatisierende Erfahrung, die nicht nur das Trauma vom Überleben des Halle-Anschlags reaktiviert, sondern sich in kollektive, transgenerationale Traumata von Verfolgung, Vernichtung und Überleben einschreibt. Seit dem 7. Oktober ist mehr als ein Jahr vergangen, für viele Jüdinnen*Juden weltweit sind die traumatischen Ereignisse dieses Tages, aber auch der anhaltende Krieg, das Schicksal der noch verbleibenden Geiseln sowie das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung und alle damit einhergehenden Folgen omnipräsent und Teil des Alltags. 

Der öffentliche Diskurs ist so polarisiert, dass Gesprächsräume und Möglichkeiten des Austauschs kaum noch vorhanden sind.

Der 7. Oktober hat den 4. Jahrestag des Anschlags von Halle und Wiedersdorf stark überschattet. Max Privorozki, der Gemeindevorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, sagte beim Gedenken, dass dieser Tag vor allem dem Gedenken an Jana L. und Kevin S. gewidmet sei, er aber mit seinen Gedanken auch in Israel ist. Während Überlebende und Unterstützende mit Familie und Freund*innen in Israel in Kontakt waren und versuchten, Versorgung und Evakuierungen zu organisieren, fand gleichzeitig das selbstbestimmte Gedenken den Tag über verteilt an der Synagoge, im HFC-Fußballstadion und am TEKİEZ (der ehemalige KiezDöner war einer der Tatorte des rechtsterroristischen Anschlags vom 9. Oktober 2019, heute ist es ein Raum des Erinnerns und der Solidarität, d. Red.). statt. In den Reden der bundesweit angereisten Angehörigen und ihrer Initiativen gab es viel bekundete und ausgesprochene Solidarität. Je länger der darauffolgende Krieg jedoch andauert, desto mehr hat diese Solidarität abgenommen. 

Der öffentliche Diskurs ist so polarisiert, dass Gesprächsräume und Möglichkeiten des Austauschs kaum noch vorhanden sind. Jüdinnen*Juden, die sich für Allianzen zwischen verschiedenen Communities einsetzen, so auch Überlebende des Halle-Anschlags, berichten davon, dass diese Entwicklungen ihre Beziehungen und ihre Arbeit erschweren oder eine Weiterführung momentan nicht möglich ist. Viele fühlen sich isoliert und machen weitere Antisemitismus-Erfahrungen. Dabei fällt auf, dass verschiedene Communities, in denen wir unterwegs sind und mit denen wir arbeiten, ähnliche Erfahrungen machen müssen. So wird beispielsweise Menschen, die erkennbar muslimisch oder jüdisch sind, von ihrem Umfeld geraten, ihre religiösen Symbole zum Selbstschutz abzulegen, ohne Rücksicht darauf, was das für ihre Würde und ihre Identitäten bedeutet. Wir sprechen darüber, dass etwa muslimische und als muslimisch und migrantisch wahrgenommene Menschen dem rassistischen Generalverdacht ausgesetzt sind, islamistischen Terror gut zu heißen. Wir sprechen auch darüber, dass jüdische Menschen dem antisemitischen Generalverdacht ausgesetzt sind, die Politik des israelischen Premierministers Netanyahu gut zu heißen und zu unterstützen. Muslimische und migrantische Menschen werden von ihren Community-Mitgliedern gefragt, warum sie mit jüdischen Menschen arbeiten oder in Kontakt seien. Abschätzige Kommentare erhalten auch Jüdinnen*Juden aus ihren Communities für ihr anhaltendes Engagement. Es ist eine dauerhafte Zerreißprobe.

Menschen sind verzweifelt, müde und mit der Bewältigung und Stabilisierung ihres Lebensalltags und/oder Überleben beschäftigt. Sie sind mit den Konsequenzen und Folgen ihrer eigenen Gewalterfahrungen und ihres anhaltenden diskriminierenden Alltags, die Sorge um ihre Familien und Freund*innen in den Kriegen in der Ukraine, in Israel und Gaza mehr als ausgelastet. Aber viele wissen, dass es gemeinsame politische und gesellschaftliche Antworten braucht. „Trotzdem sprechen“ heißt ein community übergreifender Buchband, herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff. „Trotzdem weitermachen“, sagt Newroz Duman in Gesprächen zwischen uns beiden immer wieder.

Newroz Duman: Am 9. Oktober 2023 jährte sich der antisemitische, rassistische und misogyne Anschlag in Halle und Wiedersdorf zum vierten Mal. Wir waren mit einer Gruppe von Angehörigen aus Hanau und zahlreichen Betroffenen aus dem bundesweiten Solidaritätsnetzwerk vor Ort. Uns war es auch im Kontext des 7. Oktober wichtig, uns mit unseren Freund*innen aus Halle zu solidarisieren und an ihrer Seite zu stehen.

Im Netzwerk haben wir schnell erkannt, dass die aktuelle Debatte, die in Politik und Medien geführt wurde, spaltet und versucht, Betroffene gegeneinander auszuspielen. Auch unser Netzwerk ist nicht von Herausforderungen befreit, die Verschiedenheiten sind da. Die mediale und politische Debatte in Deutschland erzeugte große Angst und Verunsicherung. Es war uns über all den Schmerz hinweg klar, dass die deutsche Politik hier – ob sie es wollte oder nicht – marginalisierte Gruppen gegeneinander ausspielte. Einmal mehr bleibt hier zu sagen: Rechte Hetze schützt uns nicht!

Wir versuchen, in unserem Netzwerk Raum für Austausch zu ermöglichen, auch wenn das mit Herausforderungen verbunden ist. Es ist nicht einfach für die Betroffenen, sich über ihre alltäglichen Kämpfe, Ängste und gesundheitlichen Probleme hinweg mit der Debatte um den Krieg in Israel und Palästina auseinanderzusetzen und zusammenzuhalten. Wir sind als Solidaritätsnetzwerk sicher nicht alle einer Meinung, dennoch halten wir gemeinsam an unseren Zielen fest.

Ihr weist immer wieder darauf hin, dass Erinnerung an rechten Terror Veränderung bedeutet: Was hat sich seit den Anschlägen in Halle und Hanau 2019 und 2020 verändert und was muss sich noch verändern?

Rachel Spiker: Seit dem Halle-Anschlag wird vermehrt über Antisemitismus, Rassismus, Misogynie, Antifeminismus und dem Zusammenwirken dieser Ideologien gesprochen. Im Kontext der Aufklärungsarbeit im Rahmen des Gerichtsverfahrens gegen den Attentäter 2020 sind viele unterschiedliche Angehörige, Überlebende und Betroffene zu Wort gekommen. Ihre Perspektiven wurden sichtbar und hörbar gemacht. Neben dem kollektiven Verständnis von Verfolgung und Vernichtung wurde eine neue Form der Selbstermächtigung erfahrbar: Wir leben, wir sind hier in Deutschland, wir sind Teil dieser Gesellschaft und wir bleiben. Viele Jüdinnen*Juden wurden dadurch ermutigt, sich Gehör zu verschaffen und ihre Positionen in dieser Gesellschaft laut und eindeutig für sich zu beanspruchen. 

Es gab vereinzelt auch Konsequenzen, z.B. gibt es Weiterbildungsmaßnahmen für die Polizei. Es wurde ein Rabbiner als Ansprechpartner für die Polizei ernannt und ein Antisemitismusbeauftragter für die Justiz eingesetzt. Diese Maßnahmen sollten aber zusammen mit einer Auseinandersetzung mit dem strukturellen Antisemitismus und Rassismus in den staatlichen Strukturen einhergehen. Bis heute sind İsmet Tekin und Aftax I. nicht als Überlebende juristisch anerkannt. Bis heute warten wir auf einen landesspezifischen Opferfond in Sachsen-Anhalt, der Menschen unterstützten soll, die Gewalt und Terroranschläge erlebt und überlebt haben. Darüber hinaus müssen wir immer wieder feststellen, dass Betroffenengruppen von Politiker*innen gegeneinander ausgespielt werden oder ihre Wünsche und Bedürfnisse bei der Umsetzung des städtischen Gedenkens wenig bis keine Berücksichtigung finden. Im kollektiven, bundesweiten Gedächtnis sind die Namen der Ermordeten von Halle nach wie vor wenig verankert. Der TEKİEZ als selbstorganisierter Ort der Erinnerung und Solidarität wird weder von der Stadt Halle noch vom Land Sachsen-Anhalt unterstützt. Seit Jahren kämpfen wir um die Erhaltung dieses Ortes. 

Nachhaltige Veränderung erreichen wir nur dann, wenn selbstbestimmtes Erinnern und Gedenken nicht nur als individuelle, sondern als kollektive gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen werden.

Newroz Duman: Heute stehen die Namen der Opfer im Zentrum. Die Perspektive der Betroffenen wird zumindest mehr gesehen und gehört. Behörden und Ämter versuchen, sensibler mit der Thematik umzugehen. Das reicht noch lange nicht aus, aber wir sehen die Veränderungen und die bundesweite Solidarität. 

Die Perspektive der Betroffenen wird zumindest mehr gesehen und gehört.

Nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau gelang es uns, den Hessischen Landtag dazu zu bewegen, einen hessischen Opferfond einzurichten, der kurz nach den Anschlägen erste Hilfszahlungen ausschütten konnte. Auch auf politischer Ebene waren wir aktiv und erfolgreich: Mit Hilfe von Forensic Architecture, einer unabhängigen Rechercheagentur der Goldsmiths University of London, und Journalist*innen konnten wir aufdecken und darauf aufmerksam machen, dass das Notrufsystem in Hanau nicht ausreichend funktionierte. So gab es beim Hanauer Notruf unter anderem keine Überlauf- bzw. keine Weiterleitungsfunktion für nicht angenommene Anrufe, was dazu führte, dass nicht angenommene Anrufe ins Leere liefen. 

Weder die beteiligte Polizeibeamtin, die am Tatabend am Telefon saß, noch der Hanauer Polizeichef und auch nicht der hessische Polizeipräsident wollen zum Zeitpunkt des Anschlags von diesem technischen Defizit gewusst haben. Im Zuge des parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurden weitere notwendige Verbesserungen aufgezeigt, unter anderem in den Sicherheitsbehörden. Die entsprechenden Institutionen haben Änderungen eingeleitet und im Falle des Notrufsystems auch schon umgesetzt. Weitere Empfehlungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses sollen in der Zukunft verwirklicht werden. Wir lehnen jedoch die Vorstellung ab, dass diese Erfolge ein Geschenk an die Betroffenen sind - auch wenn dies manchmal so dargestellt wird - denn wir sehen sie als Pflicht und Verantwortung der Behörden und des Staates.  

Und trotzdem bleibt auch noch viel zu verändern: Wir haben auf dem Hanauer Marktplatz immer noch kein Mahnmal, das an den rassistischen Terroranschlag erinnert. Wir haben genauso wenig eine Verschärfung des Waffenrechts oder Konsequenzen bei der zuständigen Waffenbehörde durchsetzen können. Auch die Ermittlungen wegen des verschlossenen Notausgangs am zweiten Tatort wurden mit zwischenzeitlich im Untersuchungsausschuss widerlegten Argumenten eingestellt. Nicht zuletzt fordern wir schon lange die Einrichtung einer unbürokratischen Grundrente mit einer adäquaten Existenzsicherung für Betroffene von Terroranschlägen.


Weitere Informationen zum Anschlag in Hanau:


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de