Rund 8.5 Millionen Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, dürfen nicht wählen gehen, weil sie keinen deutschen Pass besitzen. Eine Beseitigung dieses Demokratiedefizits könnte die offene Gesellschaft gegen antidemokratische Kräfte stärken. Welchen Nachholbedarf gibt es und wie kann praktische Demokratisierung gelingen?
"Weil jeder zählt: Das Ganze im Blick", heißt es auf einem Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 2017. Für rund zehn Millionen Menschen, die zwar dauerhaft in Deutschland leben, aber keinen deutschen Pass besitzen, ist dieses Versprechen jedoch nach wie vor eine Farce.
Denn: Nur wer die deutsche Staatsangehörigkeit hat, verfügt über ein uneingeschränktes aktives und passives Wahlrecht – das Resultat ist eine Unterteilung der Bevölkerung in politisch "Mündige" und "Unmündige". Dieser Zustand steht im Widerspruch zu den Idealen der Demokratie, zu denen neben Freiheit und Gleichheit aller Bevölkerungsmitglieder auch eine gleichgewichtete Möglichkeit der Einflussnahme auf den politischen Entscheidungsprozess zählt.
Wo zunehmend ganze Bevölkerungsteile vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen sind, ist ein Legitimations- und Repräsentationsdefizit unübersehbar. Dass es sich dabei um ein andauerndes Demokratieproblem handelt, lässt sich bereits an der Aufenthaltsdauer von Inländer/innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit erkennen, die im Schnitt bei etwa 15 Jahren liegt.
Es besteht dringender Handlungsbedarf, um einer dauerhaften politischen Distanzierung dieser Gruppe aktiv entgegenzuwirken. Neben gezielten rechtlichen und strukturellen Veränderungen bedarf es einer umfassenden Sensibilisierung diverser politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Akteure für diese Problematik. Denn auch wenn es von Aktivitäten in Vereinen und Migrantenselbstorganisationen bis hin zu Gewerkschaften und Integrationsbeiräten zahlreiche Möglichkeiten der indirekten politischen Einflussnahme gibt – fehlende politische Rechte und Freiheiten für Migrantinnen und Migranten bedeuten Nachholbedarf in Sachen politischer Integration.
Erleichterung der Einbürgerung und doppelte Staatsbürgerschaft
Seit 1990 bewegt sich die Zahl der Einbürgerungen in Deutschland – trotz der wachsenden Wanderungsbilanz – konstant um 80.000 Personen pro Jahr. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der Inländer/innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit von 5,6 Millionen Personen im Jahr 1990 auf etwa 10 Millionen Menschen im Jahr 2016. Das Resultat ist eine stetig wachsende Repräsentations- und Legitimationslücke im demokratischen System der Bundesrepublik.
Um diesem Prozess entgegenzuwirken, wurden erste wichtige Schritte unternommen. Seit dem Jahr 2000 erhalten in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Voraussetzung dafür ist, dass eines der beiden Elternteile seit mindestens acht Jahren mit einem unbefristeten Aufenthalt in Deutschland lebt.
Mit Vollendung des 21. Lebensjahres müssen sich die jungen Erwachsenen dann, aufgrund der sogenannten Optionspflicht, für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden. Im Zuge einer Lockerung der Optionspflicht im Jahr 2014 besteht nun auch die Möglichkeit der lebenslangen doppelten Staatsbürgerschaft für Migrant/innen. Voraussetzung dafür ist, dass die Person bis zu ihrem 21. Lebensjahr mindestens acht Jahre Deutschland gelebt oder mindestens sechs Jahre in eine deutsche Schule gegangen ist. Ist dies nicht der Fall, greift nach wie vor die Optionspflicht. Wird eine Entscheidung nicht rechtzeitig getroffen, entfällt die deutsche Staatsbürgerschaft automatisch. An Stelle von weiteren Maßnahmen für eine Erleichterung des Einbürgerungsprozesses fordert die CDU auf ihrem Parteitag 2016 die generelle Wiedereinführung der Optionspflicht in Deutschland sowie eine starke Einschränkung der doppelten Staatsbürgerschaft.
Um die Demokratie in Deutschland jedoch zu stärken, wäre anstatt weiterer Restriktionen eine Beseitigung bestehender administrativer und rechtlicher Barrieren wichtig. Ein erster logischer Schritt auf dem Weg hin zur Demokratisierung der Demokratie ist das Hinarbeiten auf eine höhere Einbürgerungsquote, etwa durch eine Herabsetzung der gesetzlich geregelten Mindestaufenthaltsdauer vor der Stellung eines Antrages auf Einbürgerung. Diese beträgt derzeit acht Jahre. Ein weiterer Schritt könnte die Abschaffung des vielfach kritisierten, bundesweiten Einbürgerungstest sein. Dieser stellt nach wie vor eine große bürokratische Hürde dar. Ein zusätzlicher positiver Demokratisierungseffekt würde zudem durch eine generelle Anerkennung doppelter Staatsbürgerschaften gelingen.
Entkopplung politischer Partizipationsrechte von der Staatsbürgerschaft
Ein weiterer Katalysator für den Demokratisierungsprozess in Deutschland wäre die Knüpfung essentieller Partizipationsrechte wie dem Wahlrecht an die Aufenthaltsdauer einer Person – und nicht an ihre Staatsangehörigkeit. Neuseeland und Urugay gehen hier mit positivem Beispiel voran. Dass dies verfassungskonform umsetzbar ist, zeigt sich spätestens seit der Durchsetzung des kommunalen Wahlrechts für EU-Bürger/innen in Deutschland. Eine Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auf Drittstaatenangehörige – also Bürger/innen aus Nicht-EU-Ländern – ist in Deutschland überfällig.
In 16 von 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist das kommunale Wahlrecht für alle Inländer/innen seit Jahrzehnten gelebte Praxis. Insbesondere in deutschen Großstädten wird dieses "ungenutzte Wählerpotenzial" auf kommunaler Ebene deutlich sichtbar. Es reicht von 9,5 Prozent der städtischen Bevölkerung in Hamburg bis hin zu 15,4 Prozent in Frankfurt am Main. Mit einem einheitlichen kommunalen Wahlrecht für Migrant/innen würde zumindest die politische Ungleichbehandlung zwischen EU-Bürger/innen und Drittstaatenangehörigen überwunden werden. Es ist außerdem zu vermuten, dass die Identifikation mit durch gewählte Repräsentant/innen gefällten Entscheidungen steigen würde.
Öffnung der politischen Parteien
Ein Blick auf die Zusammensetzung der deutschen Parteien lässt ähnliches vermuten: Der Anteil der Mitglieder ohne deutsche Staatsangehörigkeit bewegt sich bisher zwischen lediglich 0,3 Prozent (CDU) und einem Prozent (Bündnis 90/Die Grünen). Bisher setzen einige Parteien für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit eine Mindestaufenthaltsdauer für den Beitritt voraus. Im Fall der CDU/CSU sind das drei Jahre, bei der FDP zwei Jahre.
Die geringe Anzahl von Parteimitgliedern ohne deutschen Pass ist zudem sicherlich auch dadurch zu begründen, dass sie sich nicht zur Wahl aufstellen lassen und innerparteilich bestimmte Position nicht übernehmen können. Im Idealfall hätte eine Aufhebung dieser Grenzen eine Sensibilisierung der Parteien für die politischen Interessen und Forderungen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland zur Folge.
Ausweitung und Verbesserung bestehender Gremien
Auf kommunaler Ebene fand in Deutschland während der 1970er Jahre eine Implementierung sogenannter "Ersatz-Strukturen" in Form von Ausländer- und Integrationsbeiräten flächendeckend statt. Auf Landesebene werden diese durch Migrations- und Integrationsräte ergänzt. Konsultationsgremien, die auf Bundesebene angesiedelt sind, spiegeln sich im Integrationsgipfel und in der Islamkonferenz wider.
Die Teilnahme an den Gremien auf Landes- und Bundesebene erfolgt durch eine Einladung der jeweiligen Regierung. Der tatsächliche Einfluss der verschiedenen Räte und Gremien wird jedoch als allgemein gering eingeschätzt, da zumeist keine rechtlich gefestigten Abstimmungsverfahren und Bindungen bestehen. Vielmehr spiegelt sich in ihnen eine weitere Hierarchisierung von Teilhabestrukturen und -rechten wider, die bisher zu keiner demokratischen Gleichberechtigung geführt haben. Die Kompetenzen der unterschiedlichen Gremien sind je nach Kommune und Land sehr unterschiedlich geregelt, beschränken sich in den meisten Fällen jedoch auf eine reine Beratungsfunktion und nicht auf eine rechtlich bindende Mitbestimmung. Eine tatsächliche Einflussnahme auf das politische Agenda-Setting ist demnach nur schwer nachvollziehbar. Eine Ausstattung dieser Gremien mit rechtlich bindenden Kompetenzen und Abstimmungsverfahren würde ein Forum der tatsächlichen Mitbestimmung schaffen.
"Bottom-up" Empowerment
Es kann als Aufgabe einer jeden demokratischen Bürgerin und eines jeden demokratischen Bürgers gesehen werden, demokratische Normen und Werte zu verteidigen. Dazu zählt insbesondere der Schutz von Minderheiten und das gemeinsame Einstehen für deren Gleichbehandlung und Gleichberechtigung in der Gesellschaft und im politischen System.
Empowerment "von unten" setzt jedoch die Sensibilisierung und ein kritisches Bewusstsein der einzelnen Bürger/innen voraus. Hier sind insbesondere Akteur/innen der politischen Bildung und Zivilgesellschaft gefragt. Ihre Aufgabe ist es, demokratische Defizite und Ungleichbehandlungen öffentlich zu diskutieren. Bürgerinnen und Bürger müssen zugleich ermutigt werden, ihre Stimme zu nutzen, um den politischen Handlungsdruck zu erhöhen. Im Gegensatz zu Migrantinnen und Migranten können sie allein schon durch ihre Wahlentscheidung politisches Verhalten sanktionieren.
Forschungslücken beseitigen
Wissenschaft und Forschung übernehmen ebenfalls eine wesentliche Rolle im Prozess des politischen Agenda-Settings. Welche Entwicklungen es jedoch sind, die am Ende die Partizipation von Migrantinnen und Migranten erhöhen, wird bisher nur unzureichend erkannt und erforscht. In der Folge können politische Maßnahmen nicht zielgerichtet implementiert werden.
Ein Problem zahlreicher wissenschaftlicher Studien ist zunächst die undifferenzierte Kategorisierung der Begriffe „Migrant/in“ und „Migrationshintergrund“ im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit. In Bezug auf politische Aktivitäten von Migrantinnen und Migranten etwa liegen zudem häufig nur Schätzwerte vor. Beispielhaft dafür steht die Wahlbeteiligung von EU-Bürger/innen an Kommunalwahlen. Auch wird die Nutzung unkonventioneller Formen der politischen Partizipation – etwa die Organisation in politischen Gruppen, der Besuch von Demonstrationen, die Teilnahme an Unterschriftenaktionen oder die Nutzung von Smart-Phones und Apps – insbesondere in Hinblick auf Empowerment von Migrant/innen kaum wissenschaftlich erfasst. Interessant ist hier, wie durch digitale Formate Möglichkeiten der Teilhabe entstehen.
Demokratisierungspotenziale nutzen!
Rechtliche, politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen bremsen bisher die praktischen Demokratisierungsprozesse in Bezug auf die Repräsentation der Interessen von Migrantinnen und Migranten ohne deutsche Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik. Um einem demokratischen Anspruch langfristig zu genügen, ist deshalb die Bündelung verschiedener Maßnahmen notwendig. Mit einer solchen „Demokratisierung der Demokratie“ geht letztlich ein Gewinn für alle Mitglieder der Demokratie einher – sofern dies von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft erkannt wird.