"Der Andere, das ist der unverzichtbare Teil von mir selbst"

Interview

Der Schriftsteller Muepu Muamba spricht mit Safiye Can und Hakan Akçit über die Rolle von Poesie und Kunst in der Gesellschaft, die Aufarbeitung des Kolonialismus und seine Beziehung zum Konzept "Heimat".

Safiye Can mit Muepu Muamba
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Muepu Muamba im Gespräch mit Safiye Can

Safiye Can: Wenn man die verschiedenen Stationen deines Lebens betrachtet, so hast du einen Großteil deines Lebens im Ausland gelebt. Schon mit jungen Jahren bist du nach Belgien gezogen, um später Soziologie und Journalistik zu studieren. 1968 wurdest du aus Belgien ausgewiesen, weil du an der 68er Bewegung teilgenommen hast, und du bist in dein Heimatland Kongo zurückgekehrt, den du dann 1979 wieder und diesmal aus politischen Gründen, verlassen musstest. Fast fünf Jahre lang suchtest Du vergebens in mehreren afrikanischen Ländern  eine Bleibe. Ab 1984 hast du dann als politisch Verfolgter Autor in Paris gelebt bis du 2000 nach Frankfurt gezogen bist. Wie würdest du als Exilautor den Begriff Heimat definieren?

Muepu Muamba: Oje! Da katapultierst du mich in die Abgründe der Vergangenheit! Es ist sehr heikel, von sich selbst zu erzählen. Das ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, weil sie immer von einer Art Graben durchzogen ist und man fast nur um sich selbst kreist. Autobiographien sind häufig ein Blick voller Zuneigung auf sich selbst – jemand arrangiert sich mit sich selbst. Sie sind nichts anderes als ein kleines, erschreckendes Resümee der langen Lebensreise, des Rätsels des Lebens. Umso mehr, wenn das Leben dich zwingt, zwischen den Grenzen herumzuirren! Das verkompliziert die Sache zusätzlich.

Meiner Meinung nach enthüllen Biographien nichts Wesentliches. Sie erzählen häufig nicht von den vielen Sonnen, die den Körper verbrannt haben, von ihren verführerischen Flammen, vom Leiden oder von den betörenden Liebkosungen; noch erzählen sie von den glühenden, manchmal zurückhaltenden Zärtlichkeiten, die die Seele im Augenblick des zerstörerischen Zweifels und der Hoffnungslosigkeit berührt und sie gerettet haben. Von diesen schwierigen Augenblicken, die in der Seele unauslöschliche Risse hinterlassen.

Heimat? Das Wort an sich hat für mich etwas Geheimnisvolles; ich, der ich auf so vielen Trottoirs geschlafen und so vielen Gewittern getrotzt habe! Ich habe mich häufig gefragt, welches französische Wort dem entspricht. Patrie? Mère-patrie? Und in den kongolesischen Sprachen? Ich finde dort keine echten Entsprechungen, keine echten Äquivalente. Dies sind klangvolle Wörter mit Definitionen mit zahlreichen Zugängen oder Ausgängen, je nachdem. Gewissermaßen Koffer-Wörter! Jeder tut das hinein, was er will. Das Wort Heimat ist übrigens auf mich definitiv nicht anwendbar: Ich bin in so jungen Jahren nach Europa gekommen, aber ich habe mit meinen Erinnerungen unwissentlich ein wenig Staub mitgebracht…

Klänge und Wörter von dort, die meine Seele durchziehen, subversiv. An diese alten Wurzeln haben sich andere angeheftet, die aus mir eine multiple Persönlichkeit machen. Ich bin immer ein wenig von woanders, von hier und von dort unten. Und weder von hier noch von dort unten. Dieses Anderswo, das zur Besonderheit wird, egal, wo man sich aufhält! Ich habe den Duft von so vielen Gegenden und so vielen Landschaften in mich aufgenommen. Ich wurde von so vielen Atemzügen und manchmal von so viel Verachtung getroffen, manchmal auch von so viel Hass, dass ich begriffen habe, wie stark und wichtig die Hoffnung und die Großzügigkeit sind, um das Innerste des Herzens und des Geistes mit Sauerstoff zu versorgen. Vielleicht sagt das Wort Heimat nur denjenigen Frauen und Männern etwas, die ihr Dorf, ihre Gegend nie verlassen, um andere Düfte, andere Farben in sich aufzunehmen.

Damals, als ich Afrika so jung verlassen habe, habe ich mir keine Fragen gestellt. Das Innerste von Kindern wird nur von Abenteuern, von zufälligen Begegnungen berührt. Es sind die Erwachsenen, die unsere Welt mit Boshaftigkeiten, Ängsten und mit ihren Identitätsfragen überschwemmen.

Ich kann sagen, dass meine Heimat zunächst einmal meine Frau ist, weil ich definitiv in dieser vielfarbigen Iris ihrer Augen lebe und in ihrem Lachen im Sonnenschein. Meine Heimat, das sind auch meine Freunde. Aber ist Heimat nicht auch eine Frage der Entscheidung? Manchmal eine Rebellion gegen Gemeinplätze, die man uns durch Propaganda aufzwingt? Und gegen die Richtung, die ein Land nimmt? Eine Nation ist ein dichter Wald von Identitäten, hergestellt von der Mischmaschine der Geschichte! Sind wir wirklich für den Nährboden verantwortlich, aus dem wir hervorgegangen oder für die Kultur, in der wir aufwachsen sind? Wie prägt sich uns diese Heimaterde ein? Über die Muttermilch? Das Problem beginnt schon auf dieser Ebene. Wir kommen bereits als Mischung, als Mestizen, als Geformte auf die Welt, gezeugt von zwei fast gegensätzlichen Identitäten: jener der Mutter und jener des Vaters. Die Liebe spielt dabei die Rolle des Rührwerks. Wer daraus hervorgeht, befindet sich immer im Bereich des Unvorhergesehenen, Komplexen und von der Natur Recycelbaren.

Ist unsere Identifikation mit einem Land nicht in erster Linie die Folge jener unbewussten Erbschaften, die wir von anderen erhalten, von unseren Regionen, unseren Gesellschaften? Ich habe mich immer über meine Identifikation mit Afrika gewundert. Häufig habe ich mich gefragt, woher meine Identifikation mit diesem Kontinent, mit dem Kongo kommt. Ich finde das alles rätselhaft, weil ich mehr als die Hälfte meines Lebens fern des Kongo, fern von Afrika verbracht habe. Aber diese Fragen rauben mir nicht den Schlaf. Ich gründe auf mehreren Träumen, mehreren Weisheiten, wurde auf mehr als nur einem Acker ausgesät.

Du siehst also, dass die Antwort auf diese Fangfrage lang, komplex und schwierig ist! Aber um auf das Exil zurückzukommen: Für denjenigen, der von weit herkommt und andernorts Schutz sucht, bedeuten letztlich die Frauen und Männer, die ihn empfangen, die ihn in die Gesellschaft aufnehmen, Heimat. Auf dieser gnadenlosen Welt mit ihrer unverhohlenen Demonstration von Verachtung und Gewalt kommt man ohne die Zärtlichkeit, ohne die offenen Arme und das Lachen anderer Menschen nicht weiter! Man kann unmöglich überleben. Das psychische, ja das existentielle Überleben ist keine theoretische Frage, sondern eine praktische, auch eine Frage der sich tatsächlich treffenden Blicke.

Gab es Momente in deinem Leben, in denen dich heftiges Heimweh befiel und du kurz davor warst, trotz möglicher Gefahren für Leib und Leben wieder in den Kongo zurückzukehren?

Heimweh? Ein allgegenwärtiges, manchmal erschütterndes Gefühl. Auch dieses entsteht aus tiefsitzenden Erinnerungen, die man überall mit sich nimmt, die ins Blut eingraviert sind. Eltern und Freunde, die du auf der ganzen Reise wie das Herzblut mit dir herumschleppst! Zu dem Gefühl von Exil gesellt sich diese unangenehme Vorahnung, dass du vielleicht nie mehr die Gelegenheit haben wirst, sie wiederzusehen. Wenn man an da unten denkt, an das Land, in dem man geboren wurde, was einem das Konzept Exil eigentlich verbietet, kehren die Gedanken dorthin zurück und man erforscht, was der Duft der alten Erinnerungen, im Kopf allgegenwärtig, einem mitteilen kann. Dieses Wachrufen ist häufig starr wie alte Steine in den Spalten der Berge, aufgetürmt von der Reise und den Irrfahrten des Lebens. Dieses Heimweh ist bei den Exilanten, ohne jeden Heimathafen, besonders stark.

Weil sie wissen, dass sie aufgrund der Tyrannei einiger Einzelpersonen nicht mehr in ihre Länder zurückkehren können! Diese Männer, die ganze Länder konfiszieren, um sie zu ihrem Privateigentum zu machen. Die Landschaften der Kindheit, auf die man niemals achtet, solange sie einen mit ihrem Duft umgeben, erfüllen dich plötzlich mit Traurigkeit. Ein unangekündigter Anruf von dort unten, unvorstellbar geworden, ist zugleich mit schmerzhaften Ereignissen verbunden, mit dem Tod geliebter Menschen, von Eltern oder Freunden, von deren Ableben man erfährt und an deren Beerdigung man nicht teilnehmen kann. Das sind die Augenblicke, in denen man Lust hat abzuhauen, zurückzukehren. Es ist schwierig, ja fast unmöglich, das Heimweh, die Kindheit, ganz hinter sich zu lassen. Das habe ich auf die harte Tour gelernt. Außerdem ist es schwierig, sich von dem zu lösen, was man mit der Muttermilch aufgesogen hat. Schließlich spielen die Mütter bei dieser Sache eine sehr wichtige, unverzichtbare Rolle. Denn ohne eine Menschenseele, die dich ernährt und dich unterstützt, kannst du auf den Straßen nicht überleben!

Mitte der 70er Jahre hast du dich in Kinshasa neben deiner Tätigkeit als Schriftsteller und Journalist auch als Verleger gearbeitet. Mit einem Freund hast du den Verlag „Les Presses Africaines“ gegründet und deine kritischen Texte waren dem Mobutu-Regime ein Dorn im Auge. Wie gefährlich war es zum damaligen Zeitpunkt dein Novellenband „Ventres Creux“ („Hohle Bäuche“) herauszubringen?

Damals galt der Hinweis auf bestimmte Wahrheiten im Kongo als Verrat. Das war, als würde man das Bild des Landes beschmutzen. Für mich wurde es gefährlich, weil ich mir die Freiheit nahm, die Dinge beim Namen zu nennen, mich gegen die allgemeine Manipulation zu wehren. Es ist in jeder Gesellschaft gefährlich, sich dem Strom entgegenzustellen. Keine Gesellschaft mag Einzelgänger – Leute, die sich die geistige Uniform nicht anziehen wollen, denen Trends und Tendenzen egal sind. Häufig verbirgt sich die Versklavung des Geistes hinter diesen pfiffigen Erscheinungen der Modernität. Jede Epoche hat ihre „Trends“, die manchmal, später, zur geistigen Uniform werden! Es liegt an uns, stets auf der Hut, stets wachsam zu sein.

Damals, in den 1970er Jahren, war in Kongo die Blütezeit von „revolutionären“ Parolen. Ich mag keine Parolen, sie sind häufig die beste Methode, um den menschlichen Geist abzustumpfen, ihn zu versklaven. Der damalige Informationsminister, Dominique Sakombi Inongo, war darin ein absoluter Spezialist. Er hatte sich China als Vorbild genommen. Er hatte Mobutu erfunden, hatte den Mythos um ihn entworfen. Auch Diktaturen sind eine Erfindung der Hofschranzen, der kleinen Tyrannen, die die Tyrannen umkreisen und den Antriebsriemen spielen. Der Hof funktioniert in sämtlichen Regimen. Er ist für die Macht lebenswichtig. Ohne dieses Gesindel kann keine Macht wirklich funktionieren. Sakombi hatte Mobutu zum Gott erhoben, er hatte ihm einen adligen Stammbaum erfunden. Er war sein Virgil. Auch das ist so alt wie die Welt.

In dieser Art von tyrannischen Regimen zieht eine Majestätsbeleidigung eine fast so hohe Strafe wie ein Kapitalverbrechen nach sich. In der „Demokratie“ dagegen lässt man es laufen, lässt die Leute quatschen, häufig ohne Konsequenzen. Ich habe gelernt, dass der eigentliche Unterschied zwischen einer tyrannischen Diktatur und einer Demokratie in Folgendem besteht: In der tyrannischen Diktatur macht man dich gleich einen Kopf kürzer, in der „Demokratie“ sagt man dir: „Rede nur weiter“! Es ist jedoch dringend nötig, dass wir den wahren Sinn der Wörter wiederfinden, ihr wahres Gewicht und den Respekt, der ihnen gebührt. Wir müssen ihnen ihre ursprüngliche Funktion als Ausdruck der menschlichen Realitäten in der Gesellschaft wiedergeben, damit die Politiker wieder Verbindung mit der Bevölkerung aufnehmen können. Diese Hohlheit der Wörter, dieses Missverständnis durch die Wörter, erklärt zu einem großen Teil die gewaltige Krise, in der wir derzeit leben.

Sollten alle Künstler, insbesondere Schriftsteller eine politische Stimme haben, die sie auch laut vertreten?

Wladimir Majakowski, revolutionärer russischer Dichter, schrieb in seinem Manifest von 1926 über das Schreiben von Poesie: „Der Dichter muss im Zentrum der Dinge und der Ereignisse stehen, um die Gesellschaftsordnung genau zu begreifen. Außerdem muss er sich eher über die Wirtschaft informieren und ein Gespür für Geschichte bekommen, den konkreten Frauen und Männern große Aufmerksamkeit schenken, als Bücher zu lesen, die von dogmatischen, immer den gleichen alten Schund wiederkäuenden Professoren verfasst wurden!“ Ich zitiere natürlich aus dem Gedächtnis!

Die Debatte ist also, wie du siehst, nicht neu. Ich kann bestätigen, dass Majakowski uns empfiehlt, der Stachel unserer Gesellschaften zu sein. Es wäre sehr wünschenswert, wenn Künstler und Schriftsteller eine politische Stimme hätten. Schließlich sind sie „Prominente“, um ein Wort zu gebrauchen, das hier in Deutschland sehr in Mode ist. Aber jeder Künstler, jeder Schriftsteller ist für sein Tun selbst verantwortlich. Er muss nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden! Niemand kann über die gesellschaftliche Verantwortung eines anderen urteilen. Das Engagement ist eine persönliche Entscheidung. Die Weigerung, einem vorbestimmten Lebensmuster zu folgen, das andere ihm, ohne zu fragen, aufzwingen wollen. Eine kategorische Ablehnung von Ungerechtigkeit und Erniedrigung. Aus diesem Grund würde ich mich wie ein Diktator aufführen, wie ein Fundamentalist, wenn ich verordnen würde, dass jeder Künstler, jeder Schriftsteller sich politisch engagieren muss. Jeder entwickelt seine eigene Weltanschauung. Und diese Weltsicht, die jeder von uns besitzt, ist zunächst einmal zum Teil ein Erbe, sie wird uns von weither übertragen, sie reichert sich von allein mit dieser Kultur an, die wir täglich leben. In Wahrheit gibt es so etwas wie absolute Neutralität, eine absolute Objektivität gar nicht.

Wir sind das Produkt unserer Erziehung und unserer Kulturen, unserer Traditionen, die zunächst einmal ein Vermächtnis sind, keine individuelle, überlegte Entscheidung. Es handelt sich vielmehr um kollektive Entscheidungen, um Werte, die eine Gesellschaft durch Initiation – auch in Schulen und Universitäten – an zukünftige Generationen weitergibt, weil sie sie als maßgeblich für ihr Überleben als menschliches Kollektiv ansieht. Es gibt so viele Millionen Menschen, die das Leben der anderen leben, ein von den anderen vorgeschriebenes Leben führen. Dieses diffuse Gebilde der Werte wird Identität genannt. Auf dieser Basis gründet sich unsere jeweilige Persönlichkeit. So trägt jeder nach seinem Vermögen und mit seiner eigenen Geschichte zu den Angelegenheiten der Gesellschaft bei. Derjenige, der behauptet, er „beteilige sich nicht an der Politik“, bringt keinesfalls Neutralität zum Ausdruck, er äußert vielmehr eine Meinung, er nimmt gewissermaßen eine politische Haltung ein und drückt quasi auch sein Einverständnis mit dem aktuellen Funktionieren seiner Gesellschaft aus. Er äußert sich, er bestätigt, dass er mit dem Status quo einverstanden ist.

Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der gesprochenen „Demokratie“ und der gelebten Demokratie. Erstere gründet sich auf der Hohlheit der Sprache, der Worte; die Zweite basiert auf der im täglichen Leben praktizierten Gerechtigkeit und dem Respekt vor der Würde jedes Lebewesens! Was ich über mich sagen kann, ist, dass ich treu und loyal zur Würde der Menschen stehe, aber ich bin untreu und illoyal angesichts des Elends, in das man sie stürzt, und angesichts ihrer Erniedrigungen. Bei diesem Thema bin ich kompromisslos! Und dass man Menschen die Menschlichkeit abspricht; die Verachtung, unter der Afrika und die Afrikaner gelitten haben und noch immer leiden, ist eine extreme Gewalttätigkeit, eine nicht hinnehmbare Gewalttätigkeit.

Nach 1979 hattest Du eine fünfjährige Odyssee durch mehrere Länder Afrikas, als du vergeblich versucht hast Asyl zu finden. Anschließend warst du gezwungen ins europäische Exil zu gehen. Würdest du heute wieder so handeln, auch wenn du wüsstest, dass du deine Heimat nie wieder sehen wirst?

Darauf antworte ich, ohne zu zögern, dass ich es wieder so machen würde! Zum Glück halten uns unsere Träume und Überzeugungen während unserer Kämpfe aufrecht. Auch wenn diese Träume und Überzeugungen manchmal ins Wanken geraten! Diese Träume und Überzeugungen sind häufig sehr unbesonnen. Sie besitzen keinerlei Gespür für die Gefahr! Vor allem, wenn man noch jung ist und meint, uns wäre alles erlaubt. Diese Träume gestatten uns, Risiken einzugehen, ohne an die Konsequenzen zu denken, im Gegensatz zu den „rationalen“ Frauen und Männern, die Rechenmaschinen im Kopf und Algorithmen in der Seele haben.

Auf jeden Fall erlaubt uns das menschliche Dasein nicht, uns vor der Zukunft zu schützen, uns mit Genauigkeit und Gewissheit unser Leben von morgen zu beschreiben. Morgen ist immer ein neuer Tag. Morgen ist immer morgen, und das trotz aller Algorithmen! Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit unseren Utopien und unserem „Prinzip Hoffnung“ zurechtzukommen. In diesem Sinne pflichte ich Muhammed Ali bei, der zu Recht festgestellt hat: „Unmöglich ist nichts anderes als ein großes, von Dummköpfen und Schwächlingen ausgesprochenes Wort, die sich damit zufrieden geben, in der Welt so, wie sie sie vorgefunden haben, zu leben. Anstatt, dass sie herauszufinden versuchen, wie viel Macht sie besitzen, die Welt zu verändern.“

Dieser Aufstand des menschlichen Gewissens gegen die Heuchelei der Betrüger ist nötig und lebensnotwendig. Mythen und Legenden sind eine erschreckende Formatierung, eine stumpfsinnige Tyrannei gegen den Geist und das Gewissen. Sie umstehen schon bei unserer Geburt unsere Wiege, sie begleiten uns unser ganzes Leben lang. Es sind die grundsätzlichen Eigenschaften, die sich Nationen und Völker zu ihrem eigenen Vorteil zuschreiben. Häufig handelt es sich um die Grundstoffe für Fabriken, in denen Verachtung und Gewalt erzeugt werden. Jede Generation muss sie also in Frage stellen, sie sehr kritisch hinterfragen und Beweise für die Werte verlangen, auf die sie sich berufen.

 

Muepu Muamba, Dichter, Schriftsteller und Journalist aus der Demokratischen Republik Kongo

Als Vorsitzender des Vereins „Dialog International“ versuchst du dich gemeinsam mit anderen Exilkongolesen und Deutschen für den Frieden und die Menschenrechte im Kongo einzusetzen. Kannst du uns näheres über die Arbeit des Vereins „Dialog International“ erzählen? Welche aktuellen Projekte gibt es?

Diese Frage spricht die Enttäuschungen und Leiden an, mit denen wir konfrontiert worden sind. Dieser Verein war von Kongolesen und Deutschen ins Leben gerufen worden. Er war Teil dieser Utopien und Hoffnungen des 20. Jahrhunderts! Er wollte eine andere Art der Zusammenarbeit von Männern und Frauen aus Deutschland und dem Kongo fördern; eine Kooperation mit gemeinsamer Verantwortlichkeit, basierend auf dem Respekt und der menschlichen Würde. Nur diese sind in der Lage, die durch die Entfremdung geschlagenen Wunden zu heilen. Wir müssen heute mehr als je zuvor die Reste dieser Utopien retten, die wir in diesem Jahrhundert über Bord werfen, in dieser vom kannibalischen Kapital beherrschten Epoche des „Kapitalozäns“! Dieses 21. Jahrhundert der Sorgen und Ängste, das an die schlimmsten Zeiten der sogenannten „menschlichen“ Geschichte erinnert. Von überall her vernehmen wir die Klagen der Tragödie!

Unser Verein wollte also den Blick der Menschen auf andere Menschen verändern. Er wollte gegen die Klischees ankämpfen, um gemeinsam der Zukunft entgegenzugehen. Eine echte Zusammenarbeit ist nur zwischen Gleichen möglich, wie Nelson Mandela feststellte, zwischen Personen, die sich gegenseitig respektieren. Das ist in einer Welt, in der das Wort Respekt an sich überhaupt keine Bedeutung hat, eine gigantische Herausforderung. Respekt ist an der Börse nicht notierbar. Der Respekt vor dem Geld, der Respekt vor der Macht, der Respekt vor der Stärke scheinen die Menschen auszuklammern und in einen riesigen Mülleimer zu werfen.

Die Stories, die „Spin-Doktoren“, preisen uns häufig mit lautem Getöse ungenaue Wörter an, an denen wir wie Fische auf dem Trockenen ersticken.  Aber der Alltag ist komplexer! Er ist nicht Theorie. Es geht um Begegnungen von realen Frauen und Männern: um Großzügigkeit, Fürsorge, aber auch um Macht, Arroganz und Demütigung,  da kommt alles zusammen. Was ich bei der Zusammenarbeit mit Vereinen und Institutionen außerdem gelernt habe, ist, dass es, wie ich schon oben erwähnte, schwierig ist, das zu verlernen, was man mit der Muttermilch von seiner Kultur aufgesogen hat. Die Elite dieses Kontinents Europa hat enorme Schwierigkeiten, die Verachtung dem Anderen gegenüber abzulegen. Diese aus alten Zeiten stammende Verachtung des Anderen ist schon so lange in deren Adern eingraviert, schon seit mehreren Jahrhunderten, dass sie ein Teil von ihnen geworden ist. Diese Verachtung kennt namhafte Vertreter, insbesondere, wenn es um Afrika geht: Kant, Voltaire, Hegel… Unsere Vorstellung vom Anderen ist häufig ein Produkt unserer Fantasie, unseres kulturellen Erbes. Das ist das Paradox, eine unerträgliche Posse!  

Doch die Zusammenarbeit zwischen Europäern und Afrikanern ist immer sehr schwierig und mit zahlreichen Fallstricken verbunden. Häufig ist der Paternalismus nicht weit, die Wohltätigkeit hat oft etwas Schmutziges, Schmieriges. Auch die Heuchelei und Unredlichkeit, das alles haben wir bei Dialog International erlebt! Frauen und Männer sind überall Frauen und Männer. Manchmal sind sie großzügig, manchmal grausam. Das hat uns große Nachteile eingebracht, großen Schaden angerichtet, die wir mehr schlecht als recht zu überwinden versuchen. Doch trotz alledem haben wir im Laufe von über zwei Jahrzehnten hier und im Kongo mehrere soziale, ökologische und Bildungsprojekte realisiert, die dazu führten, dass andere es uns gleichtun und wie wir, versuchen, die eingeschlafenen Gewissen wachzurütteln! Im Grunde genommen geht es vor allem darum.

Das Wort „Moyo“ ist nicht nur ein Grußwort im Kongo, was übersetzt „dein Herz soll leben“ heißt, sondern es ist auch der Titel der ersten deutschsprachigen Anthologie kongolesischer Schriftsteller: „Moyo! Der Morgen bricht an. Stimmen aus dem Kongo”, die du 2013 im Brandes & Apsel Verlag herausgebracht hast. Was hat dich zu dieser Anthologie bewegt?

Ich wollte den Kongo durch die Kongolesen selbst präsentieren und darstellen lassen, ohne Vermittlung von Spezialisten, also einen Blick aus dem Inneren des Landes heraus ermöglichen. Es ging mir darum, den Kongolesen eine Stimme zu geben, die Gelegenheit, ihr Land aus ihrer Sicht darzustellen. Es sprach damals und spricht noch heute aus dem, was über den Kongo geschrieben wird, große Verachtung, Paternalismus und viele Unwahrheiten. Eine Art Lüge durch Verschweigen. Diese Situation trifft nicht nur auf den Kongo zu. Wir brauchen nur ein paar Länder zu nennen: das Land der Märtyrer in Zentral-Afrika, der Tschad und die Elfenbeinküste… Welche Mitschuld tragen fremde Länder an ihrem Drama? John Kerry sagte neulich anlässlich der Verurteilung von Hissène Habré, des ehemaligen Präsidenten des Tschad: „Dieses Urteil ist für die Vereinigten Staaten eine Gelegenheit, mit der Reflexion darüber zu beginnen, welche Rolle wir selbst in der Vergangenheit des Tschad gespielt haben, um daraus Lehren zu ziehen.“

Human Rights Watch hat zwei interessante Berichte über den Tschad veröffentlicht: Der Eine über die Komplizenschaft Frankreichs mit der Regierung von Hissène Habré, der Andere über die Komplizenschaft der Vereinigten Staaten mit eben dieser Regierung! Dieser Hissène Habré ist zu Recht verurteilt worden, ich freue mich darüber. Aber seine ausländischen Komplizen? Wirtschaftlich steht so viel auf dem Spiel, so dass angeblich „demokratische“ Länder vor den Verbrechen und den Verstößen gegen die Menschenrechte die Augen verschließen! Afrika würde vielleicht überhaupt keine Hilfe benötigen, wenn es von seinen Reichtümern normal profitieren könnte, aber das ist bei weitem nicht der Fall.

Du bist einer der Initiatoren des sehr erfolgreichen Festivals „Africa Alive“ Film- und Kulturfestivals.  Kannst Du uns ein wenig über die Entstehungsgeschichte und den aktuellen Stand berichten? An wen sollte man sich wenden, wenn man bei der Planung und Organisation mitwirken möchte?

Ich bin einer von denen, die diese Initiative Africa Alive (Gründungsjahr 1994) ins Leben gerufen haben. Wir waren alle von der Begeisterung und Hoffnung des vergangenen Jahrhunderts erfüllt. Wir waren überzeugt, dass wir den Blick der Deutschen auf Afrika und die Afrikaner verändern werden. Das war eine riskante Wette! Wir hatten nicht mit den Belastungen der Vergangenheit und der menschlichen Realität gerechnet, den Ambitionen der Frauen und Männer und mit der Gewicht der Mythen, die den Geist prägen. Africa Alive wurde mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie Dialog International: den Konflikten einzelner Personen, der Arglist und dem Mangel an Respekt vor den Menschen, dem Ausnutzen anderer für seine eigenen Interessen. Das alles macht die Zusammenarbeit nicht einfach. Der Mensch als Abstraktion, als fiktiver Begriff oder als Maske funktioniert, aber dahinter verbirgt sich die ganze Gewalttätigkeit der Gesellschaft.

Im Laufe dieser langen Zeit sind einige unserer Freunde gestorben, andere sind zu neuen Horizonten aufgebrochen und wieder andere haben die Initiative aus dem einen oder anderen Grund verlassen, das ist der natürliche Lauf der Dinge. Damals waren wir so etwas wie Pioniere, und nach uns sind andere Initiativen entstanden. Heutzutage nehmen afrikanische Filme und die afrikanische Kultur in Deutschland viel Raum ein. Auch wenn man weiterhin bedauern muss, dass afrikanische Filme nicht in die kommerziellen Kinos kommen. Diesen Kampf überlassen wir nun den Jüngeren: Sie sind in unserer Initiative, die eine offene Initiative bleibt, willkommen. Um ihre Würde zu erringen, müssen sie allerdings Opfer bringen. Kein Kampf wird ein für alle Mal gewonnen!

Während dieser bald fünfundzwanzig Jahre von Afrika Alive wurden Freundschaften geknüpft, fanden Paare zueinander und wurden Kinder geboren. Wir haben fantastische, engagierte Frauen und Männer kennengelernt und vor allem sehr engagierte Künstler: Regisseure, Schriftsteller und natürlich die begeisterten und solidarischen Frauen und Männer, die in Frankfurt am Main wohnen. Stets bereit, neue Horizonte zu entdecken, um dazuzulernen und gemeinsam von einer menschlicheren und gerechteren Welt zu träumen. Auch ihre Begeisterung ermuntert uns, trotz der zahllosen Schwierigkeiten weiterzumachen. Diese menschliche Flamme und die Freude, den Anderen zu entdecken, dieser Mut, ohne Vorurteile mit dem Anderen konfrontiert zu werden und gemeinsam den tödlichen Slogan „einer alternativlosen Welt“ Lügen zu strafen. Dies alles bleibt für uns der starke Antrieb für unser Handeln. Wir wollen das an die Jüngeren weitergeben, die sich uns gerne anschließen mögen. (www.africa-alive-festival.de)

Die belgische Staatsanwaltschaft hat 2012 ein Ermittlungsverfahren zur Aufklärung der Ermordung Patrice Lumumbas eröffnet, nachdem im selben Jahr eine Fachkommission des belgischen Parlaments offiziell bestätigt hat, dass das belgische Königshaus in Kooperation mit dem CIA in die Ermordung involviert war. Was hast du empfunden, als du vom Ergebnis des Schlussberichts erfahren hast?

Es ist wirklich interessant, das Vorwort zum überarbeiteten Bericht dieser Untersuchungskommission zur Ermordung von Patrice Lumumba zu lesen, die erst vor etwa fünfzig Jahren stattgefunden hat. Diese Damen und Herren des „demokratischen“ Königreichs Belgien schreiben Schwarz auf Weiß und ohne in Lachen auszubrechen, folgendes: „Man muss diese Ereignisse im Kontext der Epoche sehen; in diesen Jahren war die Ethik eine Andere, die internationalen Beziehungen waren anders.“ Soll das etwa heißen, dass die Ethik und die Demokratie der 1960er Jahre die Ermordung und Ausplünderung anderer Völker gestatteten? Das ist die Frage, die man sich stellen kann, wenn man dieses Vorwort liest. Aber ich bin mir nicht sicher, dass sich diese Praktiken inzwischen deutlich verändert haben. Ich habe diesbezüglich enorme Zweifel! Noch zu diesem Thema: Ein Abgeordneter der belgischen Grünen, Benoit Hellings, hat im Jahr 2016 eine Resolution ins belgische Parlament eingebracht, um die historischen Tatsachen richtigzustellen, um die Verantwortlichkeit der verschiedenen belgischen Institutionen bei der Kolonialisierung des Kongo, von Ruanda und Burundi zwischen 1885 und 1962 anzuerkennen. Die Debatte ist noch nicht ganz abgeschlossen.

Aber in Wahrheit hängen alle unsere Schwierigkeiten als Afrikaner mit unserer Empfindlichkeit gegenüber den Diskursen der Anderen zusammen, gegenüber vielen fiktiven Wörtern, die von außen kommen und nicht wirklich hinterfragt werden. Wir haben Afrika selbst nicht ausreichend hinterfragt. Wir haben auch unsere Traditionen nicht genügend hinterfragt. Ein Beispiel: Auf dem afrikanischen Kontinent gab es die Idee der „Gerechtigkeit“ schon seit Jahrtausenden. Sie ist bereits in der Idee der altägyptischen Maat enthalten. Maat, die ägyptische Göttin der Ordnung und des Gleichgewichts, bringt die Gerechtigkeit, die Solidarität und das Vergeben hervor. Hier entsteht bereits eine Dimension von Frieden und menschlichem Respekt, verbunden mit dem Respekt vor dem Leben in all seinen Formen.

In deinem Text „Der Aufstand“ aus der Anthologie „Moyo! Der Morgen bricht an“ thematisierst du eben diese Manipulationen und Einflussnahmen des Auslandes, die dem Kongo nichts als Ausbeutung, Sklaverei, Diktaturen und Kriege, kurzum Chaos und unbeschreibliches Leid gebracht haben. Haben die europäischen Staaten heute aufrichtig und hinreichend die Verantwortung für all ihre Verbrechen in Afrika übernommen?

Nein, aber die Geschichte lehrt uns, dass Länder – ich meine die Eliten der Völker – ihre Unmenschlichkeit, ihre Barbarei so gut wie nie eingestehen. Da bilden weder die amerikanischen noch die europäischen Eliten eine Ausnahme! Übrigens hat „Deutschland“ nach hundert Jahren noch immer die gleichen Schwierigkeiten, den Genozid in Namibia anzuerkennen, den Historiker für den ersten des barbarischen zwanzigsten Jahrhunderts halten! So etwas stört das nationale Selbstbild, den Mythos der „Zivilisation“. Das Gleiche gilt für Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten. Nicht nur die Türkei hat dieses Problem! Man kann der Liste noch Russland mit den Tscherkessen hinzufügen. Die Japaner in Hinblick auf ihre schrecklichen Kriegsverbrechen in Asien. Die Geschichte ist ein riesiges Schlachtfeld, auf dem jeder seine Waffen einsetzt, nämlich die Manipulationen, die Legenden und Mythen. Schon in den 1960er Jahren fällte der amerikanische Schriftsteller James Baldwin ein sehr hartes Urteil über die moralische und intellektuelle Faulheit der Elite seines Landes. „Rund um die von uns begangenen Verbrechen haben wir Legenden erfunden.“ Dieses Urteil trifft auf die ganze Menschheitsgeschichte zu.

Zumindest habe ich auf dieser langen, mühseligen Reise durch Länder und Kontinente von sogenannten menschlichen Wesen ein paar wichtige Lektionen gelernt. Neben anderen Lektionen auch die Folgende: Die Dummheit ist eines der Attribute, die allen Frauen, allen Männern, allen Kulturen, allen Nationen und allen Ländern gemeinsam ist. Sie ist wirklich eine der Eigenheiten, die unter den sogenannten „menschlichen“ Wesen „am besten geteilt“ wird. Sie ist unserer Spezies innewohnend, angeboren.

Und wenn man einen Blick in die Vergangenheit, auf die Geschichte dieser berühmten Spezies wirft, auf ihre Brutalitäten, ihre Barbarei, ihre Grausamkeiten, ihre Kriege, ihre unzähligen Verbrechen, befällt einen ein enormes Unbehagen angesichts dieses so prätentiösen und so klangvollen Wortes „Zivilisation“! Was soll dieses Wort besagen? Zu welcher Zeit hat diese Spezies die Zivilisation, die Menschlichkeit erreicht? Nach dem Ersten oder nach dem Zweiten Weltkrieg? Nach Hiroshima und Nagasaki? Sind die Perfektion der Waffen, die wir anhäufen, und die Zerstörung der Erde wesentliche Bestandteile der Zivilisation? Sind die Menschen nicht grausamer als die Tiere, die sie verachten?

Wir haben, was die Grausamkeit anbelangt, schon viel hinter uns, wir haben insofern ein paar Fortschritte gemacht, als immer mehr Gruppen aus Frauen und Männern gegen die Demütigungen und Gewalttätigkeiten demonstrieren, denen andere Menschen überall auf dem Planeten ausgesetzt sind. Dieses weltweite Erwachen des menschlichen Gewissens in Hinblick auf den Respekt vor der Würde des Menschen und der Natur ist sehr wichtig! Wir müssen die Anderen aufrütteln, es uns gleichzutun! Doch von diesem Punkt bis zum Glauben, dass wir die Grausamkeit der Bestie besiegt haben … das ist eine andere Geschichte! Der Weg, der vor uns liegt, ist noch sehr, sehr weit! Außerdem muss man, wie es im Augenblick der Fall zu sein scheint, Rückschläge befürchten. Diejenigen, die uns regieren, sind es seit Jahrtausenden gewöhnt, straffrei davonzukommen. Die Straffreiheit ist ein integraler Bestandteil ihrer Kultur.

Das Exil in Paris hat dir 1985 die Bekanntschaft mir deiner Frau, Maria Kohlert-Németh ermöglicht. Paris, die Stadt der Liebe, würdest du dem also zustimmen?

Ja, du hast recht. Ich habe nicht nur das Glück, eine Frau zu haben, sondern auch ein Kind und Enkelkinder. Das ist das Unvorhersehbare, Unerwartete beim Reisen. So etwas kann nur das Leben mit sich bringen. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Doch von dieser Begegnung in den 1980er Jahren in Paris bei dieser internationalen Konferenz zur Interkulturalität – ein Begriff, der erst später Verbreitung finden sollte – ist mir nur eine Frau geblieben, meine Frau, mit der ich hier Wurzeln geschlagen habe.

Andererseits muss ich auch hinzufügen, dass diese Reise ins Exil, die eigentlich eine Unmöglichkeit war, noch andere Überraschungen für mich bereithielt, herrliche Begegnungen, zum Beispiel mit Leuten wie dir! Das erleichtert das Herumirren…

Um auf Paris zurückzukommen, die Stadt der Liebe! Ganz ehrlich, davon weiß ich nichts. Ich weiß nicht, was sich hinter diesem Ausspruch verbirgt! Es handelt sich um eine Art positives Klischee! Vielleicht ist es Teil jener Mythen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit… Es hält Frankreich und seine Elite leider nicht davon ab, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Gleichheit, gegen die Liebe zu begehen… auf seinem eigenen Territorium und anderswo. Meine liebe Freundin, die Dinge sind sehr kompliziert, wie ich bereits gesagt habe. In Wahrheit begegnet man dieser verzaubernden Magie, die man Liebe nennt, überall...

Was wäre die eine Sache, die Du nicht mitnehmen würdest, wenn Du auf eine einsame Insel gehen müsstest?

Dieser Gedanke ist mir nie in den Sinn gekommen. Nein. Ich hoffe, dass mir das nie passiert. Ich war mehrere Mal im Gefängnis und im Exil, das ebenfalls eine Form der Verbannung auf eine einsame Insel ist. Doch wenn jemand auf diese dumme Idee kommen sollte – in dieser kranken und perversen Welt weiß man ja nie –, dann würde ich mich zunächst nach Kräften dagegen wehren. Weil ich, diese schreckliche Spezies, die sich eitel als „menschlich“ bezeichnet, trotz allem liebe. Der Andere, das ist der unverzichtbare Teil von mir selbst, ohne den ich nicht glücklich leben kann. Du bist der Andere, die Welt um mich herum, auch diese spürbar lebendige Stadt Frankfurt, in der ich seit einigen Jahren lebe. Ich liebe das Gemurmel der Frauen und Männer. Es vermischt sich mit den lauten Geräuschen aller Lebewesen um uns herum. Das alles ist für mich Heimat, das Gefühl, das ich überall mit mir herumtrage und das mit der Zeit stärker wurde, durch die Begegnungen und Erfahrungen. Ich bin ein Umherziehender unter den auf dieser Erde Umherziehenden… Ich habe so viele Grenzen überquert,- inklusive des Geistes, ohne Visum - habe so viele Risse und Sprünge davongetragen, um am Ende ein „klandestin“ des Geistes zu werden: Schließlich ist die Poesie definitiv eine Rebellion durch Zärtlichkeit, sie ist Ketzerei durch Liebe.

Heimat ist, wie ich gelernt habe, ein Ort, an dem sich viele Wesen und Vermächtnisse begegnen, ein Ort, nach dem alle Menschen grundsätzlich suchen. Ich bemühe mich, aus allen meinen Erfahrungen, den guten wie den schlechten, Hoffnung zu schöpfen und Nutzen zu ziehen, um der Zukunft entgegenzugehen. Wir haben nur die eine Erde, wir müssen lediglich kämpfen und jeden Tag versuchen, sie menschlicher zu machen...

Vielen Dank für das Interview!

Dieses Interview führten Safiye Can und Hakan Akçit im Dezember 2017.

Leseproben und eine französische Version des Interviews folgen im Januar 2018.