von Christopher Hein
Die gegenwärtige Situation in Nordafrika und die Fluchtbewegungen, die daraus resultieren, bringen das Thema des Zugangs zum Gebiet der Europäischen Union für Menschen, die internationalen Rechtsschutz bedürfen, erneut und in dramatischer Form auf die Tagesordnung. Seit dem Beginn der „Jasmin-Revolution“ in Tunesien im Dezember 2010, gefolgt von der radikalen Umwälzung in Ägypten und dem Aufstand in Libyen, haben mindestens 800 Menschen ihr Leben im Meer, auf der Überfahrt nach Europa, verloren. Darunter befinden sich Hunderte von Flüchtlingen aus Eritrea, Somalia und anderen Ländern des subsaharischen Afrika, die seit Jahren – auf ihrem Weg nach Europa – in Libyen bleiben mussten, weil seit 2009 die Überfahrt von dort unmöglich gemacht wurde. In Libyen hatten sie keinerlei Rechtsschutz; viele von ihnen wurden in unmenschlichen Abschiebezentren unbefristet festgehalten, bis sich endlich ab März 2011 auf Grund des Bürgerkriegs die Möglichkeit eröffnete, sich auf seeuntüchtigen Booten auf die lebensgefährliche Reise zu begeben.
Der Italienische Flüchtlingsrat, der in Libyen an einem Projekt des UNHCR zur Hilfe für Flüchtlinge und Migranten teilnahm, hatte schon Ende Februar an die Regierungen der EU, zuvorderst die italienische Regierung, sowie die Europäische Kommission und den Rat appelliert, sofort eine humanitäre Evakuation dieser Flüchtlinge aus Libyen einzuleiten. Die italienische Regierung hat in zwei Operationen in März insgesamt 115 überwiegend eritreische Flüchtlinge aus Tripolis nach Kalabrien mit Militärflugzeugen ausgeflogen; die Kommission hat sich in einem Gespräch Anfang März verständnisvoll gezeigt; kein anderer Mitgliedsstaat hat auf den Appell reagiert.
Die Eröffnung eines humanitären Korridors wurde auch vom UNHCR gefordert. In der Zwischenzeit hatten es einige Hundert Flüchtlinge aus dem Horn von Afrika geschafft, unter ständiger Bedrohung und Ausplünderung von Libyen an die Grenze sowohl zu Tunesien als auch zu Ägypten zu gelangen. Dies in der Hoffnung, sich von dort Richtung Europa einschiffen zu können, da sie auch in diesen Ländern auf Asyl nicht hoffen konnten. Bis jetzt haben etwa 2.000 eritreische und somalische Flüchtlinge, darunter viele Frauen und kleine Kinder, Sizilien und Malta erreicht und Asylanträge gestellt. Wenn man von einer statistischen „Überlebensquote“ sprechen will – und ich meine, man muss es tun – so liegt die etwa bei 80 Prozent, während 20 Prozent der Menschen ertrinken.
Die Frage des Zugangs zum Rechtsschutz wird sich in erheblichem Umfang auch dann stellen, wenn, wie zu erwarten, eine größere Zahl von Libyerinnen zur Flucht gezwungen sein werden. Welches Land wird für sie „sicher“ sein, und wie werden sie dorthin kommen?
Noch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts kamen etwa 90 Prozent aller Asylbewerber legal nach Westeuropa, in die angestrebten Asylländer. Heute sind über 90 Prozent aller Asylbewerber zu irregulären Einreisewegen gezwungen, über das Meer, über Flüsse wie den Evros, der die Grenze zwischen Türkei und Griechenland markiert, auf dem Landwege, mit gefälschten Papieren per Flug, und in jedem Fall mit der Hilfe von heftig bezahlten Schleppern. Was ist in diesen 20 Jahren passiert, warum hat sich die Proportion umgekehrt? Das immer ausgefeilter „Schengen-System“, die Einführung der unionseinheitlichen Visumsplicht für alle Länder, aus denen Flüchtlinge kommen oder kommen könnten, die Abschottung der Außengrenzen Europas, die Vorverlagerung der Kontrollen in Drittländer, die Abkommen mit diesen Staaten, seien es Herkunfts- oder Transitländer für Flüchtlinge, die ausgefeilten intelligence-Leistungen der europäischen Grenzagentur FRONTEX mit ihren Frühwarn- und Koordinierungstätigkeiten – all diese Maßnahmen, die unter dem Programm „Bekämpfung der illegalen Einwanderung, der organisierten Kriminalität, des Schlepperwesens und des Terrorismus“ zusammengefasst sind und ungeheure finanzielle Aufwendungen erfordern, haben dazu geführt, dass für Flüchtlinge der Zugang zum Rechtsschutz, zum Asylverfahren, äußerst erschwert und in vielen Fällen unmöglich gemacht worden ist.
Das Asylwesen
Die gesamte Tradition des Asylwesens basiert auf der Erfordernis, dass ein Asylbewerber auf dem Gebiet des angestrebten Asyllandes physisch anwesend sein muss. Nur dort kann ein Antrag gestellt werden, nur dort kann ein vorläufiger Rechtsschutz für die Dauer des Asylverfahrens erlangt werden. Schon in der Antike bezeichnete „asylòn“ immer einen sicheren Ort, zu dem der Mensch auf der Flucht in irgendeiner Weise gelangen musste, um Schutz vor Verfolgung genießen zu können. Auch das mittelalterliche, in vielen Ländern bis in die Neuzeit fortgeführte Kirchenasyl setzte das Erreichen des heiligen Platzes voraus.
Das subjektive Recht auf Asyl, wie es von vielen Verfassungen proklamiert wird, kann nach vorherrschender Meinung erst dann geltend gemacht werden, wenn der Flüchtling auf Grund seiner Anwesenheit unter die Jurisdiktion des entsprechenden Staates gelangt. Hingegen ist in der lateinamerikanischen Tradition des diplomatischen Asyls, also der Schutz in der im Verfolgungsland angesiedelten Botschaft des angestrebtend Asyllandes, ein Schritt zu einem anderen Asylkonzept gemacht worden.
Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) spricht nicht von Asyl, sondern von der Flüchtlingseigenschaft, die im Prinzip auch festgestellt werden kann, ohne dass daraus ein Aufenthaltsrecht abgeleitet ist. Die Staaten sind nur dazu gehalten, das Prinzip des Non-Refoulement, des Verbots der Ausweisung oder Rückschiebung in unsichere Länder zu respektieren und unter bestimmten Voraussetzungen illegale Einreise nicht zu bestrafen. Nach der GFK ist es daher auch möglich, dass ein Staat die Flüchtlingseigenschaft einer Person, die nicht im Staatsgebiet anwesend ist, anerkennt. Und das UNHCR, dass natürlich nicht Asyl gewähren kann, da es über kein Gebiet verfügt, ist in allen Ländern mit Ausnahme des Herkunftslandes ermächtigt, die Flüchtlingseigenschaft unter seinem Mandat anzuerkennen und damit ein Minimum an Rechtsschutz zu garantieren.
Resettlement
Einen anderen Schritt des Zugangs zum Rechtsschutz hat die UNO-Generalversammlung schon 1950 vorgesehen, in dem sie in dem Statut des UNHCR die Möglichkeit des resettlements, der Ũberführung von Flüchtlingen in sichere Drittländer, die sich hierzu bereit erklären, vorsieht. Außerdem gehört es zu den Aufgaben des UNHCR, laut Statut, die Aufnahme von Flüchtlingen in anderen Staatsgebieten zu befördern. Das schließt auch ein, von den betroffenen Staaten den physischen Zugang unter sicheren Bedingungen zu solchen Gebieten in sicherer Weise zu fordern.
Die Frage, wie die Verschärfung der europäischen Grenzkontrollen und die Bekämpfung illegaler Zuwanderung mit dem Zugang zum Rechtsschutz für Flüchtlinge zu vereinbaren ist, wird schon 1999 in den Entschlüssen des Europäischen Rats in Tampere angesprochen. Darin wird die Union aufgefordert, gemeinsame Politiken für die Menschen zu entwickeln, die gerechtfertigter Weise Zugang zum Unionsgebiet benötigen. Auf dieser Grundlage hat sich Europäische Kommission in einer Reihe von Mitteilungen an den Rat und das Europaparlament gewandt, in denen verschiedene Wege des organisierten, normalen und legalen Zugangs zum Gebiet und zum Rechtsschutz in Europa für diejenigen, die solchen Schutzes bedürfen, vorgeschlagen werden.
Im Wesentlichen bestehen diese Wege zum einen in der Verabschiedung eines europäischen Resettlement-Programms, zum andern in Überlegungen über die Einführung von Protected Entry Procedures (PEP), Verfahren zur geschützten Einreise. Während resettlement als Gemeinschaftsaufgabe – wenn auch auf freiwilliger Ebene, d.h. die Mitgliedsstaaten sollen nicht verpflichtet werden, Plätze für die Überführung von Flüchtlingen aus Drittländern zur Verfügung zu stellen – auch in das Stockholmer Programm vom Dezember 2009 über die gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik für die nächsten 5 Jahre aufgenommen ist, hat es bislang keine Einigung zwischen den Staaten über geschützte Einreiseverfahren gegeben, obwohl die Kommission schon im Jahr 2002 eine Machbarkeitsstudie hierzu in Auftrag gegeben hatte und 2003 eine internationale Konferenz unter der italienischen Ratspräsidentschaft mitorganisierte.
Das Stockholmer Programm beschränkt sich auf die Aussage, dass die notwendigen Einreisekontrollen an den Außengrenzen nicht dazu führen dürfen, dass Personen, die internationalen Rechtsschutz benötigen, keinen Zugang finden. Aber wie das geschehen soll, bleibt eine offene Frage. Wo und in welcher Weise soll zum Beispiel die Unterscheidung zwischen ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlingen getroffen werden, wenn sie zusammen auf demselben Boot das Mittelmeer überqueren? Wie kann sichergestellt werden, dass in von FRONTEX koordinierten Rückschiebeoperationen das Refoulement-Verbot nicht verletzt wird und Menschen möglicherweise in Gebiete abgeschoben werden, wo ihnen Verfolgung und Folter droht? Aber vor allem, welche Alternative kann Flüchtlingen angeboten werden, um gar nicht erst ihr Leben auf solchen Booten aufs Spiel zu setzen?
Überlegungen zu geschützten Einreiseverfahren gehen davon aus, dass es möglich sein sollte, einen Asylantrag an eines der EU-Mitgliedsstaaten zu stellen, bevor die Person physisch auf dem EU Gebiet anwesend ist. Nehmen wir den Fall eines Flüchtlings aus Eritrea, der sich in Ägypten befindet, wo er – bis jetzt – kein Asyl finden kann und Gefahr läuft, in sein Land zurückgeschoben zu werden. Gegenwärtig bleibt ihm keine Wahl als entweder über Schlepper das Meer zu überqueren oder zu versuchen, auf dem Landweg über Israel, Syrien und die Türkei nach Griechenland zu reisen, und dabei konkrete Gefahr zu laufen, in der Sinai- Wüste entführt und verschleppt zu werden, zur Auspressung von Lösegeldzahlungen seitens seiner Familie. Eigentlich will er nach Italien, wo, sagen wir einmal, sein Bruder ansässig ist und ihm über die ersten Schwierigkeiten hinweghelfen könnte. Er wendet sich an die italienische Botschaft in Kairo, bittet um ein Visum. Die Antwort ist negativ: diesen Fall sehen die Schengener Visabestimmungen nicht vor. Wäre es nicht logisch, die Möglichkleit einzuräumen, in der Botschaft einen Antrag auf Rechtsschutz zu stellen, und, wenn die Bedingungen erfüllt sind, eine Einreiseerlaubnis nach Italien zu erhalten, wo er dann sicher und für ein Zehntel der Kosten, die an die Schlepper zu zahlen wären, per Flug ankommen kann?
Eine Reihe von Mitgliedsstaaten der EU haben oder hatten im einheimischen Recht die Möglichkeit der Asylantragstellung in ihren diplomatischen Vertretungen in Drittländern vorgesehen und damit Erfahrung gemacht : Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Österreich und Spanien; in einigen Ländern ist dieses Verfahren aber wieder abgeschafft (Dänemark, Niederlande) oder eingeengt worden (Spanien). Die weitreichendsten Regelungen sind bislang in einem Nicht-Mitgliedsstaat, der Schweiz, vorgesehen, wo gegenwärtig eine Debatte um die Abschaffung des Botschaftsverfahrens geführt wird.
Auch wenn in keinem der zitierten Länder die Zahl der auf diesem Wege eingereisten Asylbewerber oder Flüchtlinge auch nur annähernd die Zahl der anderweitig Eingereisten erreicht hat, wird die Abschaffung dieser Form von geschützten Einreiseverfahren vor allem damit begründet, dass die Gefahr groesserer „Anstürme“ auf die Botschaften solange besteht, wie nur einige wenige Länder solche Regelungen kennen und es keine europaweite Lösung gibt. Außerdem unterscheiden sich die einzelnen nationalen Modelle erheblich voneinander.
In der Tat werden unter dem Begriff Geschützte Einreiseverfahren, besser bekannt unter dem englischen Namen Protected Entry Procedures (PEP), verschiedene Formen des Zugangs zum Rechtsschutz zusammengefasst, und man könnte sich auch einen graduellen Prozess vorstellen, der der politische Sensibilität gegenüber diesen Fragen Rechnung trägt. Von einer flexibleren Handhabung der Visabestimmungen, die es den Konsulaten ermöglicht, einen humanitären Ermessensspielraum bei der Bescheidung eines Visumsantrags zu handhaben bis hin zu einem verbindlichem einheitlichen Botschaftsasylverfahren – bei dem in jedem Fall die Entscheidung von der normalen innerstaatlichen Asylbehörde getroffen würde und die diplomatischen Vertretung, oder eines Tages auch eine Auslandsvertretung der Europäischen Kommission, auf die Rolle beschränkt wären, ein Asyl- und Visumsgesuch entgegenzunehmen, weiterzuleiten und eine Erstanhörung vorzunehmen – gibt es eine gestaffelte Palette von Möglichkeiten.
Ein wie immer geartetes PEP darf jedenfalls nur eine zusätzliche, wenn auch äußerst wichtige Option zu den bisherigen, auf dem EU Gebiet eingeleiteten Verfahren sein. Es muss sichergestellt werden – wie es auch die Europäische Kommission wiederholt unterstrichen hat – dass in keinem Fall das Bestehen von PEP-Regelungen ein Vorwand ist, um spontan und irregulär eingereisten Bewerbern den Zugang zum Asylverfahren zu verweigern oder sie gar zurückzuschieben mit der Aufforderung, den Antrag in einem Drittland an eine Botschaft zu stellen.
Geschützte Einreiseverfahren in der Diskussion
In der Debatte um geschützte Einreiseverfahren werden – häufig in gegenläufiger Weise – von Regierungs- wie von Flüchtlingsverbänden und AnwältInnenvereinigungen eine Reihe von Bedenken geäußert. Von Regierung und PolitikerInnen wird befürchtet, dass eine unkontrollierbare und vermutlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen von solchen Verfahren Gebrauch machen und die diplomatischen Vertretungen als auch die Aufnahmekapazitaeten überlasten würden. Das führt natürlich zu der Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine Einreisegenehmigung zu bekommen.
Erstens muss der/die AntragstellerIn nachweisen können, dass er oder sie internationalen Rechtsschutzes bedarf, auch wenn dies in eiligen Fällen nur in Form einer prima facie Prüfung, einem Vorverfahren geprüft würde. Zweitens muss ersichtlich sein, dass die Person in dem Drittland, in dem der Antrag gestellt wird, aus objektiven Gründen keinen effektiven Rechtsschutz erhalten kann. Und schließlich sollte der Nachweis erbracht werden, dass Bindungen an ein bestimmtes Mitgliedsland der EU bestehen, etwa in Form der Ansässigkeit von Familienangehörigen – auch solchen, die nicht zu einem Familiennachzug berechtigen würden -, früherer legaler Aufenthalte, sprachlicher oder kultureller Bindungen. So jedenfalls sieht es Gregor Noll vom Dänischen Menschenrechtsinstitut, der 2002 von der Europäischen Kommission mit einer Machbarkeitsstudie betraut wurde. Diese Anforderungen würden den Kreis der Berechtigten erheblich einschränken, aber ihnen gleichzeitig eine konkrete Alternative zur irregulären Einreise bieten.
Auf der anderen Seite wird das Bedenken vorgebracht, dass in einem solchen im Drittland eingeleiteten Rechtsschutzverfahren nicht dieselben Rechtsgarantien gewährt sind wie in einem inländischen Verfahren. Insbesondere würde nach dieser Meinung die Europäische Menschenrechtskonvention keine Anwendung finden und die in der EU Richtlinie über Asylverfahren aufgestellten Mindestvoraussetzungen für eine gerechte und gründliche Prüfung des Asylgesuchs nicht vollständig eingehalten werden können. Außerdem befände sich der Antragsteller während der Dauer des Verfahrens im Drittland ohne ausreichenden Schutz.
Diesen Bedenken sollten zukünftige Regelungen soweit als mögliche Rechnung tragen. Es wird allerdings in der Debatte häufig übersehen, dass geschützte Einreiseverfahren in erster Linie eine positive Antwort auf die gegenwärtige unhaltbare und häufig unmenschliche Situation der Unmöglichkeit eines sicheren Zugangs zu Rechtsschutz und zum EU Gebiet geben wollen. Nach unserer Überzeugung ist jeder Schritt zum Bau von Brücken in die Festung Europa ein Schritt in die richtige Richtung. Über die Ausgestaltung der Verfahren im Einzelnen wird zu diskutieren sein. Das Wichtige ist, dass die Frage des Zugangs zum Rechtsschutz nicht weiter in die Zukunft geschoben oder mit Leerformeln beantwortet wird, und Europa in der Zwischenzeit schweigend zuschaut, wie weitere Tausende von Flüchtlingen auf dem Fluchtweg umkommen.
Dr. Christopher Hein ist Geschäftsführer des Italienischen Flüchtlingsrates.