von Hannes Loh
In einem psychologischen Experiment der 1970er Jahre wurde LehrerInnen mitgeteilt, dass in ihren Klasse sehr viele hochbegabte SchülerInnen seien, die dann auch namentlich benannt wurden. Die LehrerInnen gingen mit diesen SchülerInnen ganz anders um. Sie gaben ihnen auch deutlich bessere Noten, was die SchülerInnen wiederum motivierte und am Ende auch zu deutlich besseren Leistungen führte. Tatsächlich waren die besagten SchülerInnen ganz normal begabt. Aber die Erwartungshaltung der LehrerInnen und die durchweg positive Rückmeldung sorgten dafür, dass die SchülerInnen deutlich besser abschnitten als ähnlich begabte MitschülerInnen, die nicht in den Genuss dieser Sonderbehandlung kamen. Dieses Experiment zeigt, dass die Grundhaltung, mit der LehrerInnen ihren SchülerInnen gegenübertreten mit entscheidend ist für Erfolg und Misserfolg.
Problem: individuelle Bewertung und Feedback
Hätten wir das nur damals berücksichtigt, mein Englischlehrer und ich. Der hat mich nämlich, so kam es mir zumindest vor, systematisch deprimiert und mir das Gefühl gegeben, dass ich nichts kann. Entsprechend schlecht waren meine Noten.
Heute bin ich selbst Lehrer und musste erkennen, dass auch wir LehrerInnen unter Notendruck stehen. Das mag sich seltsam anhören, aber es ist ziemlich klar, wie ein Notendurchschnitt einer Klasse auszusehen hat: 5er sollten dabei sein, und nicht allzu viele 1er, sonst könnten die Kollegen ja misstrauisch werden. Das bedeutet aber, dass wir die SchülerInnen nie individuell betrachten können, sondern immer im Vergleich zu den anderen SchülerInnen einer Klasse. Und der Klassendurchschnitt wiederum muss den gängigen Erwartungen entsprechen.
Richtig Englisch habe ich dann nicht in der Schule gelernt, sondern zuhause und zwar durch amerikanische Rap-Texte. Ich wollte verstehen, was mir die amerikanischen Rapper zu erzählen haben, ich wollte sie wirklich verstehen bis ins Letzte, wollte eintauchen in ihre Welt. Später begann ich dann, wie alle Rapper zu dieser Zeit auch, auf Englisch zu rappen, und bekam dafür viel Zustimmung. Wie kommt es, dass ich mich im HipHop-Kontext plötzlich für die englische Sprache begeistern konnte, mich vertiefte in ihre Geheimnisse, was für mich im Schulunterricht immer eine Qual gewesen war?
HipHop versus Schule
Zunächst einmal bestehen einige grundlegende Unterschiede zwischen den Systemen HipHop und Schule, die einen direkten Vergleich schwierig machen. Schule bedeutet Zwang: eine willkürlich zusammen gewürfelte Lerngruppe wird einer Zeitstruktur und einem Fächerkanon unterworfen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen. Und schulische Leistungen werden benotet, von 1 bis 6, ein Bewertungsprinzip, das nachweislich demotiviert, jedenfalls setzt es nicht am für das Lernen so wichtigen Belohnungssystem unseres Gehirns an.
Für die HipHop-Kultur dagegen entscheiden sich die Jugendlichen freiwillig und wählen sich innerhalb dieser eine bestimmt Disziplin aus. Und genau hier nehmen sie dann ihre Tiefenbohrung vor, fühlen sich ein in die Materie und machen sich bereit für den öffentlichen Wettkampf auf der Bühne um Styles und Fame. Entscheidend dabei ist, so heftig und kompromisslos die Battle auch geführt werden mag, am Ende gibt es vielleicht eineN GewinnerIn für diesen einen Abend, auf jeden Fall aber gibt es keine VerliererInnen. Alle bekommen ihren Applaus und Respekt. Und keiner wird ausgesiebt, wie bei den diversen Casting-Shows im Fernsehen.
Die Jugendlichen, GewinnerInnen wie VerliererInnen, erleben sich in dieser Situation als erfolgreich und kompetent. Diese Erfahrung und die berechtigte Aussicht, beim nächsten Mal wieder erfolgreich zu sein, stärken die Motivation, sich weiter zu verbessern und bei der Sache zu bleiben. Da wird jetzt nicht aus jedem ein deutscheR MeisterIn werden, aber darum geht es auch gar nicht. Viel wichtiger ist: jeder wird seinen individuellen Voraussetzungen entsprechen das Bestmögliche aus sich herausholen. Und es ist auch bei wenig Talent ziemlich viel, was einer durch Fleiß, Ausdauer und mit Spaß an der Sache erreichen kann.
Und dann spielt plötzlich auch die Herkunft, das ganze bisherige Leben keine Rolle mehr, weil es nur noch um die Sache geht. Das ist der Mythos der HipHop-Kultur, der bis heute fortlebt. In den USA mit einer interessanten Nebennote: dort kann einer auf Rap-Battles auch durch Bildung und Wissen glänzen, wenn er von Dingen zu berichten weiß, die andere nicht wissen. Die großen Vorbilder der Szene werden in den USA denn auch Teacher, LehrerInnen genannt, ein Prädikat, das Rapper wie KRS ONE oder Chuck D gerne angenommen haben.
Im HipHop herrscht also eine positive Wettkampfsituation, die im Idealfall alle Beteiligten weiter bringt. Dagegen ist der Konkurrenzkampf an den Schulen für die Beteiligten oft lähmend. Durch Schulnoten zu Höchstleistungen animiert werden allenfalls SchülerInnen, die ihre Kraft daraus ziehen, es anderen zu zeigen, die mit ihren Noten angeben wollen. Viel schlimmer ist aber, dass das Konzept 'Noten für Klassenarbeiten' eine Art bulimisches Lernen fördert: der Stoff wird in großen Mengen in sich hineingefressen, zur Klassenarbeit wieder ausgekotzt, und damit ist das Wissen auch schon wieder weg.
Fazit
Es geht mir nicht darum, HipHop als die Rettung der Welt zu stilisieren. Wichtig war mir zu zeigen, dass es verschiedene Formen von Wettkampf gibt, einen lähmenden Konkurrenzkampf, aber auch ein positives, inspirierendes Wettkampf-Prinzip, an dem alle teilhaben, und von dem alle profitieren können. Und das funktioniert in vielen Bereichen, beispielsweise das an unserer Schule sehr erfolgreiche Projekt: 'Grips – ich will es wissen'. Bei Grips bieten SchülerInnen nachmittags Kurse zu den unterschiedlichsten Themen an (und werden dafür zum Teil auch bezahlt). Und hier zeigen die SchülerInnen dann, was wir im Schulalltag oft vermissen: Leistungsbereitschaft, Wille und Zielstrebigkeit. SchülerInnen wollen lernen, sie wollen sich weiter entwickeln, alle. Damit sie aber diesen Wunsch auch umsetzen können, müssen die Rahmenbedingungen stimmen, es braucht ein Klima, das einlädt, sich zu verbessern, ein System, das den individuellen Fortschritt der SchülerInnen in den Mittelpunkt rückt.
Dezember 2008
Hannes Loh arbeitet als Lehrer für Deutsch und Geschichte. Von 1986 bis 1998 war er als Rapper und Musiker mit seiner Band Anarchist Academy in der HipHop Szene aktiv. Er hat zahlreiche Büche zum Thema HipHop veröffentlicht u.a. "Fear of a Kanak Planet".