Ältere MigrantInnen - Soziale Lage und Gesundheit

von Feyza Palecek

In Deutschland leben 486.039 MigrantInnen über 65 Jahre. Davon sind 211.856 Frauen (Statistisches Bundesamt Dez. 2006). AussiedlerInnen und Deutsche mit Migrationshintergrund sind dabei nicht mitgerechnet.

Den Migranten/die Migrantin gibt es nicht. Zu berücksichtigen sind: Herkunftsland, Städtische oder ländliche Herkunft, religiöser Hintergrund, gesellschaftliche Funktion, Bildung/Ausbildung, Hintergründe der Migration, Zeitpunkt der Migration, Status in Deutschland, Sprachkenntnisse und Kontakte nach Außen.

Migration bedeutet Entwurzelung, massiven Kulturbruch und Identitätsverlust. Migration ist ein subtiler, langsamer, generationenübergreifender Prozess (oft über fünf Generationen).  Das Spektrum und die Gewichtung der Belastungen ändern sich im Laufe der Generationen  durch Trennungserfahrungen, Sprachprobleme, Motivation, Zukunftssorgen in der Migration und  Orientierungslosigkeit.

Belastungsfaktoren im Alter

Folgende Faktoren spielen im Leben von MigrantInnen eine Rolle und gelten im Alter als Vorbelastung:

Emotionale Belastungen aus der Migrationserfahrung

Die besonderen emotionalen Belastungen aus der Migrationserfahrung wirken sich auf die psychische und physische Befindlichkeit von MigrantInnen aus. Migration in der westlichen Industrienation heißt Trennung vom Heimatland und vom sozialen Beziehungsnetz. Gewohnte, vertraute Orientierungen werden zugunsten einer ungewissen Zukunft im fremden Land aufgegeben und bewirken Erfahrungen von Trauer und Schmerz, die als „sozialer Tod“ bezeichnet werden können.

Lebens- und Arbeitsbedingungen

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren und sind geprägt von erhöhter Gesundheitsgefährdung durch schlechte Arbeitsbedingungen, drohende Arbeitslosigkeit und die oft unzureichende oder schlechte Wohnqualität. Die meisten MigrantInnen der 1. Generation sind als ungelernte Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen und haben entweder in der Produktion am Fließband und im Akkord gearbeitet oder im sonstigen Leichtlohnsektor (Straßenreinigung, Putzkräfte etc.). Gerade in diesem Bereich sind in den letzten Jahren viele Arbeitsplätze durch Rationalisierungen, Produktionsverlagerungen usw. weggefallen. Dadurch hat sich der Druck auf die verbleibenden Arbeitskräfte enorm erhöht. Da der Verdienst dieser MigrantInnen oft im unteren Lohnbereich lag, war auch ihre Wohnraumsituation schlecht.

Innerfamiliäre Generationskonflikte

Innerhalb der Familien gibt es häufig Generationskonflikte mit der 2. und 3. Generation, die hier aufgewachsen sind. Die Jüngeren sind in beiden Kulturen verwurzelt. Es wurden und  werden Denkweisen der Mehrheitsgesellschaft übernommen, die der ersten Generation fremd sind und ihnen das Gefühl der Entfremdung gegenüber den eigenen Kindern geben.

Ungenügende Sprachkenntnisse

Durch ungenügende Sprachkenntnisse und den daraus resultierenden Verständigungsproblemen kann es zu einer Isolation im Alter kommen. Wenn der tägliche Kontakt mit den ArbeitskollegInnen im Ruhestand wegfällt und nicht vorher Kontakte zu Gleichgesinnten aufgebaut wurden, ist die Gefahr der Isolation, ähnlich wie bei deutschen RentnerInnen, sehr groß. Mangelnde Sprachkenntnisse erschweren die Annahme von Information und Beratung über die Dienste der Altenhilfe.

Medizinische Versorgung

Es bestehen nach wie vor Zugangsbarrieren zu medizinischer Versorgung. Sei es wegen mangelnder Sprachkenntnisse, oder sei es wegen nicht genügender Informationen über die Versorgungsstrukturen der Altenhilfe. Für viele MigrantInnen besteht eine große Hemmschwelle, die Angebote der Altenhilfe zu nutzen bzw. ihre Rechte bei Krankheit oder Bedürftigkeit anzumelden.

Bilanzierungskrise

Gerade im Ruhestand wird den MigrantInnen die große Diskrepanz zwischen ihrer Lebensplanung und ihrer Lebenswirklichkeit bewusst. Die Rückkehr ins Herkunftsland hat vielleicht aus finanziellen oder persönlichen Gründen nicht geklappt. Den Kindern konnten nicht so gute Bedingungen geboten werden, wie man es sich gewünscht hätte, und man selber ist u.U. zu krank und zu arm, um sich wenigstens im Alter noch einige Wünsche zu erfüllen.

Eindruck der Ausgrenzung

Behördenwillkür, Gesetzgebung und persönliche Erfahrungen von Rassismus  verstärken das Gefühl, in Deutschland auch nach 40 Jahren nicht willkommen zu sein. Wie sich diese Faktoren auf die Einzelnen auswirken, hängt in großem Maße davon ab, wie der biographische Prozess verarbeitet werden kann, wie die ökonomische Situation ist und ob den Betroffenen wenigstens jetzt Anerkennung und Akzeptanz entgegengebracht werden.

Soziale Lage

Die meisten RentnerInnen mit Migrationshintergrund haben in schlecht bezahlten Berufen gearbeitet, waren hohen gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt und haben oft in schlechten Wohnverhältnissen gelebt. Durch ihre Tätigkeit im Niedriglohnsektor ist ihre ökonomische Situation in der Rente eher schwierig.

Hinzu kommt, dass viele EinwandererInnen kürzere Versicherungsverläufe haben, da sie aufgrund ihres Alters zu Beginn der Migration im Vergleich zu den deutschen ArbeitsnehmerInnen erst spät in die Rentenversicherungen eingezahlt haben oder bei zwischenzeitlicher Rückkehr und Arbeitslosigkeit die Einzahlungen unterbrachen.

Die unterschiedlichen Versicherungsverläufe führen dazu, dass MigrantInnen generell niedrigere Rentenanwartschaften haben als Deutsche. Viele sind davon ausgegangen, dass sie lediglich einige Jahre in Deutschland bleiben und dann wieder zurückkehren. Diese  Vorstellung, im Alter wieder ins Herkunftsland zurückzugehen, hat dazu geführt, dass Gespartes dort investiert wurde. Durch die veränderte Lebenssituation – die Kinder wollen hier bleiben, Verwandte im Herkunftsland gibt es kaum noch oder man hat sich von ihnen entfremdet – hat sich diese Perspektive jedoch oftmals zerschlagen.

Gesundheitliche Lage

Im Verlauf ihres Arbeitslebens kam es bei den meisten MigrantInnen der ersten Generation zu einer Anhäufung gesundheitlicher Belastungsfaktoren (Akkord- und Schichtarbeit, körperlich schwere Arbeit – häufig mit chemischen Toxinen –, starke Lärm- und Hitzebelastung). Aus Unkenntnis, mangelnder Information und mangelnden Alternativen, nahmen sie häufig Arbeiten an, die mit Gesundheitsrisiken verbunden waren. Erholungsphasen gab es kaum, stattdessen wurden über lange Jahre hinweg eine hohe Zahl von Überstunden gemacht. Die Bedingungen der Migration und des Lebens in der Fremde, die biographischen Brüche und kulturellen Ambivalenzen waren selbst häufig eine Quelle von Stress, dessen gesundheitlich belastende Auswirkungen sich im Alter als Krankheit manifestieren.

Diese können zu Frühinvalidität, vermehrten Berufskrankheiten, Arbeitsunfällen und allgemeinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Hinzu kommen psychosomatische Krankheiten, die aus der Migrationserfahrung resultieren.

Zusätzliche Stressfaktoren dabei sind:
• Aufenthaltsstatus
• sozioökonomischer Status
• geschlechts- und altersspezifische Entwicklungen
• soziale Netzwerkstrukturen
• prä-, trans-, postmigratorische Stressoren

Studien und Praxisberichte zeigen, dass Probleme der Über- und Unterversorgung dicht nebeneinander bestehen. Einerseits werden Hausärzte häufiger als von Deutschen aufgesucht, Notfallambulanzen der Krankenhäuser häufiger in Anspruch genommen, erfolgen Einweisungen ins Krankenhaus häufiger, ist die Verweildauer höher und werden mehr Medikamente verordnet. Andererseits sind MigrantInnen in der fachärztlichen Versorgung – insbesondere bei PsychiaterInnen und NeurologInnen – sowie in Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen deutlich unterrepräsentiert.

Immer wieder wird von spezifischen Barrieren berichtet, die den Zugang von MigrantInnen zu medizinischen und pflegerischen Leistungen behindern. Dazu gehören sprachliche, soziale und kulturelle Verständigungsprobleme, unzureichende Informationen und mangelnde Informationsmöglichkeiten über Versicherungsansprüche, über Finanzierungsfragen und über das Versorgungsangebot sowie Leistungshindernisse, die nicht mit den kulturellen und sozialen Wertvorstellungen, Lebensstilen und lebensweltlichen Bedürfnissen der MigrantInnengruppen übereinstimmen.

Strukturelle Probleme im Zusammenhang einer mangelnden Anpassung unserer eher monokulturellen gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen an die kulturelle Vielfalt der zu versorgenden PatientInnen, aber auch interkulturelle Kommunikations- und Interaktionsstörungen auf der individuellen Ebene stehen einer adäquaten und effektiven gesundheitlichen Versorgung im Wege. (Ünal 1999)

Mangelnde interkulturelle Kompetenz und strukturell unzureichende Möglichkeiten, diese Kompetenz, dort wo es sie gibt, auch einzusetzen – insbesondere Zeitmangel –, blockieren nicht nur die Inanspruchnahme. Sie können auch die Wirksamkeit der erbrachten medizinischen und pflegerischen Leistungen wesentlich beeinträchtigen oder gar ins Gegenteil verkehren – am deutlichsten wird dies bei Fehldiagnosen, die nicht nur durch sprachliche Verständigungsprobleme, sondern auch durch Fehlinterpretationen der Befindlichkeit aufgrund unterschiedlicher kultureller Hintergründe des Krankheits- und Heilungsverständnisses zustande kommen. (Zeman-Expertise, 2005)

Versorgung bei Pflegebedürftigkeit

Die meisten Menschen wünschen sich im Alter so in die Familie eingebunden zu sein, dass eine Versorgung im Alter gewährleistet ist. Dies ist bei MigrantInnen aufgrund der kulturellen Bedingungen im Herkunftsland noch stärker ausgeprägt. Aber durch die zunehmende Auflösung der Familienbande auch bei MigrantInnen und ungenügenden Wohnverhältnissen für generationsübergreifendes Wohnen, ist eine solche Versorgung nur schwer durchzuführen. Der Hilfebedarf und die Inanspruchnahme von Hilfen ist einerseits durch objektive Probleme, anderseits durch die subjektive Wahrnehmung der eigenen Hilfsbedürftigkeit und durch die Hilfeerwartung bestimmt.

Hilfestellung von außen anzunehmen, fällt MigrantInnen oft sehr  schwer. Zum einen, weil sie nicht wissen, wo sie solche Hilfe erlangen können und zum anderen, weil sie nicht sicher sein können, dass genügend auf ihre kulturellen, religiösen und ethnischen Bedürfnisse eingegangen wird.

Im Falle der Notwendigkeit stationärer Betreuung haben MigrantInnen noch stärker den Eindruck „abgeschoben“ zu werden und Angst, nicht gut versorgt zu sein. In den stationären Einrichtungen hingegen fehlt es nach wie vor oftmals an muttersprachlichen Kräften und Strukturen, die es MigrantInnen ermöglichen würden, sich wohl zu fühlen. Hinzu kommt, dass momentan in den meisten Altenheimen fast ausschließlich Deutsche leben und somit MigrantInnen hier nicht davon ausgehen können, dass auf ihre Bedürfnisse und eventuellen Sprachschwierigkeiten genügend eingegangen wird.

Schlussfolgerungen

Gleichwohl haben MigrantInnen der ersten Generation eine hohe Integrationsleistung vollbracht, haben hier ihre Kinder aufgezogen, versucht ihnen eine bessere Bildung zu ermöglichen und haben nicht unerheblich den wirtschaftlichen Aufschwung mitgestaltet. Durch sie sind viele MigrantInnenselbstorganisationen entstanden und es wurden breite Netzwerke geschaffen, in denen sich MigrantInnen engagieren.

Trotz der oftmals schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen verfügen MigrantInnen im Alter über viele Ressourcen. Aber ihren Wünschen und Hoffnungen für ein selbstbestimmtes Älterwerden in Deutschland, wird nicht genügend Rechnung getragen. Um die Schlagworte „Aktives Altern“ und Lebenslanges Lernen“ auch für MigrantInnen zugänglich zu machen, müssen die Angebote der Altenhilfe stärker als bisher den Erfordernissen angepasst werden.

Dazu gehören:
• Altenservicezentren mit Angeboten, die auch das Interesse von MigrantInnen abdecken
• Informationen über die Versorgungsstrukturen der Altenhilfe, auch in den jeweiligen Herkunftssprachen
• muttersprachliche Pflegekräfte in ambulanten Diensten und der stationären Altenhilfe, die auch kulturkompetent ausgebildet sind
• Zusammenarbeit mit Selbstorganisationen und Netzwerken der MigrantInnen
• kulturkompetente Ausbildung von Fachkräften in der Altenhilfe

Mit den entsprechenden Konzepten, Projekten und der Zusammenarbeit aller, die am Integrationsprozess und der Altenhilfe beteiligt sind, werden Möglichkeiten geschaffen, dass auch MigrantInnen an den Angeboten der Altenhilfe partizipieren können und ihren Lebensabend ausgefüllt, unter bestmöglicher gesundheitlicher Versorgung gestalten können.

 

April 2009

Literatur


• Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: 7. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Dezember 2007
• Kuratorium Deutsche Altershilfe: Für eine kultursensible Altenpflege, Handreichung, Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege, Köln, Juni 2002
• DIE-Projekt: Migrant/inn/en in der Altenpflege – Bestandsaufnahme, Personalgewinnung und Qualifizierungen in NRW, November 2004
• Jens Friebe: Pflegeperspektiven in einer globalisierten Welt, DIE, Dezember 2005
• Dr. Peter Zeman: Ältere Migranten in Deutschland Befunde zur soziodemographischen, sozioökonomischen und psychosozialen Lage sowie zielgruppenbezogene Fragen der Politik- und Praxisfeldentwicklung, Expertise im Auftrag des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration, Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin, November 2005
• Philip Anderson: Ein Bisschen dort, ein Bisschen hier….“, Eine Studie über ältere Migrantinnen und Migranten in München, München 2007
• Ünal, A.: Die Pathologie der Gastfreundschaft. Erfahrungen der Migranten im Sozialstaat Deutschland. Vortrag im Rahmen der Fachtagung Migration und Gesundheit. Perspektiven der Gesundheitsförderung in einer multikulturellen Gesellschaft am 19./20.11.1999 in Göttingen

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Feyza Palecek ist Dipl. Soz. Pädagogin und seit 16 Jahren Leiterin des Projekts DONNA MOBILE. Sie koordiniert dort verschiedene Seminare, Vorträge und Weiterbildung sowie die Selbsthilfegruppen Gesundheitsberatung für MigrantInnen und ihre Familien.