Lebensgeschichte eines Hürdenläufers

von Ludmilla Khodai

Der Abspann läuft, alle verlassen den Kinosaal, nur meine Mutter und ich sind bewegungsunfähig. Zu sehr hat uns der Film „Ein Augenblick Freiheit“ an unser eigenes Leben als Flüchtlinge erinnert. Ich drehe mich zu meiner Mutter und sehe, dass ihr die Tränen über ihre Wangen laufen. Als ich sie in die Arme nehme, verliert sie die Fassung und schluchzt.

Einige Tage später erzähle ich Farhad, einem Freund, von dem Film und wie sehr das Weinen meiner Mutter mich berührt hat. Auch Farhad ist ein Flüchtlingskind aus dem Iran. Das ist alles, was ich von seiner Kindheit weiß. Eigentlich erwarte ich, dass er mit zusammengepressten Lippen nickt und meinen Blick meidet. Stattdessen erzählt mir der Mann mit den markanten Gesichtszügen und den schwarzen Haaren, die er immer zu einem kleinen Pferdeschwanz bindet, von seinem Leben:

„Wir hatten nicht damit gerechnet, dass sich das so in die Länge ziehen würde“

„Mich hat der Animationsspielfilm „Persepolis“ aufgewühlt“, beginnt Farhad. „Vor allem die Szene, in der Kinder im Krieg gegen den Irak über Minenfelder geschickt werden. Vielleicht, weil es auch mein Schicksal hätte sein können. Zu Zeiten des Iran-Irak-Krieges war mein Vater politisch aktiv und drohte verhaftet zu werden. Meine Eltern bereiteten unsere Ausreise vor und hatten es besonders eilig, mich ins Ausland zu bringen, denn mein 14. Geburtstag nahte. Jungen durften ab dem 14. Lebensjahr Iran nicht mehr verlassen, um als Reservearmee zur Verfügung zu stehen. Kurz vor meinem Geburtstag ging mein Vater mit mir nach Syrien, um ein Visum für die USA zu beantragen. Da wir abgelehnt wurden, haben wir uns als Touristen auf den Weg in die Türkei gemacht, um dort erneut ein Visum zu beantragen. Wieder wurden wir abgelehnt. In dem Hotel, in dem wir untergekommen waren, lebten viele Iraner, die sich in der gleichen Situation befanden. Einer sagte uns, dass er uns über Beziehungen ein Visum für Mexiko besorgen könne und wir dann illegal über die Grenze nach Amerika könnten. Das erlösende Stück Papier sollte uns 3000 US-Dollar kosten und innerhalb von zwei Wochen fertig sein. Aber aus zwei Wochen wurde schließlich ein Jahr Wartezeit.

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Für ein Leben prägend: Straßenszene aus Istanbul (Foto: Ali A)
Quelle: Flickr, CC-Lizenz

Wir hatten nicht damit gerechnet, dass sich das so in die Länge ziehen würde. Nach und nach gingen unsere finanziellen Reserven zu Neige, wir mussten uns immer günstigere Unterkünfte suchen. Zum Schluss teilten wir mit mehreren Iranern eine Hütte in der Armensiedlung Istanbuls, wo viele Schmuggler lebten. Unsere Mitbewohner wechselten ständig, denn einige reisten weiter, andere gingen zurück in den Iran und andere wiederum wurden verhaftet. Die Hütte, in der wir lebten, hatte nur ein Blechdach und die Wände waren nicht isoliert. Drinnen war es immer feucht und kalt, egal wie das Wetter draußen war. Zu unserem Unglück gab es einen ungewöhnlich harten Winter und wir konnten uns Steinkohle nur begrenzt leisten. Daher nahm jeder von uns Brennholz mit, wenn er es mal irgendwo unbeaufsichtigt liegen sah.

Zu unseren finanziellen Problemen kamen noch rechtliche hinzu, denn ein Tourist darf sich nach türkischem Recht für maximal drei Monate durchgehend in der Türkei aufhalten. Daher musste mein Vater irgendwann wieder zurück in den Iran, wo er Arbeit hatte und wo der Rest der Familie geblieben war. Ich konnte nicht mit ihm gehen, denn ich war in der Zwischenzeit 14 geworden und hatte damit gegen das iranische Ausreiseverbot verstoßen. Ich hätte mit Sanktionen rechnen müssen und meine Familie hätten nicht mehr ausreisen können. Daher blieb ich alleine in der Türkei und mein Vater kam mich alle paar Monate in Istanbul besuchen.

Aus finanziellen Gründen konnte ich auch nicht kurzzeitig nach Bulgarien oder Griechenland, um mir auf diesem Weg wenigstens kurzfristig einen legalen Aufenthaltstitel zu verschaffen. Das hatte auch zur Folge, dass ich nicht zur Schule gehen konnte und meine Tage überhaupt keine Struktur hatten. Meine Hauptbeschäftigung bestand darin, viel spazieren zu gehen und die Münzzähler in öffentlichen Telefonzellen zu knacken, um meine Familie in Iran kostenlos anrufen zu können. Das Jahr in der Türkei verlief sehr zäh und ich hatte das Gefühl, dass ich da nie mehr raus komme. Ich konnte keine Zukunftspläne schmieden, ging nicht zur Schule, meine finanzielle Lage und meine Unterkunft waren schlecht und ich war weit weg von meiner geliebten Familie. Man bedenke auch, dass ich mich in der Pubertät befand, einer Phase, die sowieso viele Krisen hervorruft. Dieses In-der-Luft-Hängen und die Ungewissheit, wann sich endlich etwas ändern würde, hat mich sehr gequält.

„Ich war auch froh endlich wieder zur Schule gehen zu können“

Nach einem Jahr schließlich erhielt ich das Visum für Mexiko. Nun war aber mein kleiner Bruder kurz vor seinem 14. Lebensjahr und musste ebenfalls zügig den Iran verlassen. Damit änderten sich die Rahmenbedingungen und meine Familie entschied, uns beide nach Deutschland zu schicken, denn im Gegensatz zu den USA brauchten Reisende unter 16 Jahren für Deutschland kein Visum. So kamen mein Bruder und ich 1987 nach West-Berlin und wurden in einem Asylbewerberheim für Minderjährige untergebracht. Nach einem Jahr in der Türkei war der Augenblick, in dem ich das Kinderheim betrat, der erste Moment, in dem ich nach langer Zeit wieder Glück verspürte. In diesem Kinderheim lebten allein an die 20 Jugendliche aus dem Iran und die Stimmung war sehr familiär. Ich habe mich dort wirklich wohl gefühlt. Wir hatten viel Spaß miteinander und haben viel gelacht. Oft saßen wir alle in einem kleinen Zimmer und haben uns Geschichten erzählt. Am liebsten haben wir uns aber im Schwimmbad ausgetobt.

Ich war auch froh endlich wieder zur Schule gehen zu können. Erst besuchte ich für wenige Monate eine Sprachschule und kam danach auf eine Hauptschule, die einen Förderbereich mit Schwerpunkt deutsche Sprache hatte. Auf einmal war die erdrückende Last weg, dass die Tage vergingen, ohne dass ich etwas Nützliches machte! Nach acht Monaten kam dann auch der Rest meiner Familie nach und wir sind in ein anderes Asylbewerberheim gezogen. Das war ganz gut, denn im Heim für Minderjährige hätte ich mich leicht vom Lernen ablenken lassen. Unsere Betreuer waren sehr streng und haben viel Wert darauf gelegt, dass wir ordentlich lernten. Dennoch wäre es sehr leicht gewesen, in der Menge unterzugehen und sich durchzuschummeln.

Als dann das neue Schuljahr anfing, wechselte ich in die zehnte Klasse einer regulären Hauptschule. In sprachlastigen Fächern wie Geschichte und Deutsch hatte ich sehr schlechte Noten. In Mathe, Physik, Chemie, also Fächern, für die man eher wenige Sprachkenntnisse braucht, war ich sehr gut. Dadurch konnte ich meinen Notendurchschnitt anheben und sogar den erweiterten Hauptschulabschluss machen. Diese Bestätigung habe ich gebraucht, denn ich hatte befürchtet in der Schule nicht zu Recht zu kommen. Der Hauptschulabschluss hat mir aber nicht gereicht. Ich wollte gerne weitergehen und irgendwann studieren.

Diesen Wunsch hat vor allem ein iranischer Freund meines Vaters geweckt, der schon lange in Deutschland lebte. Er ist Physiker, fuhr damals Taxi und sagte immer, er arbeite nur soviel, dass er genug Geld zum Leben hat. Wichtiger als materielle Güter war ihm, Zeit zum Lesen zu haben. Er kam uns oft Zuhause besuchen und erzählte mir, wie schön sein Studentenleben gewesen sei und wie viel Freude Lernen bereiten könne. Ohne mir direkt zu sagen, dass ich lernen solle, hat er mir mit Anekdoten gezeigt, wie wichtig Bildung für die berufliche und persönliche Weiterentwicklung ist. Er hat mich immer aufgebaut, wenn ich an meinen Fähigkeiten gezweifelt habe, und gesagt, dass jeder Mensch Bildung erlangen kann.

So wurde mir Bildung sehr wichtig und ich wollte unbedingt zur Uni. Dazu musste ich aber erst den Realschulabschluss und dann das Abitur nachholen. Daher meldete ich mich auf der Abendschule an, aber der Realschulunterricht bereitete mir Schwierigkeiten, denn mein Deutsch war noch nicht ausreichend. Plötzlich erschien mir das Abitur unmöglich. Angesichts dieser Hindernisse überzeugte mich ein Freund, mich für eine Berufsschule anzumelden, wo ich eine zweijährige Ausbildung als technischer Zeichner erhielt. Das war zwar nicht mein Berufswunsch, aber ich habe die Chance ergriffen. Da der Schwerpunkt dieser Ausbildung auf naturwissenschaftlichen Fächern lag, war der Unterrichtsstoff für mich viel leichter zugänglich als der auf der Realschule. Während der Ausbildung habe ich dann erfahren, dass ich im Anschluss ein Fachabitur in Bautechnik machen und dann studieren kann. Also habe ich diesen Weg eingeschlagen und mich schließlich für das Studienfach Bauingenieurwesen an der Technischen Fachhochschule eingeschrieben. Am Anfang hatte ich Bedenken, wie ich das Studium finanzieren soll, denn ich hatte keinen Anspruch auf Bafög und Stipendien gab es nicht, oder ich wusste nichts davon. Dann aber habe ich eine Stelle in einem Architekturbüro erhalten und parallel zur Uni 15-20 Stunden in der Woche als Zeichner gearbeitet. Viel Freizeit blieb mir dann nicht mehr. Erst in der Mitte des Studiums habe ich die unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen und konnte zusätzlich Bafög beantragen.

„Durch meinen Lebenslauf habe ich vieles verpasst“

Mit 25 Jahren erhielt ich meinen Universitätsabschluss und sah mich mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert, denn ich fand keine Arbeit. Aber mein Leben in der Türkei hat mich eines gelehrt: Jedes Problem, jede schlimme Phase hat irgendwann ein Ende. Nach einem Jahr wendete sich das Blatt schließlich wieder und ich bekam eine Stelle in einem Architekturbüro. Meine Arbeit als Bauingenieur mag ich sehr. Aber ich leide darunter, dass ich Deutsch nicht wie meine Muttersprache beherrsche. Ich denke, wenn mein Deutsch besser gewesen wäre, hätte ich intensiver studieren können. Wahrscheinlich hätte ich mich auch für ein geisteswissenschaftliches Fach entschieden, aber mangelnde Sprachkenntnisse haben meine Auswahl eingeschränkt. Immer habe ich das Gefühl, dass ich noch sehr vieles nachholen muss. Aber es gibt Sachen, die man nur in der Jugend lernen kann, wenn man die nötigen Kapazitäten hat.

Durch meinen Lebenslauf habe ich vieles verpasst. Statt meinen Interessen zu folgen, musste ich immer sehr praktisch vorgehen und Pflichtaufgaben erledigen. Ich musste zusehen, dass ich schnell weiterkomme. So blieb keine Zeit für andere Sachen wie z.B. Musikunterricht. Heute nutze ich meine Freizeit, um in Allgemeinbildung, Sprache und Hobbies zu investieren und versuche das nachzuholen, was ich in meiner Jugend zu lernen verpasst habe. Ich bin glücklich über das, was ich geschafft habe, aber ich bin nicht zufrieden.“

Dezember 2009 

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Ludmilla Khodai, 28, hat Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Sie schreibt ihre Promotion zum Thema russische Gas- und Energiepolitik.